Analyse | Europa - Zentralasien Viel Engagement, aber kein konkreter Plan

Wie sich die EU-Zentralasien-Beziehungen angesichts der neuen geopolitischen Realität verändern.

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Zentralasiatische Staatschefs posieren mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel während eines Gipfels in Cholpon-Ata, Kasachstan, am 2. Juni 2023.

 

  Foto: IMAGO / SNA

Im Jahr 2023 feierten die EU und die zentralasiatischen Länder das 30-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. In den vergangenen drei Jahrzehnten hatten die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien ihre Höhen und Tiefen. Dennoch haben sich die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bindungen insgesamt deutlich verstärkt.

Zhanibek Arynov ist Assistant Professor an der Graduate School of Public Policy (GSPP) der Nasarbajew-Universität in Astana, Kasachstan.

In den 1990er Jahren lag der Hauptfokus der EU darauf, die gerade erst unabhängig gewordenen Staaten Zentralasiens beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft zu unterstützen. In den 2000er Jahren verstärkte die EU ihre Aktivitäten gegenüber Zentralasien merklich angesichts der Osterweiterung der EU, der Situation des zentralasiatischen Nachbarlandes Afghanistan, und steigender Preise für Kohlenwasserstoffe als einige zentralasiatische Länder als potenzielle Gas- und Öllieferanten für die EU-Länder bedeutend wurden. Im Jahr 2007 präsentierte Brüssel seine erste Strategie für Zentralasien, die den Interaktionen zwischen der EU und Zentralasien neue Impulse verlieh. Dies führte zur Stärkung der diplomatischen Präsenz der EU in der Region, erhöhter Entwicklungshilfe für Zentralasien und der Einrichtung mehrerer formeller Plattformen für weiteren Dialog.

Im Verlauf der 2010er Jahre wollte Brüssel im Zusammenhang mit den wachsenden Ambitionen der EU als eigenständige externe Akteurin und den neuen Realitäten sowohl in der EU als auch in Zentralasien die Kooperationsrahmen mit den zentralasiatischen Ländern aktualisieren. Die EU unterzeichnete 2015 das Erweiterte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (EPCA) mit Kasachstan, welches das ursprüngliche Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PCA) von Mitte der 1990er Jahre ersetzte. Ähnliche Abkommen wurden 2019 bzw. 2022 mit Kirgisistan und Usbekistan geschlossen. Derzeit verhandelt die EU ein solches Abkommen mit Tadschikistan und erwägt die Aufnahme von Gesprächen mit Turkmenistan. Auch überarbeitete die EU 2019 ihre Zentralasienstrategie, um sie an die Globale Strategie der EU von 2016 anzupassen und ihre Politik stärker auf die Interessen der Zentralasiaten zuzuschneiden, was positiv aufgenommen wurde.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Aktualisierung der Rahmenbedingungen im letzten Jahrzehnt zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien geführt hat. Diese Frage muss nuanciert beantwortet werden. Einerseits ist offensichtlich, dass Brüssel seine Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten im Vergleich zu den 1990er Jahren deutlich intensiviert hat. Andererseits wird die EU im Vergleich zu anderen externen Akteur*innen nach wie vor bestenfalls als zweitrangige Playerin in Zentralasien angesehen. Man sagt, dass es ihr an einer strategischen Vision, ausreichenden Ressourcen, einer starken Präsenz und Sichtbarkeit in der Region mangelt[1]. Dennoch hat es den Anschein, dass die Annahme einer sekundären Rolle der EU in der Region bis zu einem gewissen Grad einen positiven Beitrag leistet.

