Nachricht | Geschichte The Enemy within

Der gescheiterte Bergarbeiterstreik 1984/85 hat Großbritannien zum Schlechten verändert – bis heute

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Florian Weis,

Als Magret Thatcher, britische Premierministerin von 1979 bis 1990, im April 2013 starb, löste dies mancherorts weniger Anteilnahme als bittere Freude aus. Dies galt besonders dort, wo Belegschaften im großen Bergarbeiterstreik von 1984/85 ein Jahr lang hartnäckig gegen die beabsichtigten Grubenstilllegungen gekämpft, schwer gelitten und letztlich verloren hatten. Für diese Menschen war und blieb Thatcher ein Feindbild, ja ein Hassobjekt, war für sie die Frau, die ihnen Lebensgrundlage, Gemeinschaft, Würde und Organisationsmacht genommen hatte. Wie fast jede Personalisierung in Geschichte und Politik ist auch diese verkürzt, doch trifft sie in einem ungewöhnlich hohen Maße zu. Thatcher selbst hatte die Feindlogik in ihrer Sprache und Politik verfolgt, so in der berüchtigten Phrase vom «inneren Feind» («The enemy within»), der zu besiegen sei, so wie zuvor der «äußere Feind» Argentinien 1982 bei der Rückeroberung der Falkland-Inseln.

Die unwiderrufliche Schwächung der Gewerkschaftsbewegung war ein wesentliches Ziel der «konservativen Revolution» Margret Thatchers (1925-2013). Die besonders militante Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) unter ihrem ebenso charismatischen und radikalen wie autoritären Präsidenten Arthur Scargill (geboren 1938) war ein naheliegendes Feindbild für Thatcher.

Gedächtnis, Stolz und Organisationsmacht: Die Bedeutung der Bergarbeiter

Klassenbewusste Bergarbeiter und ihre Familien haben ein langes Gedächtnis. Die Erfahrungen der großen Bergarbeiterstreiks von 1926, 1972 und 1974 hatten die Streikenden und nicht zuletzt den NUM-Präsidenten Scargill stark beeinflusst, waren eine Folie, vor der sie den aktuellen Kampf bewerteten. Und auch heute, vierzig Jahre nach dem Streik von 1984/85, sind die Erinnerungen lebendig und bitter.

Im Mutterland der Industrialisierung hatte der Bergbau eine immense Bedeutung. In den 1920er Jahren arbeiteten über eine Million Arbeiter im Bergbau, unter oft lebensgefährlichen Bedingungen. Im Zweiten Weltkrieg waren die Kohlegruben überlebenswichtig für das britische Durchhalten gegen Nazi-Deutschland. Auch in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren, als die siegreichen Briten länger unter Einschränkungen litten als die besiegten (West-)Deutschen, war die Kohle von zentraler Bedeutung. In den 1960er und 1970er Jahren sank die Zahl der Beschäftigten drastisch, viele Gruben wurden geschlossen. Unter den Bedingungen annähernder Vollbeschäftigung und des Ausbaus anderer Industrien stieß dies zunächst auf wenig Widerstand, zumal die Arbeit unter Tage immer noch gesundheitsschädlich war. Öl und Atomstrom galten nun als die vermeintlich sicheren und preiswerten Energieträger der Zukunft. Die britischen Bergwerke, von der Labour-Regierung nach 1945 verstaatlicht, womit eine alte Forderung der Bergarbeitergewerkschaften erfüllt worden war, fielen in ihrer Rentabilität hinter diejenigen anderer Länder zurück. Die Arbeit blieb gefährlich, Krankheiten wie Pneumokoniose und Silikose waren unter Bergleuten weit verbreitet. Manche Katastrophe traf ganze Ortschaften, vor allem jene in Aberfan in Südwales, bei der 1966 144 Menschen, darunter 116 Kinder, starben. Seit 1850 waren etwa 100.000 Bergarbeiter bei Grubenunglücken und Unfällen ums Leben gekommen. Und nun machte die Propaganda der Regierung diese Bergleute und ihre Familien zu «inneren Feinden»!

1972 und 1974 drängten Lohnstreiks der NUM die konservative Regierung von Edward Heath in die Defensive und schließlich 1974 in eine Wahlniederlage. Erstmals kamen 1972 «Flying Pickets», fliegende Streikposten, zum Einsatz, die landesweit die Auslieferung von Kohle verhinderten. Die Blockade des Kohlelagers von Saltley wurde für militante Linke zu einem – überhöhten – Symbol, das Arthur Scargill, der hier erstmals landesweite Bekanntheit erreichte, und Unterstützer:innen wie die trotzkistische Socialist Workers Party (SWP) 1984 in Orgreave trotz eines beeindruckenden Einsatzes vergeblich zu wiederholen versuchten. Denn die Zeiten hatten sich radikal gewandelt, zum Nachteil der Gewerkschaftsbewegung.

