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Daniel Marwecki über die Geschichte der bundesdeutschen Unterstützung Israels

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Israelischer Staatspräsident Isaac Herzog und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schütteln Hände bei einem Staatsempfang in Berlin.
Israelischer Staatspräsident Isaac Herzog und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Staatsempfang in Berlin, 16.02.2024. Foto: IMAGO / Fotostand

«In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels», erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023. Den Worten folgten Taten. Seitdem haben sich deutsche Waffenexporte nach Israel verzehnfacht. Auch wenn Deutschland in der UN-Generalversammlung nicht gegen einen Waffenstillstand votiert, sondern sich enthalten hat, ist die Unterstützung auf diplomatischer Ebene unverkennbar. So hat die Regierung zukünftige Zahlungen für das palästinensische Flüchtlingshilfswerk, die UNRWA, vorerst ausgesetzt und sich frühzeitig bereit erklärt, Israel vor dem Weltgerichtshof gegen die südafrikanische Klage wegen Genozids zu verteidigen. Deutsche Spitzenpolitiker*innen reisen gefühlt im Wochentakt in die Region; allein Außenministerin Annalena Baerbock war bereits fünfmal dort, um Israels Recht auf Selbstverteidigung zu betonen und deutsche Unterstützung zuzusichern.

Daniel Marwecki ist Dozent an der Universität Hong Kong und Autor des Buches «Absolution? Israel und der deutsche Staatsräson» (Berlin: 2024).

Wer in den letzten Monaten englisch- und deutschsprachige Leitmedien verglichen hat, wird festgestellt haben, dass Kritik am israelischen Vorgehen in Deutschland verhaltener vorgetragen wird und palästinensische Stimmen vergleichsweise wenig in der Öffentlichkeit präsent sind. Viel größer als innerwestliche Differenzen freilich ist der Graben zwischen der Wahrnehmung im Westen und großen Teilen der postkolonialen Welt, in der der Israel-Palästinakonflikt traditionell durch andere historische Erkenntnisraster wahrgenommen wird. So lassen sich beispielsweise arabisch- und deutschsprachige Medien kaum noch vergleichen – sie konstituieren vielmehr Parallelwelten, die vom selben Krieg zwei unterschiedliche Geschichten erzählen.

Nach den USA ist Deutschland die wichtigste militärische und diplomatische Stütze Israels. Es wäre allerdings falsch, die Bundesrepublik aufgrund ihrer im internationalen Vergleich eindeutig proisraelischen Positionierung als vollständig isoliert zu betrachten, oder zu glauben, der «Globale Süden» mit seinen sechs Milliarden Menschen stünde geeint hinter Gaza. Indien unter Narendra Modi, das bevölkerungsreichste Land der Welt, beispielsweise vertritt eine diplomatische Position, die der deutschen wesentlich näher ist als jener Brasiliens oder Südafrikas. Und auch wenn die Bevölkerungen der arabischen Staaten, vom Golf bis nach Nordafrika, sich mit Gaza solidarisieren – ihre Regierungen tun das nicht. Jedenfalls ist von Boykottmaßnahmen wie im Arabisch-Israelischen Krieg von 1973 noch nichts bekannt.

Die deutsche Unterstützung für Israel speist sich allerdings nicht nur aus Geopolitik und Zynismus, dem Brot und Butter internationaler Beziehungen, sondern sie versteht sich ausdrücklich als moralisches Gebot aufgrund der deutschen Geschichte. Das macht diese Unterstützung kritikanfälliger – und zwar umso mehr, je länger das Sterben in Gaza andauert. In der London Review of Books schreibt Pankaj Mishra von einem Scheitern der deutschen Erinnerungskultur. Bruno Maçaes, ein über den Krieg in der Ukraine bekannt gewordener geopolitischer Kommentator, attestiert der Bundesregierung im TIME Magazine, sie lebe in einer abgeschotteten und rassistischen Fantasiewelt, in der für palästinensische Opfer offenbar kein Platz sei.