Der Vorteil der EU

In der Debatte über die Rolle der Großmächte wie Russland, China und die USA in Zentralasien, lässt die vorliegende empirische Evidenz darauf schließen, dass unterschiedliche Grade von Misstrauen, Skepsis und Furcht gegenüber diesen Akteur*innen bestehen.[2] Selbst Russland, das traditionell als engster Partner der zentralasiatischen Staaten gilt, hat in einigen Ländern aufgrund seiner groß angelegten Invasion der Ukraine einen spürbaren Anstieg anti-russischer Stimmungen erlebt[3]. Im Vergleich dazu genießt die EU, die weder in der Lage noch willens ist mit diesen Akteur*innen zu konkurrieren, in Zentralasien ein positiveres Ansehen. Studien zeigen, dass im Unterschied zu den USA, China oder Russland die EU als wohlwollende externe Akteurin betrachtet wird, der keine verborgenen geopolitischen Absichten hegt und bei dem Zentralasiaten ein höheres Vertrauen genießt.[4] Trotz ihrer Unfähigkeit in Bezug auf materielle Fähigkeiten mit den «drei Großen» gleichzuziehen, ist das positive Image der EU ihr größter komparativer Vorteil in der Region.

Zentralasien sieht die Zusammenarbeit mit der EU als Quelle neuer Möglichkeiten. Erstens betrachten Länder wie Kasachstan (und in geringerem Maße Usbekistan) die EU aufgrund der entscheidenden Rolle, die Brüssel für ihre Wirtschaft spielt, als einen vitalen Wirtschaftspartner. Für Kasachstan ist die EU der größte Handelspartner und der wichtigste Investor, auf den mehr als 50 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen im Land entfallen. Zweitens betrachten Länder wie Kirgisistan und Tadschikistan die EU als einen wichtigen Geber, der dringend benötigte Entwicklungshilfe bereitstellt. Drittens wird das EU-Modell, allein schon aufgrund seiner Existenz, als etwas betrachtet, dem man folgen sollte. In dieser Hinsicht sind die Zentralasiat*innen interessiert aus den verschiedenen Praktiken zu lernen; angesichts der wachsenden interregionalen Zusammenarbeit in Zentralasien besonders aus den Erfahrungen der EU im Aufbau von regionaler Integration. Ebenso dienen die «europäischen Standards» als Referenzpunkt, was darauf hinweist, dass die zentralasiatischen Länder bestrebt sind, ihr Handeln nach den positiven Aspekten auszurichten, die in den EU-Ländern beobachtet werden. Auch wird die Ausrichtung an der normativen Agenda der EU, d. h. der «europäischen Werte» wie Demokratie und Menschenrechten, auch von einigen Teilen der zentralasiatischen Gesellschaft als Gelegenheit erkannt, ihre politischen Ordnungen zu modernisieren und langfristig nachhaltige politische Systeme zu schaffen.[5]

Das positive Image der EU resultiert aus verschiedenen Faktoren. Zum einen trägt die EU selbst zur Förderung dieser positiven Entwicklung bei. Brüssel hat stets konsequent betont, dass es kein Interesse an Dominanz oder geopolitischen Spielen in Zentralasien hat.[6] Zentralasiatische Diplomat*innen betonen immer wieder die vergleichswese entgegenkommende und inklusive Herangehensweise, die die EU gegenüber ihren Ländern verfolgt. Dies ist in der Region nicht unbemerkt geblieben. Zweitens, und dies ist vielleicht noch wichtiger, trägt das historisch idealisierte Bild von «Europa», das in vielen post-sowjetischen Gesellschaften weit verbreitet ist, erheblich zum positiven Image der Europäischen Union in Zentralasien bei.

