Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Ostafrika Der Völkermord in Ruanda dreißig Jahre danach

Können wir, drei Jahrzehnte nach Beginn des Genozids in Ruanda, von Versöhnung sprechen?

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Phil Clark, Andreas Bohne,

Eine Reiseleiterin, die während des Völkermords in Ruanda ihre Mutter und drei Kinder verloren hat, steht vor Leichen, die im Murambi Genocide Memorial in Gikongoro, Ruanda, ausgestellt werden, 27.01.2009. Foto: IMAGO / Aurora Photos

Im April 2024 jährt sich der Beginn des Völkermords in Ruanda zum dreißigsten Mal. In nur 100 Tagen zwischen April und Juli 1994 wurden landesweit über 800 000 Menschen von Milizen der Hutu-Ethnie brutal ermordet. Die meisten Opfer waren Angehörige der Tutsi-Ethnie, aber auch gemäßigte Hutus wurden zur Zielscheibe. Der Völkermord markierte einen Wendepunkt in der internationalen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Die damals ausgelösten Diskussionen über die «Schutzverantwortung» der Staaten vor Kriegsverbrechen und Völkermord prägen bis heute die Debatten über internationales Recht und Konfliktprävention.

Doch was hat sich in den drei Jahrzehnten seit den schrecklichen Ereignissen, die sich in Ruanda abgespielt haben, geändert? Die Konflikte zwischen Hutus und Tutsi toben weiter, wenn nicht in Ruanda, dann in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo, und Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören keineswegs der Vergangenheit an. Andreas Bohne von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit Phil Clark, einem Experten zu Konfliktforschung, der derzeit an einem Buch über Wohlfahrt und Versöhnung in Ruanda nach dem Völkermord arbeitet, wozu er seit mehr als 20 Jahren forscht, über die Hintergründe des Völkermords und darüber, wie das Land – und die Welt – versucht haben, mit diesem Grauen und seinen Folgen umzugehen.
 

Andreas Bohne: Der dreißigste Jahrestag des Beginns des Völkermordes in Ruanda ist nur noch wenige Tage entfernt. Obwohl er damals ein großes Ereignis war, hat man das Gefühl, dass er viel schneller aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden ist als andere tragische Ereignisse aus der gleichen Zeit, insbesondere solche, die im Westen stattfanden. Können Sie die schrecklichen Ereignisse, die vor drei Jahrzehnten stattfanden, noch einmal Revue passieren lassen?

Phil Clark: Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda war eine der schrecklichsten Perioden von Massengewalt im zwanzigsten Jahrhundert. Innerhalb von 100 Tagen wurden etwa 800.000 Menschen, überwiegend Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi, getötet – etwa zwei Drittel der Tutsi-Bevölkerung.

Was den ruandischen Völkermord vielleicht am meisten kennzeichnet, ist die Intimität der Gewalt. Eines der bemerkenswertesten Merkmale des Mordens war, dass es meist von ganz normalen Tätern durchgeführt wurde, die ihre Opfer gut kannten. Es war ein Völkermord von Nachbar gegen Nachbar, Freund gegen Freund, manchmal sogar Familienmitglied gegen Familienmitglied. Und die Tötungstechniken waren unglaublich intim. Es handelte sich um Gewalt, die mit sehr einfachen Werkzeugen wie Macheten, Hacken, Knüppeln mit Stacheln, also mit Objekten, die jeder in seinem Haus herumliegen hatte und in der Regel für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden, ausgeübt wurde. Und diese Intimität der Gewalt stellt Ruanda bei dem Versuch, sich von dieser Zeit zu erholen, vor wirklich große Herausforderungen. Es hat sehr wichtige Fragen aufgeworfen, wie man eine Gesellschaft versöhnen kann, in der Hunderttausende von Menschen an Gewalt gegen Menschen beteiligt waren, die sich sehr gut kannten.

Phil Clark ist Professor für internationale Politik an der SOAS-Universität London. Seine jüngsten Bücher sind Distant Justice: The Impact of the International Criminal Court on African Politics (CUP, 2018) und The Gacaca Courts, Post-Genocide Justice and Reconciliation: Justice without Lawyers (CUP, 2010). Sein neuestes Buch Rwanda under the RPF: Welfare, Security and Reconciliation after 1994 wird im Jahr 2025 im Verlag Hurst and Co. erscheinen.

Meiner Meinung nach kann der Völkermord nicht als «spontanes Ereignis» - als Eruption der Gewalt nach dem bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz von Präsident Juvénal Habyarimana - eingestuft werden, wie oft suggeriert. Können Sie dennoch kurz die politische Situation am Vorabend des Völkermordes beschreiben?

Völkermorde sind nie spontan. Eines der Dinge, die wir in den letzten dreißig oder vierzig Jahren aus der Forschung gelernt haben, ist, dass Völkermorde immer beeinflusst durch einen vorangegangenen Konflikt stattfinden, und Ruanda ist in dieser Hinsicht nicht anders. Der Völkermord von 1994 fand im Kontext eines Bürgerkriegs zwischen 1990 und 1994 zwischen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), den Rebellen unter der Führung von Paul Kagame, und der Hutu-dominierten Regierung von Präsident Juvénal Habyarimana statt.