Es soll im Folgenden weniger um den Horror des 7. Oktobers, den grauenvollen Krieg in Gaza oder um die toxischen deutschen Debatten über Israel und Antisemitismus gehen. Stattdessen bemühe ich mich um eine historische Einordnung der deutschen Positionierung. Denn tatsächlich ist die Geschichte der deutschen Israelpolitik in Deutschland relativ unbekannt, was vor allem am Narzissmus der deutschen Rede über den Nahen Osten liegt – wenn Deutsche über Israel reden, reden sie meistens über sich selbst. Und das bedeutet: Je mehr Diskurs es gibt, desto mehr Unwissen wird produziert.

Die deutsche Israelpolitik ist weit komplexer und historisch bedeutsamer als oft angenommen. Weil es nicht möglich ist, diese Politik in einem kurzen Text abzuhandeln – das geschieht an anderer Stelle –, werden im Folgenden drei Thesen aufgestellt, die ihre wichtigsten historischen Aspekte ins Licht rücken.

These 1: Die deutsche Unterstützung für Israel ist wesentlich größer als angenommen.

Im Jahre 2008 hielt Angela Merkel in der Knesset, dem israelischen Parlament, eine Rede, in der sie die Sicherheit Israels als «Teil der deutschen Staatsräson» bezeichnete. Seitdem steht die Frage im Raum, wie weit diese Hilfszusage im Falle einer existenziellen Krise reichen würde. Der Krieg in Gaza, den Deutschland militärisch und diplomatisch unterstützt, vermag auf diese Frage eine Antwort zu geben: ziemlich weit.

Die Diskussion über die deutsche Israelsolidarität findet seit Merkels Rede mit Verweis auf die Staatsräson statt. Wie schon öfter angemerkt wurde (und ironischerweise auch im «jungen Politik-Lexikon» der Bundeszentrale für Politische Bildung steht), stammt der Begriff aus der Zeit des Absolutismus. Das deutsche Eintreten für Israels Sicherheit wird damit in den Rang eines Grundpfeilers bundesrepublikanischer Staatlichkeit erhoben, der sich dem demokratischen Diskurs gewissermaßen entzieht. Die deutsche Solidarität mit Israel ist nicht einfach ein der wechselnden Weltlage unterworfenes außenpolitisches Interesse; sie gehört vielmehr zum Wesenskern der deutschen Demokratie. Als der Bundestag im Jahre 2018 den 70. Geburtstag der israelischen Staatsgründung feierte, brachte die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckhardt dieses Selbstverständnis auf den Punkt, indem sie sagte: «Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes».[1] Dass die israelische Staatsgründung de facto die palästinensische Staatenlosigkeit zur Folge hatte, ist die dabei ignorierte Kehrseite.

Die jüngere identitätspolitische Wende in der deutschen Israelpolitik verstellt allerdings den Blick auf die historischen Wurzeln des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten. Denn tatsächlich war die Bundesrepublik für Israels Sicherheit zu einem Zeitpunkt bedeutsam, als die Vergangenheit eher verschwiegen als erinnert wurde.

Die Deutsche Israelhilfe

Deutschland gilt, wie eingangs erwähnt, als «zweitbester Freund» Israels nach den USA. Die amerikanisch-israelische Allianz in ihrer heutigen Form begann jedoch keineswegs mit Israels Staatsgründung, sondern erst mit und nach dem Arabisch-Israelischen Krieg von 1967. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die USA im Kalten Krieg die nationalistisch gesinnten Regime in der arabischen Welt, allen voran Ägypten unter Gamal Abdel Nasser, nicht in die sowjetische Einflusssphäre treiben wollten. Erst nachdem Israel mit dem Sieg von 1967 dem arabischen Nationalismus seine größte Niederlage beigebracht hatte, sollten die USA sich zum fundamentalen militärischen Unterstützer Israels aufschwingen.