Dies gilt insbesondere für zentralasiatische Bürger*innen, die möglicherweise kein tiefergehendes Verständnis für das System EU und ihre Politik in Zentralasien haben. Ihre überwiegend positiven Meinungen über die «Europäische Union» haben ihre Wurzeln in der traditionellen Bewunderung für «Europa»[7]. Schließlich argumentiere ich, dass die relativ positive Wahrnehmung der EU paradoxerweise auch ihrer wahrgenommenen Schwäche und ihrer sekundären Rolle als externen Akteurin in der Region zugeschrieben werden kann, wie zuvor bereits diskutiert. Die EU, die geografisch weit entfernt und mit internen Problemen beschäftigt ist, wird in der Region als wenig sichtbar und wenig ressourcenstark wahrgenommen. Mit anderen Worten: Der EU wird mehr Vertrauen entgegengebracht und sie wird relativ positiv wahrgenommen, weil sie kaum als ernsthafte Bedrohung für die Länder Zentralasiens betrachtet wird. Es ist vorstellbar, dass die Wahrnehmung eine andere wäre, wenn die EU eine größere Präsenz, Einfluss und Interessen in der Region hätte.

Zusammenfassend kann das positive Image und das Vertrauen, das die EU in Zentralasien genießt, als ihr Vorteil im Vergleich zu anderen, mächtigeren und einflussreicheren Akteuren wie Russland und China betrachtet werden. Das positive Bild der EU ist keine absolute Kategorie, sondern vielmehr eine relative. Die EU wird im Vergleich zu anderen Akteur*innen als wohlwollend und vertrauenswürdig anerkannt. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass keine Vorbehalte gegenüber der Politik Brüssels in der Region bestehen. Ein Beispiel hierfür ist die Haltung einiger zentralasiatischer Regierungen und Teilen der Bevölkerung, welche die Normen-Orientierung der EU – ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität als internationale Akteurin – als bedrohlich für die politische Stabilität in ihren Ländern empfinden. Einige der «europäischen Werte» werden als «fremd» und unvereinbar mit «lokalen» Werten interpretiert. Folglich wird die EU bisweilen dafür kritisiert, die Zentralasiat*innen «zu belehren» und ihnen ihren Willen aufzuzwingen.[8]

Neuer Aufwind für die Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien?

Das insgesamt positive Bild der EU in Zentralasien ist nicht statisch und aktuelle Trends deuten auf einen allmählichen Rückgang hin. Dazu haben auch die ernsthaften inneren Probleme der EU, wie die Flüchtlingskrise Mitte der 2010er Jahre, der Brexit und zunehmende interne Meinungsverschiedenheiten beigetragen, die die EU als schwächelnde und ineffektive Institution dastehen ließen. Ein weiterer Faktor war die umfassende anti-westliche Propaganda Russlands, die einen großen Einfluss in Zentralasien hat und die EU unter anderem als imperialistische und unmoralische Institution darstellt – ein Narrativ, das bei autoritären Regimen und traditionellen Gesellschaften in der Region Resonanz findet.

Daher erfordert die Bewahrung und weitere Stärkung ihres positiven Images Anstrengungen von Seiten der EU. Allerdings schien Brüssel das unmittelbare Interesse an Zentralasien zu fehlen. Selbst nach der Aktualisierung des Kooperationsrahmens Ende der 2010er Jahre schien der Austausch zwischen der EU und Zentralasien größtenteils träge zu sein und hat keinen wirklichen Durchbruch in den Beziehungen erwarten lassen.[9] Dennoch hat die russische Invasion der Ukraine im Jahr 2022 den geopolitischen Kontext für die EU und Zentralasien grundlegend verändert. Dieser «externe Schock» hat als Katalysator gewirkt, um die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien wirklich zu verbessern, was zu einer signifikanten Intensivierung ihrer Kontakte in den letzten zwei Jahren geführt hat. «Die jüngsten globalen Ereignisse haben die EU und Zentralasien einander nähergebracht. Unsere enge Zusammenarbeit ist jetzt wichtiger denn je», räumte der EU-Präsident Charles Michel ein.[10] Beide Seiten haben jeweils ihre eigenen Gründe einander genauer zu betrachten.