Die konservative Revolution marschiert: Thatcher auf dem Höhepunkt ihrer Macht

1979 wurde mit Margret Thatcher die Zeit des sozialstaatlichen Konsenses der vorherigen Jahrzehnte beendet. Zentrale Elemente der konservativen Regierungen bis 1990 waren die drastische Schwächung der Gewerkschaften, umfangreiche Privatisierungen, Steuersenkungen und ein Abbau des Sozialstaates (mit Ausnahme des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS). Gestärkt durch einen großen Wahlsieg 1983 und den Sieg im Falkland-Krieg 1982 wandte sich die Thatcher-Regierung nun dem «inneren Feind» zu. Gezielt wurden Kohlevorräte angelegt und verstärkt andere Energieträger eingesetzt. Die bis dahin im internationalen Vergleich umfangreichen Rechte der Gewerkschaften wurden massiv beschnitten, ebenso der Sozialhilfebezug für Familien von Streikenden. Nicht zuletzt wurde die Polizei in einer Weise zentralisiert, politisiert und aufgerüstet, wie es dies seit mindestens einem halben Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte. Die Regierung mit Margret Thatcher und ihrem Energieminister Peter Walker sowie das staatliche National Coal Board (NCB) mit seinem neuen Chef Ian McGregor waren auf eine große Auseinandersetzung vorbereitet. Die NUM war es nur unzureichend.

Die Massenarbeitslosigkeit - 1984 waren drei Millionen Menschen und damit offiziell ein Achtel der Erwerbsbevölkerung arbeitslos, restriktive Gewerkschaftsgesetze, sinkende Mitgliederzahlen, eine bei den Wahlen 1983 schwer geschlagene und tief gespaltete Labour Party, all dies hatte die im Trades Union Council (TUC) versammelten Gewerkschaften in die Defensive gebracht. Ob Regierung und NCB mit Ankündigungen von Grubenschließungen absichtsvoll die NUM in einen Streik ausgerechnet im Frühjahr treiben wollten, ist umstritten. Sicher ist aber, dass Regierung und NCB entschlossen waren, einer großen Auseinandersetzung nicht aus dem Wege zu gehen. So begannen Anfang März 1984 die ersten lokalen Streiks, die schnell auf die meisten Kohlereviere übergriffen. Die Exekutive der NUM erkläre die lokalen Streiks für offiziell, später auch ein Gewerkschaftstag. Warum also, so fragen bis heute Scargills Anhänger:innen, hätte eine landesweite Urabstimmung erfolgen sollen, wenn der Streik doch längst von der Basis aus begonnen hatte? Das Argument ist ein starkes, doch gilt dies auch für das Gegenargument der Kritiker:innen, die darauf verweisen, dass eine nationale Urabstimmung mit einem klaren Streikvotum auch die Streikgegner, zunächst hauptsächlich in Nottinghamshire, später auch in Teilen von Derbyshire und Yorkshire, zur Loyalität verpflichtet und so die bittere Spaltung vielleicht verhindert hätte.

Mit dem Einsatz von anfangs sogar mehreren Tausend «Flying Pickets»[1] versuchte die NUM, unterstützt von vielen linken Aktivist:innen, die Auslieferung von Kohle aus den Vorratsdepots zu unterbinden und die Minderheit der Streikbrecher («Scabs») von der Arbeit abzuhalten. Doch bekämpfte die Polizei auf Drängen der Regierung die «fliegenden» Streikposten mit großer Härte. Die Bewegungsfreiheit der Streikenden wurde in einer in der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzigartigen Weise beschnitten. Inhaftierungen erfolgten oftmals willkürlich, Tausende von Bergarbeitern und Unterstützer:innen wurden zu Haftstrafen verurteilt, die etwa in Schottland erst 2023 nachträglich amnestiert wurden.

Die Hauptgewalt in diesem Streik ging von der Staatsseite aus. Die meisten Medienberichte konzentrierten sich stattdessen auf die Gewalt von Streikenden gegen Streikbrecher und die Polizei. Diese Gewalt gab es, und sie nahm teilweise schreckliche Formen an, wie bei der Tötung des Taxifahrers David Wilkie im November 1984. Die berechtige Empörung über solche Taten schwächte die Streikenden weiter. Über die Tötung der Streikposten David Jones und Joe Green im März und Juni 1984 unter nie ganz aufgeklärten Umständen und über die verbreitete Staatsgewalt wurde weit weniger intensiv berichtet. Die Öffnung der Archive und spätere Untersuchungen haben bestätigt, dass die Regierung in einem vorher nicht für möglichen gehalten Maße Polizei, Justiz und den Inlandsgeheimdienst MI5 für die Bekämpfung der Streikenden einsetzte.