Die knapp zwanzig Jahre zwischen Staatsgründung und Sechstagekrieg waren für Israel dagegen höchst kritisch. Der jüdische Staat war in dieser Zeit ein Experiment mit ungewissem Ausgang: Aus Europa oder den arabischen Staaten geflüchtete Einwanderinnen und Einwanderer mussten integriert, das Land industrialisiert und kriegsfähig gemacht werden. Eine Riesenaufgabe – bei der ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, gegründet 1949 als Nachfolgestaat des NS-Regimes, unerlässliche Hilfe leistete.

Zwischen 1953, als die Lieferungen aus dem im Vorjahr unterzeichneten Reparationsabkommen begannen, und 1965, als Deutschland und Israel ihre Beziehungen durch diplomatische Anerkennung offiziell machten, war die Bundesrepublik das einzige Land, das Israel alle drei gängigen Formen zwischenstaatlicher Unterstützung angedeihen ließ: Wirtschaftshilfe über das Reparationsabkommen, kriegswichtige geheime Militärhilfe und eine 1960 verabredete großzügige Finanzspritze. Addiert man die deutsche Israelhilfe und vergleicht sie mit dem, was die USA, England, oder Frankreich geleistet haben, so lässt sich feststellen, dass ausgerechnet die Bundesrepublik die wichtigste Stütze Israels in seiner so prekären Anfangszeit war.

Israels Chefunterhändler Nahum Goldmann nannte das Reparationsabkommen eine «Erlösung». David Horowitz vom israelischen Finanzministerium argumentierte gegen individuelle Entschädigungen und für staatliche Reparationen, weil diese den Unterscheid zwischen «wirtschaftlichem Überleben und staatlichem Zusammenbruch» bedeuten würden. Der Grund: Die Lieferungen umfassten Stahl, Fabrikanlagen, Schiffe, Maschinen und einiges mehr. Für das so früh nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaute und reiche Westdeutschland waren die Reparationen ein zu vernachlässigender Kostenpunkt. Für Israel, ein damals noch armes, aus Überlebenden und Flüchtlingen bestehendes Land, waren sie hingegen ein überaus hilfreicher Industrialisierungsschub. Aus der wirtschaftlichen Aufbauhilfe sollte schnell mehr werden.

Militärische Beziehungen

Im Dezember 1957 besuchte Shimon Peres, damals stellvertretender Verteidigungsminister, den deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in dessen schneeverhangener Residenz im bayerischen Rott am Inn. Peres schrieb über dieses Treffen, das den Startpunkt deutsch-israelischer Militärbeziehungen markiert:

«Nur wenige Monate nach unserem ersten Treffen erhielt die israelische Armee sehr wertvolle Ausrüstung (...). Wir erhielten Munition, Trainingsgeräte, Hubschrauber, Ersatzteile und vieles mehr. Die Qualität war exzellent und die Menge war beachtlich, vor allem verglichen mit dem, was wir gewohnt waren, auch wenn die Ägypter immer noch wesentlich mehr [von der Sowjetunion] erhielten. Zum ersten Mal fühlte sich die israelische Armee, die an allen Ecken und Enden sparen musste, beinahe verwöhnt.»

Was damals in Bayern begann, sollte sich in den Folgejahren zu einer umfangreichen, geheimen Militärkooperation ausweiten, deren genauer Inhalt bis heute nicht vollumfänglich erforscht werden kann. Gesichert ist, dass 1962 ein weiteres großes Beistandspaket geschnürt wurde, das von Haubitzen über Hubschrauber bis zu Flugzeugen allerlei kriegswichtiges Gerät bereitstellte. Später kamen über einen Dreieckshandel noch Panzer aus amerikanischer Herstellung hinzu. Israels erster Botschafter in Deutschland, Asher Ben-Natan, erklärte nach seinem Amtsantritt 1965 gegenüber Bundeskanzler Ludwig Erhard im vertraulichen Gespräch, dass ein Krieg im Nahen Osten «nur wenige Tage dauern» würde. Israel, so der Botschafter, «müsse deshalb immer bereit sein. Die deutsche Hilfe sei für die Entwicklung des Landes ein großer Beitrag gewesen, und auch die deutsche Militärhilfe habe für die Sicherheit Israels eine sehr große Rolle gespielt.»