Aus zentralasiatischer Perspektive hat die erhöhte Bedeutung der EU eine doppelte Dimension. Einerseits hat die EU einen gesteigerten politischen und symbolischen Wert erlangt, insbesondere für Kasachstan. Angesichts anhaltender rhetorischer Angriffe von Russland, die die territoriale Integrität Kasachstans in Frage stellen[11], hat sich die EU als entscheidende Richtung in der multi-vektoriellen Außenpolitik Kasachstans herauskristallisiert, um dem Druck Moskaus entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang ist die Vertiefung hochrangiger diplomatischer Kontakte mit EU-Vertreter*innen und Staatsoberhäuptern der EU-Mitgliedstaaten von herausragender Bedeutung für Zentralasien.

Der erste EU-Zentralasien-Gipfel auf höchster Ebene wurde in Astana, Kasachstan, veranstaltet. In diesem Jahr soll der Gipfel in Usbekistan stattfinden, was auf den bereits permanenten Charakter dieses Formats hindeutet. Und auf niedrigeren Ebenen gibt es weitere Interaktionen. Zudem ist erwähnenswert, dass bei jedem Treffen und den darauffolgenden, gemeinsam oder von der EU herausgegebenen, Dokumenten konsequent die Prinzipien des Respekts für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der zentralasiatischen Länder betont werden[12]. Dies dient als klares Signal an Moskau.

Auf der anderen Seite dient die Vertiefung der Beziehungen zur EU für die Menschen in Zentralasien neben dem symbolischen Wert auch praktischen wirtschaftlichen Zwecken, insbesondere wiederum für Kasachstan. Das Land strebt an, wirtschaftliche Risiken abzufedern, die sich aus dem Krieg Russlands ergeben. In erster Linie möchte Astana die Stabilität seiner Ölexporte in die EU sicherstellen, die etwa 80 Prozent des Handels zwischen Kasachstan und der EU ausmachen. Die Herausforderung besteht darin, dass 90 Prozent des Rohöls Kasachstans über Russland, dessen Ölsektor EU-Sanktionen unterliegt, nach Europa transportiert werden. Kasachstan ist bestrebt, seine Ölexportrouten zu diversifizieren, und die EU ist eine der wenigen Akteur*innen, die bei diesem Vorhaben Unterstützung leisten können. Brüssel, das 8 Prozent seines gesamten Öls aus Kasachstan importiert, hat ebenfalls ein Interesse daran, seinen Energiesektor zu diversifizieren.

In diesem Zusammenhang sucht Kasachstan zudem die Unterstützung der EU bei der Entwicklung der Transkaspischen Internationalen Transportroute, auch als Middle Corridor bekannt – eine Perspektive, die im Einklang mit den Interessen der EU steht. Die Machbarkeitsstudie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), welche im Auftrag der EU durchgeführt wurde, und eine neuere Studie der Weltbank bestätigen beide, dass der Middle Corridor erhebliches Potenzial hat, eine entscheidende Alternative zu Routen durch Russland zu werden – vorausgesetzt, dass die Stakeholder*innen bereit sind, sowohl politisch als auch finanziell an dieser Stelle zu investieren.[13] Auch hier wird die EU mit ihrer Global Gateway-Initiative und dem echten Interesse am Korridor als die wahrscheinlichste Investorin im Middle Corridor wahrgenommen und es wird von ihr erwartet, die Führung bei dessen Entwicklung zu übernehmen.

Angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten sind die zentralasiatischen Staaten schlussendlich bestrebt, zusätzliche wirtschaftliche Möglichkeiten mit der EU zu erschließen. Derzeit ist der Handel zwischen der EU und Zentralasien unterentwickelt, wobei die Ölexporte Kasachstans in die EU mehr als 70 Prozent des Gesamthandelsvolumens zwischen den beiden Regionen ausmachen. Selbst der bevorzugte Zugang zum EU-Markt durch das Generalisierte Präferenzsystem (GSP) für Tadschikistan und GSP+ für Kirgisistan und Usbekistan hat nur sehr begrenzte Auswirkungen auf den Handelsaustausch.[14] Der kürzlich zu beobachtende Anstieg des Handels in den letzten zwei Jahren wird größtenteils darauf zurückgeführt, dass zentralasiatische Unternehmen Parallelexporte aus EU-Ländern nach Russland tätigen. Diese Strategie birgt jedoch das Risiko von EU-Sanktionen.