Scargill und viele Streikende der NUM kritisierten die ihnen zu geringe Solidarität der anderen Gewerkschaften und der Labour Party. Tatsächlich war etwa die Stahlarbeitergewerkschaft nicht bereit, ihrerseits in einen großen Streik einzutreten, auch der TUC rief zu keinem Generalstreik auf. Die verschärften Gewerkschaftsgesetze trugen zu dieser Haltung ebenso bei wie die Angst um die eigenen Arbeitsplätze, aber auch politische Vorbehalte gegenüber der militanten NUM-Führung. Die finanzielle Hilfe der TUC-Gewerkschaften und viele andere Solidaritätsmaßnahmen waren jedoch groß. Ohne diese Gelder hätte die NUM den Streik nicht durchhalten können. Nachdem die NUM sich geweigert hatte, gerichtlichen Auflagen nach den neuen Gewerkschaftsgesetzen nachzukommen, wurde sie wegen Missachtung der Gerichte unter Zwangsverwaltung gestellt und ihre Gelder und Immobilien beschlagnahmt, so dass sie weder Gehälter noch Streikgelder zahlen konnten. Dank der ungeheuren Hilfe aus den anderen Gewerkschaften, aber auch von Nachbarschaftsgruppen, einzelnen christlichen Gruppen und, wie im Film «Pride» beschrieben, auch einigen Aktivist:innen aus der schwul-lesbischen und der Frauenbewegung, konnten die Bergarbeiter:innenfamilien notdürftig überleben. Gelder der französischen Gewerkschaft CGT sowie indirekt aus der UdSSR und der DDR gingen ebenfalls ein, auch Spenden aus der BRD. Verheerend wirkte sich die Nachricht aus, dass der exzentrische Diktator Libyens, Muammar Al-Gaddafi, der NUM Geld zur Verfügung gestellt hatte, wenige Monate nachdem Angehörige seiner Botschaft in London aus dem Botschaftsgebäude heraus die Polizistin Yvonne Fletcher erschossen hatten.

Women of the working class: Die neue Rolle der Frauen im Streik

Kaum eine Berufswelt des Industriezeitalters war so ausschließlich männlich geprägt wie der Bergbau und in der Folge die NUM. Und doch haben Frauen in diesen Gemeinschaften immer auch einen eigenständigen Platz jenseits von Haus und Familie eingenommen. Der Streik von 1984/85 brachte Frauen nun gleichwohl einer so noch nicht dagewesenen Weise in sichtbare und höchst relevante Rolle. Mal Finchs Song «Women oft he Working class»[2] drückt dies eindrucksvoll aus. «Women against Pit closures» war ein Dach, unter dem sich viele der Unterstützungsgruppen sammelten. Diese Aktivitäten gingen weit über soziale und karitative Tätigkeiten hinaus, die freilich bitten nötig waren, um den verschuldeten, frierenden und teilweise auch hungernden Familien zu helfen. Arbeiterinnen wurden vernehmbare Stimmen gegen Polizeigewalt und die unbarmherzige Härte der Regierung. Die traditionellen Geschlechterrollen begannen sich durch den Streik beschleunigt zu verändern.

Die Kohleindustrie hätte, Investitionen und regionale Strukturprogramme vorausgesetzt, eine Zukunft gehabt, mit weiter abnehmenden Beschäftigtenzahlen und Fördermengen, aber mit Möglichkeiten für soziale, ökonomische und regionalpolitische Übergänge. Die politische Alternative waren vor 40 Jahren nicht erneuerbare Energie, sondern einheimisches Öl, Atomkraft und Importkohle. Die konservativen Regierungen ab 1979 verwendete die Einnahmen aus dem Nordseeöl zur Abwicklung der alten Industrien sowie für Steuersenkungen, die ihnen halfen, vier Wahlen zu gewinnen und 18 Jahre im Amt zu bleiben, jedoch nicht für dringend erforderliche Investitionen in Zukunftsindustrien und die Regionen außerhalb des wohlhabenden Süden Englands. Das Ergebnis dieser Politik und der sozialen Verheerungen der Regierung Cameron ab 2010 haben wesentlich zum Brexit-Votum von 2016 beigetragen.