Dass Israel sich mit dem Sieg im Sechstagekrieg im Nahen Osten nicht nur stabilisieren, sondern auch sein Gebiet radikal erweitern konnte – das geht nicht zuletzt auf die Hilfe der Bundesrepublik zurück.

These 2: Die Unterstützung Israels galt der billigen Rehabilitation der Bundesrepublik.

Warum reden Politiker*innen in Deutschland heutzutage so wenig über diese Frühgeschichte der deutschen Israelpolitik – gerade vor dem Hintergrund, dass die Bundesrepublik damals für Israels Existenz so viel wichtiger war als heute? Der Grund dafür ist nicht einfach Unkenntnis der eigenen Geschichte, sondern vielmehr, dass die frühe Unterstützung des jüdischen Staates offensichtlich von einem Rehabilitationsgedanken geprägt war, der die Integration Deutschlands ins westliche Lager erleichtern sollte. Deswegen eignet sich die frühe bundesdeutsche Israelpolitik nicht für die selbstgefälligen Moralgeschichten, die heute von deutscher Seite aus über das Verhältnis zu Israel erzählt werden.

Anfang 1966 strahlte das ZDF ein Interview von Günter Gaus mit Konrad Adenauer aus, der während seiner 14-jährigen Kanzlerschaft die Bundesrepublik so geprägt hat wie kaum eine andere Person. Befragt nach seiner Reparationspolitik, sagte Adenauer: «Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollten (…). Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen.»

Diese Verbindung zwischen Rehabilitationsgedanken und antisemitischem Vorurteil von jüdischer Macht, letzteres versehen mit dem vielsagenden «auch heute noch», war für die frühe Bundesrepublik sicher nicht der einzige, wohl aber der dominante Grund für die Hinwendung zu Israel. Belege dafür lassen sich viele finden. Ein weiteres Beispiel: Der deutsche Journalist Rolf Vogel, ein Vertrauter Konrad Adenauers, war Ende der 1950er Jahre an einem skandalwirksamen Geschäft beteiligt, bei dem die Bundesrepublik in größerem Stil Uzi-Maschinenpistolen aus Israel kaufte. Von Vogel stammt ein Satz, der die deutsche Israelpolitik jener Zeit auf den Punkt bringt: «Die Uzi in der Hand deutscher Soldaten ist sicher besser als alle Broschüren gegen den Antisemitismus.» Yigal Allon, ein Abgeordneter der linksgerichteten Partei Ahdut HaAvodah, der später zum Verteidigungsminister aufsteigen sollte, stellte sich gegen die Waffenverkäufe. Er hielt sie für entwürdigend und hegte über die Bundesrepublik keine Illusionen: «Die Deutschen haben diese Waffen nicht gekauft, weil die Waffen gut sind, sondern weil sie jüdisch sind. Die Deutschen brauchen dringend Rehabilitation.»

Der Grund, warum die Deutschen Rehabilitation brauchten, war offensichtlich, lag die Nazi-Diktatur doch erst wenige Jahre zurück. Die deutsche Bevölkerung war großenteils in ihn verstrickt, die Täter*innen und stillen Profiteure lebten überwiegend unbehelligt in der Bundesrepublik. Die Rehabilitationsthese leitet sich aus der historischen Situation der Nachkriegszeit sachlogisch ab: Wie in der Forschung mittlerweile ausführlich dokumentiert, wurde die Entnazifizierung Westdeutschlands mit Gründung der Bundesrepublik abgebrochen. Ein enges Verhältnis zum neu gegründeten jüdischen Staat war die billigstmögliche Art, eine geläuterte Demokratie dort zu signalisieren, wo sie noch gar nicht existieren konnte.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass kaum etwas der Bevölkerung Israels damals ferner lag, als Beziehungen mit Deutschland aufzunehmen. Tatsächlich stürzte die Aussicht auf Reparationsverhandlungen mit Westdeutschland den jungen Staat in seine schwerste Krise. Auch das unterstreicht die Prekarität der israelischen Lage. Anders formuliert: Die Absolution (West-)Deutschlands war der Preis, den Israel zahlen musste, um seine Existenz zu sichern.