In Bezug auf EU-Investitionen begrüßt Kasachstan das Interesse Brüssels, in die Green Economy im Land zu investieren. Die im November 2022 unterzeichnete Vereinbarung, die sich auf Rohstoffe, Batterien und erneuerbaren Wasserstoff konzentriert, war für beide Parteien von besonderem Interesse. Sie einigten sich zudem auf die Entwicklung einer Roadmap für 2023-2024, die konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Vereinbarung skizziert. Das alle zwei Jahre stattfindende Wirtschaftsforum der EU und Zentralasien, das 2021 ins Leben gerufen wurde, stellt einen begrüßenswerten Schritt dar und bietet eine zusätzliche dauerhafte Plattform für den laufenden wirtschaftlichen Dialog zwischen den Regionen.

Ein Weg voran

Die Erwartungen Zentralasiens an die EU sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Gleichzeitig hat das genuine Interesse der EU an Zentralasien, das in der Außenpolitik der EU eher als entfernte und sekundäre Region betrachtet wurde, zugenommen. Das aktuelle Tempo der Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien ist vielversprechend und bietet beiden Seiten die Gelegenheit, ihren Austausch auf ein neues Level zu heben. Doch damit sich dieses Potenzial entfalten kann, müssen beide Seiten gewissenhaft daran arbeiten, ihre politischen Zusagen zu erfüllen.

Zunächst sollte das Prinzip des Pragmatismus im Zentrum dieser Partnerschaft stehen, um den Parteien zu ermöglichen, trotz möglicher Meinungsverschiedenheiten, in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zusammenzuarbeiten. In diesem Zusammenhang stellt der Abwärtstrend hinsichtlich Demokratie und Menschenrechten in Zentralasien eine bedeutende Herausforderung für die EU dar. Was sollte die EU in diesem Zusammenhang tun? Dies ist ein schwieriges politisches Dilemma für Brüssel. Die Idee des von der EU genutzten prinzipientreuen Pragmatismus (principled pragmatism) könnte hier relevant sein. Ein Gleichgewicht zwischen Pragmatismus und prinzipientreuen Handelns zu finden, wird entscheidend für den Erfolg und die Nachhaltigkeit der Partnerschaft zwischen der EU und Zentralasien sein. Darüber hinaus argumentieren einige Expert*innen auch, dass die EU «einen dezentralen, post-neoliberalen Ansatz zur Resilienz anstreben muss, anstelle des eurozentrischen, neoliberalen Ansatzes, den sie derzeit verwendet»[15]. Dies betrifft den Ansatz der EU generell sowie speziell die Demokratieförderung.

Zweitens sollte sich die Führung in Brüssel und den Hauptstädten Zentralasiens auf realistische und kleinere Ziele konzentrieren, bei denen konkrete Ergebnisse erzielt werden können, statt auf überambitionierte und deklarative, aber kaum erreichbare große Ziele. Ein konkretes Beispiel für solch ein realistisches Projekt könnte etwa die Gründung einer europäischen Universität in Zentralasien sein, eine Idee, die seit den mittleren 2000er Jahren besteht. Während der Wert von Bildungsprogrammen wie Erasmus+ unbestreitbar ist, würde die Einrichtung einer Bildungseinrichtung vor Ort der EU ermöglichen, eine größere Anzahl von Jugendlichen in Zentralasien zu erreichen, die Hochschulsysteme in der Region zu stärken, einen spürbaren gesellschaftlichen Einfluss zu haben und die tatsächliche Präsenz und Sichtbarkeit der EU in der Region zu erhöhen. Inspiriert von der Erfolgsgeschichte der OSZE-Akademie in Bischkek, die zahlreiche regionale Führungskräfte ausgebildet, interregionale Verbindungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene gestärkt und maßgeblich zur Entwicklung des Humankapitals in der Region beigetragen hat, würde ein ähnliches Projekt der EU wertvolle Dienste für die jungen Gesellschaften in Zentralasien leisten und sie der EU näherbringen.