Angesichts der Massenarbeitslosigkeit, der besseren Vorbereitung der Regierung und des Niedergangs der klassischen Industrien war ein vollständiger Sieg der Bergarbeiter nicht möglich. Wahrscheinlich gab es aber Phasen in der zwölfmonatigen Auseinandersetzung, in denen ein Teilerfolg und Kompromiss in Reichweite gewesen wäre, denn auch für die Regierung lief zwischenzeitlich nicht alles nach Plan. Verzweifelte Vermittlungsversuche einiger - vor allem linker - Gewerkschaftsführer wie Bill Keys und Rodney Bickerstaffe versandeten.

Scargill erwies sich als großer und viele Arbeiter:innen inspirierender Mobilisator, aber er war unwillig und unfähig, anders als in einem radikalen Dualismus von Sieg oder Niederlage zu denken und somit zu verhandeln, wie es Kerngeschäft von Gewerkschaftsführungen war und ist. Vielleicht wäre es möglich gewesen, einen größeren Teil der Arbeitsplätze zu bewahren und einen längeren Übergangsprozess aktiv mit zu gestalten. Vor allem aber hätte womöglich die NUM gerettet und die Spaltung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gemildert werden können. Am Ende des einjährigen Streiks stand kein Tarifvertrag, sondern der einseitige und bedingungslose Abbruch des Streiks. In einer letzten trotzigen und stolzen Geste kehrten die verbliebenen Streikenden, längst waren immer mehr vormals Streikende zur Arbeit zurückgekehrt oder hatten hohe Abfindungen angenommen, im März 1985 mit ihren Bannern und Musikkapellen in die Gruben zurück. Zur Bitterkeit der Spaltung ganzer Ortschaften, ja Familien zwischen Streikenden und Streikbrechern, zu den ungeheuren materiellen Verlusten, die viele Familien dauerhaft ruinierten, kamen bösartige Demütigungen durch das NCB und eine umfassende Strafverfolgung hinzu. Alte Gewohnheitsrechte der Gewerkschaften und ihrer Vertrauensleute («shop stewards») wurden gestrichen. Kein Betriebsverfassungsgesetz des deutschen Modells, auf das die militanten britischen Gewerkschafter:innen lange herabgeschaut hatten, das sie später aber wohl herbeigesehnt hätten, schützte die Arbeitenden.

Ein Kampf der Vergangenheit, und doch: Wir stehen auch auf ihren Schultern

Die Arbeiter:innenbewegung hat auch aus manchen Niederlagen Erfahrungen gesammelt und Fähigkeiten gelernt, die die Niederlagen überdauert haben. Der Streik von 1984/85 hätte diesbezüglich manches aufzuweisen gehabt, doch hat die nahezu totale Niederlage der NUM dieses Lernen aus einer Niederlage nicht zugelassen. Der forcierte Niedergang der Kohleindustrie hat nicht nur die von ihr geprägten Regionen und Gemeinschaften, sondern auch eine Gewerkschaftsbewegung zerstört, die Stärke besaß und Selbstbewusstsein vermittelte. Die Streikenden des langen Jahres 1984/85, ihre Familien und Unterstützer:innen haben es gleichwohl verdient, für ihren bewundernswerten, ja heroischen Kampf erinnert zu werden. Die Zeiten der Kohle und anderer fossilen Energieträger kommen – zu spät - an ihr Ende. Diese Zeiten zu romantisieren wäre falsch. Arrogant und dumm wäre es aber, die erkämpften ökonomischen, sozialen und politischen Errungenschaften dieser Phase der industriellen Arbeiter:innenbewegung gering zu schätzen. Wir stehen auf ihren Schultern, auf den Schultern auch derjenigen, die 1984 und 1985 zwölf bittere Monate lang in England, Wales und Schottland für ihr ökonomisches Überleben, ihre Gemeinschaften, ihre Organisationsmacht und ihre Selbstachtung gestreikt haben.

Aus der Fachliteratur:

  • Francis Beckett/ David Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners‘ Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009.

Ergänzend:

  • David Edgerton, The Rise and Fall of the British Nation. A Twentieth-Century History, Penguin Books, 2019
  • Kennth O. Morgan, The People’s Peace. British History 1945-1990, Oxford University Press, 1990.
  • Ralph Darlington, There is No Alternative: Exploring the Options in the 1984-5 Miners’ Strike. Capital and Class, no. 87, 2005, pp. 71-95.

Literatur und Film:

  • David PeaceGB 84. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. München 2014.
  • Pride. Film von Matthew Warchus und Stephen Beresford, UK 2014.
  • Brassed Off. Film von Marc Herman, UK 1996.

Dokumentationen und Fernsehberichte:


[1] Die gleichnamige a-cappella-Band («Only you») unterstützte die Streikenden 1984/85.