Nach dem deutsch-israelischen Botschafteraustausch von 1965 wollte die Bundesrepublik das Verhältnis zu Israel unbedingt «normalisieren», während Israel auf eine besondere Verantwortung Deutschlands aufgrund der unmittelbaren Vergangenheit pochte. Wie «normal» Deutschland indes wieder geworden war, zeigte sich ironischerweise gerade an der Figur von Rolf Pauls, dem ersten bundesdeutschen Botschafter in Israel, der sinnbildlich für die deutsche Rehabilitationspolitik stand. Pauls, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier an der Ostfront, redete vom «Weltjudentum», unterstellte den Israelis, Nutzen ohne Gegenleistung zu erwarten, fand aber auch, dass man Israel ein Stück weit entgegenkommen müsse, weil sonst «die Juden die Hunde von Jerusalem über London bis New York loslassen» würden.

Wer sich heute angesichts der Exzentrik und Toxizität der Israeldebatte in der Bundesrepublik die Augen reibt, tut gut daran, sich die Anfänge der deutschen Israelpolitik zu vergegenwärtigen. Die Beziehungen waren schon immer von der deutschen Vergangenheit geprägt, allerdings auf andere Weise, als manche sich heute vorstellen.

These 3: Der Spagat zwischen Staatsräson und Zweistaatenlösung ist gescheitert.

Nach Auflösung der proarabisch und propalästinensisch eingestellten DDR und ihrem Anschluss an die Bundesrepublik gewann Deutschland seine alte Mittellage in einem nicht länger geteilten Europa zurück. Nicht zuletzt, um westlichen Verbündeten die Angst vor erneuerten deutschen Großmachtbestrebungen zu nehmen, setzte die Bundesrepublik nach dem Kalten Krieg ihre transatlantische Politik fort, kassierte die «Friedensdividende» ein und blieb eine Wirtschaftsmacht, die ihre ökonomischen Interessen zwar durchzusetzen wusste, aber stets mit menschenrechtlichem Vokabular verzierte. Auch veränderte sich die Vergangenheitspolitik: weg vom Primat des Vergessens und hin zu dem von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 postulierten Primat der «Erlösung durch Erinnerung». Damit verband sich auch eine Wende in der Israelpolitik: weg von der «Normalisierung», die immer auch arabische Ölinteressen im Blick hatte, und hin zu dem, was heute als «Staatsräson» gilt.

Parallel zu den miteinander verwobenen Entwicklungen deutscher Vergangenheits- und Israelpolitik fand in den 1990er Jahren der sogenannte Oslo-Prozess statt, der zu einer Friedenslösung führen sollte. Die gegenseitige Anerkennung Israels und der Palästinensischen Befreiungsorganisation – viel mehr als das beinhaltete der erste Vertrag von 1993 letztlich nicht – sorgte für erleichtertes Aufatmen im Deutschen Bundestag. Der CDU-Abgeordnete Karl Lamers sagte, «dass wir uns zuweilen in einem schmerzlichen Zwiespalt fühlten, weil es so schien, als sei das Wohlergehen Israels mit dauernder Heimatlosigkeit der Palästinenser verbunden.»