Drittens sollten die Parteien einen schrittweisen Ansatz verfolgen, um die genannten Ziele zu erreichen. Dabei ist sicherzustellen, dass es einen detaillierten Umsetzungsplan für vereinbarte Projekte gibt, bevor umfassendere Initiativen gestartet werden. Ein anschauliches Beispiel für diesen Ansatz ist die Organisation eines Investorenforums durch die EU im Januar 2024, das darauf abzielt, finanzielle Ressourcen für die Projekte des Middle Corridor zu mobilisieren. Auch die im Oktober 2023 vereinbarte Joint Roadmap for Deepening Ties between the EU and Central Asia[16] ist eine positive Entwicklung. Allerdings wirken bestimmte Abschnitte der Roadmap eher deklaratorisch als praktisch und es fehlen Details zu konkreten Maßnahmen. Dennoch sollte die Praxis konkreter Aktionspläne in den Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien zur Normalität werden.

Abschließend lässt sich festhalten, dass der wohl wichtigste Faktor, welcher aktuell die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien vorantreibt, zweifellos der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist; die Geopolitik ist also an dieser Stelle entscheidend. Dennoch sollten unter den aktuellen Umständen sowohl die EU als auch Zentralasien unbedingt eine Übergeopolitisierung ihrer Beziehungen vermeiden. Obwohl Elemente des geopolitischen Wettbewerbs unvermeidlich sind, ist es für die zentralasiatische Diplomatie von entscheidender Bedeutung, Situationen zu vermeiden, in denen sie gezwungen ist, eine Entweder-Oder-Entscheidung zwischen mehreren externen Partner*innen zu treffen.

Der kürzlich eingebrachte Antrag für eine Resolution des Europäischen Parlaments «lädt die EU ein, die Initiative zu ergreifen und gemeinsam mit den Vereinigten Staaten eine Strategie für Zentralasien auszuarbeiten».[17] Dies scheint keine gute Idee für die EU zu sein, wenn man bedenkt, wie sensibel das Thema USA für die anderen Nachbarn Zentralasiens ist. Eine solche Initiative könnte nicht nur geopolitische Spannungen in der Region verschärfen, sondern riskiert auch die Präsenz der EU zu überschatten, indem sie sie mit Washington und dessen Interessen in Zentralasien in Verbindung bringt. Natürlich bedeutet das nicht, dass jegliche Zusammenarbeit der EU mit den USA in Zentralasien tabu sein sollte. Im Gegenteil, die EU sollte versuchen, die USA und amerikanische Unternehmen beispielsweise in die Entwicklung des Middle Corridor einzubeziehen. Eine gemeinsame politische Erklärung mit den Amerikaner*innen in Form einer gemeinsamen Strategie für Zentralasien zu formulieren wäre jedoch eine schädliche Initiative für Brüssel. Und es bleibt ungewiss, ob die Regierungen Zentralasiens ein solches politisches Tandem in ihrer Region begrüßen würden.


[1] Arynov, Zhanibek (2022a). «Global Giant, Regional Dwarf? Perceptions of EU Actorness in Kazakhstan and Kyrgyzstan» in eds. D. Nascimento, P. Lopes, and L.Simao, The EU’s Global Actorness in a World of Contested Leadership: Policies, Instruments and Perceptions. Palgrave MacMillan.

