Als hätten sich auch die Wetterverantwortlichen etwas ganz Besonderes für den ersten Tag der platforma11 ausgedacht. Am Sonntagmorgen sitzen über fünfzig junge politische Künstlerinnen, Kulturschaffende, Bildner und Aktivistinnen bei gefühlten dreißig Grad im Frühstücksraum einer Leipziger Jugendherberge, zum ersten Mal als platforma11-Gruppe versammelt. Am Vortag sind sie angereist, aus Orten wie Murmansk im Nordwesten Russlands, hinter dem Polarkreis, aus Belgrad und Bukarest, Kairo und Jerusalem, Oslo und Vigo, Bielefeld und Bremen.
Das Seminarbeginn-Phänomen entfaltet sich: Aus Namen auf Flugtickets und Teilnehmerlisten werden Gesichter und Stimmen, und schon im Verlauf des Nachmittags stellt sich das Gefühl ein, dass diese Gruppe die platforma11-Woche zu einem einzigartigen Ereignis machen wird. Der drückenden Schwüle zum Trotz wird jeder Halt der alternativen Stadtführung für rege Diskussionen genutzt: Über Straßenkunst und ihre politische Bedeutung zwischen den bemalten und besprühten Gebäuden des ehemaligen Verladebahnhofs, über die Beziehung von Geschichte und Architektur vor dem Paulinum, einem Glas-und-Stahl-Bau nach Plänen der 1968 gesprengten Universitätskirche St. Pauli, der Teile der Universität Leipzig beherbergt, die seit 1991 nicht mehr Karl-Marx-Universität heißt. Der Übergang zu „Szenarien über Europa“ in der Galerie für Zeitgenössische Kunst ist nahtlos, die Ausstellung passt wie die Faust aufs Auge der platforma11-Gruppe: Die Exponate von Künstlergruppen aus verschiedenen europäischen Regionen thematisieren ein breites Spektrum politischer Fragen, zwischen biokultureller Diversität und sozioökonomischen Verwerfungen.
Am späten Nachmittag dann, im Hinterhof des Kultur- und Begegnungsraum hinZ und kunZ, stellen die Koordinatorinnen Julia Kurz , Yvonne Anders und Valerie Waldow das Konzept der Werkstatt-, Netzwerk- und Ausstellungswoche vor. Kaum steht das Flipchart, kurzum aus alten Plakaten und einer Bierbank gezimmert, verdüstert sich urplötzlich der Himmel, innerhalb weniger Augenblicke wird es kalt und dunkel, und als alle endlich ihren Blick von dem weltuntergangähnlichen Naturspektakel gerissen und sich drinnen um die Holztische gruppiert haben, bricht ein mächtiger Regenschauer aus. Die Sicht durch die Vitrinenfenster verschwimmt, das Geprassel erfordert gesteigerte Aufmerksamkeit, während die Verantwortlichen die Ideen der fünf vorgesehenen Arbeitsgruppen erklären. In unabhängigen Kunst- und Kulturräumen in verschiedenen Stadtteilen werden die Gruppen sich mit selbstorganisierter Vernetzung zwischen Künstlern, Kultur- und Politaktivistinnen, mit Möglichkeiten der Intervention im öffentlichen Raum, mit der Interaktivität von Kunsträumen als Orten der Teilhabe, mit der Wechselwirkung zwischen stadtplanerischen Aspekten und politischen Einstellungen der Bewohner von Stadtteilen beschäftigen – mit Fragen im Spannungsfeld zwischen Kunst, Kultur und Politik, die aus der Erfahrung der Teilnehmenden, aus ihren Arbeiten, aber vor allem aus den aufeinandertreffenden Ansätzen und entstehenden Kollektiven erwachsen. Die Zusammenführung findet allabendlich in der Projekt-Galerie A&V statt, wo öffentliche Veranstaltungen mit einzelnen platforma11-Künstlerinnen und –Aktivisten geplant sind, wo aber auch Raum für die Präsentation unvorhersehbarer Projekte, Werke und Ideen besteht, die sich aus der Zusammenarbeit ergeben.
Als der Regen nachlässt, haben sich die Arbeitsgruppen längst zusammengetan, die Mitmachenden haben sich einander vorgestellt und befinden sich schon mitten in der Diskussion. Die Atmosphäre des Eingeschlossenseins in einen Inspirationsraum hat das Ihre getan. Weitere Wechselbäder sind der platforma11 garantiert – bei jedem Wetter.
Am Samstag, den 17. September sind alle Interessierten herzlich willkommen, sich die Resultate beim platforma WALK anzuschauen: Treffpunkt: 11.00 Uhr, AundV Projekt- und Hörgalerie, Lütznerstraße 30, Leipzig.