Aber auch abseits des Bürgerkriegs gab es in der politischen Arena Ruandas eine Vielzahl an Faktoren. In den frühen 1990er Jahren haben internationale Geberländer das Land zu einer neuen Form des Mehrparteiensystems gezwungen. Die Periode hatte zur Folge, dass eine ganze Reihe ethnischer, genauer gesagt ethnisch chauvinistischer politischer Parteien entstanden, denen oft Jugendmilizen und andere bewaffnete Gruppen angeschlossen waren. Dies war eine unglaublich unbeständige und gewalttätige Zeit. Selbst zwischen den Hutu-Parteien herrschte ein ein enormes Machtgerangel und ein enormes Ausmaß an Gewalt. Der Völkermord von 1994 ist der Höhepunkt einer drei- oder vierjährigen Periode des Bürgerkriegs, der zunehmenden Gewalt und der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft.

In diesem Zusammenhang beginnt die Hutu-Regierung, die Mehrheit der Hutu-Bevölkerung durch Propaganda aufzuwiegeln. Die Botschaft der Regierung lautete: Die Tutsi-Rebellen kommen, um das Land zu übernehmen und Ruanda in die Kolonialherrschaft zurückzuführen, und jeden Tag schließen sich Tutsi-Zivilisten dieser Tutsi-Rebellenbewegung an. Ihr müsst also eure Tutsi-Nachbarn töten, denn wenn ihr das nicht tut, werden sie sich den Rebellen anschließen, und die Hutu-Bevölkerung wird von den Tutsi unterjocht werden, genau wie in der Vergangenheit. Diese Art der Anti-Tutsi-Propaganda war nur aufgrund des Bürgerkriegs und der sehr gewalttätigen Mehrparteienpolitik möglich. Um zu verstehen, was nach dem 6. April 1994 geschah, ist das Verständnis dieses Hintergrunds von entscheidender Bedeutung.

Ruanda war Teil der Kolonie «Deutsch-Ostafrika» und stand nach dem Ersten Weltkrieg unter belgischer Herrschaft. Inwieweit muss die Kolonialzeit als Mitursache eingestuft werden?

Der Kolonialismus ist für unser Verständnis des Völkermordes entscheidend, ist er einer dieser sehr wichtigen langfristigen Kausalfaktoren. Der deutsche Kolonialismus führte zunächst zu einer strikten Trennung in der ruandischen Gesellschaft, die die Tutsi begünstigte. Die Deutschen kamen Ende des 19. Jahrhunderts nach Ruanda und sahen, dass die sozioökonomische Gruppe der Tutsi vorherrschend war, und die Deutschen fühlten sich den Tutsi in gewisser Weise verbunden. Sie hatten das Gefühl, dass sie irgendwie europäischer waren, dass sie kultivierter waren, dass sie die Herrschenden waren. Daher waren sie der natürliche Partner, eine Idee, die der belgische Kolonialismus aufgriff. Die Belgier begünstigten ebenso die Tutsi, aber viel systematischer und mit entsprechend tiefgreifenden Folgen: 1933 führten die sie ethnische Ausweise ein, welche die sozioökonomischen Kategorien festlegten. Zuvor waren die Kategorien Hutu, Tutsi und Twa fließende sozio-ökonomische Kategorien. Der belgische Kolonialismus hat diese Kategorien festgeschrieben und durch ethnische Ausweise konkretisiert, so dass nach 1933 alle Ruander einer bestimmten ethnischen Gruppe angehörten. Diese Identität wurde dann über die Familienlinie bis 1994 weitergegeben. In den nächsten 20 oder 30 Jahren der belgischen Herrschaft kam es dann noch einmal zu einer systematischen Bevorzugung der Tutsi und einer Ausgrenzung der Hutu.

Die Belgier schufen dieses tiefe Gefühl der Teilung und der Ressentiments. Wie tief diese Ressentiments sind, zeigt sich daran, dass es Habyarimana als Regierungschef in den 1990er Jahren möglich war, die Kolonialzeit als Teil der Anti-Tutsi-Propaganda zu beschwören. Sie war in den Köpfen der Hutu noch sehr präsent. Diese Geschichten über den Kolonialismus und die Tutsi-Herrschaft wurden von Generation zu Generation weitergegeben und bildeten einen fruchtbaren Boden für die Propaganda, die dann in den 1990er Jahren im Vorfeld des Völkermords eingesetzt wurde. Die Kolonialzeit prägt weiterhin das Denken und die Identität der Menschen. Und sie war wirklich wichtig für die Propaganda, die Teil der Grundlage für den Völkermord im Jahr 1994 war.

Würden Sie der These zustimmen, dass der Völkermord in Ruanda kein innerruandisches Drama war, sondern ein internationales Ereignis, an dem viele Akteure wie Frankreich direkt und indirekt beteiligt waren? Auch die UNO wird des Versagens bezichtigt.