[2] E.g. Schatz, Edward (2021). Slow Anti-Americanism: Social Movements and Symbolic Politics in Central Asia. Stanford University Press; Peyrouse, Sebastien (2016). «Discussing China: Sinophilia and Sinophobia in Central Asia». Journal of Eurasian Studies 7(1): 14–23; Laruelle, Marlene, and Dylan Royce (2020). No great game: Central Asia’s public opinions on Russia, China, and the U.S. Kennan Cable #56. URL: https://www.wilsoncenter.org/publication/kennan-cable-no-56-no-great-game-central-asias-public-opinions-russia-china-and-us.

[3] Kuandykov, Tlegen (2023). «Shifting Tides: Do Kazakhs Still Like Russia?». Vlast.kz. URL: https://vlast.kz/english/56638-shifting-tides-do-kazakhs-still-like-russia.html.

[4] Spaiser, Olga (2018). The European Union’s Influence in Central Asia: Geopolitical Challenges and Responses. Lanham, MD: Lexington Books; Arynov, Zhanibek (2022b), «Opportunity and Threat Perceptions of the EU in Kazakhstan and Kyrgyzstan», Central Asian Survey 41(4): 734-751. 

[5] Arynov, Zhanibek (2022b), «Opportunity and Threat Perceptions of the EU in Kazakhstan and Kyrgyzstan», Central Asian Survey 41(4): 734-751. 

[6] For critique, see Fawn, Rick (2022). «‹Not here for geopolitical interests or games›: the EU’s 2019 strategy and the regional and inter-regional competition for Central Asia». Central Asian Survey 41(4): 675-698.

[7] E.g. Arynov, Zhanibek (2022c). «‹Nobody Goes to Another Monastery with Their Own Charter›. The EU’s Promotion of ‹European Values› as Perceived in Central Asia». Europe-Asia Studies 74(6): 1028-1050.

[8] Arynov, Zhanibek (2022b). «‹Nobody Goes to Another Monastery with Their Own Charter›. The EU’s Promotion of ‹European Values› as Perceived in Central Asia». Europe-Asia Studies 74(6): 1028-1050.

[9] Dzhuraev, Shairbek (2022). «The EU’s Central Asia policy: no chance for change?». Central Asian Survey 41(4): 639–653.

[10] Äußerungen von Präsident Charles Michel nach seinem Treffen mit dem kasachischen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew in Astana, 27. Oktober 2022.URL: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2022/10/27/remarks-by-president-charles-michel-after-his-meeting-with-president-of-kazakhstan-kassym-jomart-tokayev-in-astana/.

[11] Umarov, Temur (2022). «Kazakhstan Is Breaking Out of Russia’s Grip». Foreign Policy. URL: https://foreignpolicy.com/2022/09/16/kazakhstan-russia-ukraine-war/.

[13] EBRD (2023). Sustainable transport connections between Europe and Central Asia: Final Report. URL: https://transport.ec.europa.eu/system/files/2023-06/Sustainable_transport_connections_between_Europe_and_Central_Asia.pdf; World Bank (2023). Middle Trade and Transport Corridor: Policies and Investments to Triple Freight Volumes and Halve Travel Time by 2030. Available at: https://www.worldbank.org/en/region/eca/publication/middle-trade-and-transport-corridor

[14] For example, European Commission (2020). The EU Special Incentive Arrangement for Sustainable Development and Good Governance (‹GSP+›) assessment of the Kyrgyz Republic covering the period 2018-2019. Available at: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020SC0020&qid=1675787341748&from=EN.

[15] Bossuyt, Fabienne, and Nazima Davletova (2022). «Communal self-governance as an alternative to neoliberal governance: proposing a post-development approach to EU resilience-building in Central Asia». Central Asian Survey 41(4): 788-807. 

[16] Dt.: gemeinsame Roadmap zur Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien.

[17] European Parliament (2023). Report on the EU strategy on Central Asia (2023/2106(INI)). Available at: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-9-2023-0407_EN.html.