Deutschland investierte in den Oslo-Prozess nicht nur Hoffnung, sondern auch Geld. Dieser Prozess scheiterte im Jahr 2000, als die Verhandlungen zwischen Ehud Barak und Yassir Arafat in Camp David ergebnislos zu Ende gingen. Dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, stammt im Übrigen nicht von Merkel, sondern aus der Zweiten Intifada, die nach dem Scheitern von Oslo einsetzte. Der damalige deutsche Botschafter in Israel, Rudolf Dreßler, schrieb 2005, drei Jahre vor der Rede Merkels, dass eine Lösung des Konflikts aus deutscher Sicht nur erreicht werden könne, wenn die Sicherheit Israels vor Terror gewährleistet sei – die Sicherheit Israels, so Dreßler, müsse zur deutschen «Staatsräson» werden.

Obwohl der Oslo-Prozess seit über zwei Jahrzehnten gescheitert ist, bleibt die Bundesrepublik bis heute ein prinzipieller Geldgeber der mit den Oslo-Verträgen geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde und wird nicht müde, die Notwendigkeit einer verhandelten Zweistaatenlösung zu betonen, auch wenn die Wirklichkeit für eine solche Lösung schon vor dem 7. Oktober kaum noch Anhaltspunkte bot. Der Zwiespalt, von dem Karl Lamers 1993 sprach, bleibt auch über 30 Jahre später bestehen.

Die Unmöglichkeit der deutschen Position

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres fragte eine Moderatorin Bundeskanzler Scholz, ob er Beweise für seine Aussage habe, dass Israel während seines Vorgehens in Gaza das Völkerrecht achte. Eine Frage, die der Kanzler nicht mit ja oder nein, sondern mit einem unverständlichen Wortsalat beantwortete.[2] Dies beschreibt das Dilemma, in dem sich die Bundesrepublik seit der Terrorattacke vom 7. Oktober und dem anschließenden Krieg Israels gegen die Hamas befindet: Einerseits zeigt sich die Bundesrepublik mit Israel solidarisch, sowohl mit Blick auf die Kriegsziele als auch – weitestgehend – hinsichtlich der Kriegspraxis. Andererseits will man weiterhin als internationaler Hüter von Völkerrecht und «regelbasierter Weltordnung» auftreten. Beides zusammen kann jedoch nicht gelingen. Das weiß auch Olaf Scholz.

Israels Kriegsziel, die Hamas zu zerstören, ist im Einklang mit dem Völkerrecht nicht zu erreichen. Dies liegt bereits in der Natur urbaner Aufstandsbekämpfung und ist von der Hamas, die sich in die Zivilbevölkerung Gazas eingewoben hat, auch explizit so intendiert. Das bedeutet allerdings nicht, wie manche Deutsche behaupten, dass die Hamas die alleinige Verantwortung für die Zerstörung Gazas trage. Denn die Äußerungen einiger israelischer Spitzenpolitiker*innen und die Kriegspraxis lassen – um es vorsichtig zu formulieren – nicht darauf schließen, dass die Antwort auf die grausame Terrorattacke des 7. Oktober durch das Völkerrecht definiert wird.

Zwischen Israel und der Hamas herrscht ein existenzieller Krieg, in dem die Grenze zwischen militärischen und zivilen Zielen aufgehoben zu sein scheint. Die Hamas hat mit dem 7. Oktober 2023 eine klare Absicht bekundet: die Auslöschung Israels. Es war ein Verbrechen mit genozidalem Charakter. Das von einem parteiübergreifenden Kriegskabinett angeführte Israel wird seinerseits nicht ruhen, bis die Hamas vernichtet ist oder die Waffen streckt. Dies bedeutet ein ziviles Massensterben, das dieser Konflikt noch nicht gesehen hat.

Der deutschen Außenpolitik fehlen nicht nur die Instrumente, um das ihrige zu tun, diesen Krieg zu beenden. Tatsächlich fehlt bereits die Sprache: Über Israel und Gaza lässt sich in Deutschland derzeit kaum mit ungeteilter Empathie diskutieren.


[1] Dieses und folgende Zitate finden sich in meinem Buch «Absolution? Israel und die Deutsche Staatsräson», dass im Februar 2024 im Wallstein-Verlag erschienen ist.