Ich denke, es ist wichtig, dass wir den Völkermord in Ruanda in einen internationalen Rahmen setzen. Die Rolle der internationalen Akteure war entscheidend dafür, wie sich der Völkermord abgespielt hat. Ich würde in diesem Zusammenhang drei Dimensionen nennen.

Erstens wurden Ruanda in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren von internationaler Seite ein System der Mehrparteiendemokratie auferlegt. Zusätzlich haben die Weltbank und der IWF umfassende Strukturanpassungsprogramme durchgesetzt. Diese beiden Faktoren führten zu einer politischen und wirtschaftlichen Krise in dem Land, zu einer unbeständigen Mehrparteienpolitik, aber auch zu enormen wirtschaftlichen Entbehrungen, so dass das Land wirtschaftlich am Boden lag. Das ist wichtig zu erkennen, denn als wir in den 1990er Jahren in die Zeit des Bürgerkriegs kamen, befand sich das Land bereits in einer Krise und die Bevölkerung stand unter enormem Druck. Die Menschen waren verzweifelt, sie waren wütend und sie waren hungrig.

Die zweite internationale Dimension bestand in der direkten Beteiligung Frankreichs in den Jahren 1993 und 1994. Frankreich hat sich mit der Hutu-Regierung von Habyarimana verbündet, vor allem, weil sie als Teil der frankophonen Einflusssphäre in Zentralafrika angesehen wurde. Während des Bürgerkriegs glaubte Frankreich, dass eine Niederlage der Habyarimana-Regierung die anglophone Tutsi-Rebellengruppe, die RPF, auf den Plan rufen würde. Und das konnte bzw. wollte Frankreich nicht dulden. So begann die in Ruanda stationierte französische Armee in den Jahren 1993 und 94, viele der Jugendmilizen zu bewaffnen und auszubilden, die während des Völkermords in großem Stil Massaker an Tutsi verübten, insbesondere die «Interahamwe»-Miliz, die mit Habyarimanas Regierungspartei verbunden war. Frankreich spielt eine direkte Rolle bei der Ermöglichung der Gewalt gegen Tutsi.

Der dritte und vielleicht am besten dokumentierte internationale Aspekt des Völkermordes ist das Versagen der Vereinten Nationen beim Schutz der Tutsi-Zivilbevölkerung, als sich der Völkermord nach April 1994 entwickelte. Die UNO war nicht bereit, ihre eigenen Kräfte für den Schutz der Zivilbevölkerung zu opfern. In dem Maße, wie die Gewalt eskalierte, nahm die UN-Präsenz ab. Und das war natürlich ein äußerst peinlicher Moment für die UNO. Dieses Versäumnis, die Zivilbevölkerung zu schützen, obwohl zum Zeitpunkt des Beginns des Völkermords in Ruanda eine UN-Präsenz vor Ort war, verfolgt das gesamte UN-System bis heute.

Versöhnung, Verantwortung und Aufarbeitung sind wichtige, aber auch umstrittene Prozesse nach einem Kriegsverbrechen, wenn sie die Ursachen und Folgen mit einem Mantel des Schweigens bedecken sollen. In Ruanda gab es viele Ansätze für eine Übergangsjustiz, wie zum Beispiel die Gacaca-Gemeinschaftsgerichte. Gleichzeitig erleben wir eine von oben diktierte Form der Erinnerungskultur unter Präsident Paul Kagame. Wie beurteilen Sie die erinnerungspolitischen Prozesse in einem autokratischen Staat?

Diese Frage verweist meines Erachtens auf die tiefgreifende Komplexität Ruandas nach dem Völkermord. Seit 1994 hat das Land so viele Fortschritte gemacht, aber all diese Fortschritte fanden in einem stark kontrollierten politischen Umfeld statt. Ich denke, wenn man die ruandischen Realitäten in den Griff bekommen will, muss man all diese Dinge in Betracht ziehen. Das gilt auch für den Bereich der Übergangsjustiz und der Versöhnung. Ich halte Gacaca-Gerichte für eine wichtige Reaktion auf den Völkermord. Ich denke, dass diese Gemeinschaftsgerichte zwischen 2002 und 2012 entscheidend dafür waren, dass die lokalen Gemeinschaften mit den Geschehnissen während des Völkermords fertig werden konnten, dass sie Beweise von Völkermordverdächtigen anhören konnten, dass sie den Mitgliedern der Gemeinschaft die Möglichkeit gaben, ihre Geschichten über den Völkermord in einer Form zu erzählen, die für sie Sinn machte, und dass sie dann Gerechtigkeit für diese Verbrechen anstrebten, aber auch, dass sie die Täter auf sehr kreative Weise bestraften, die einen greifbaren Nutzen für die Menschen im Alltag hatte – insbesondere der Einsatz von gemeinnütziger Arbeit als Geste, war in dieser Hinsicht sehr wichtig. Ich habe in meiner eigenen Forschung argumentiert, dass die Gacaca ein starkes Fundament für die langfristige Versöhnung im Land bilden, weil in diesem systematischen Prozess Gemeinschaft für Gemeinschaft Rechenschaft über die Geschehnisse während des Völkermordes abgelegt wird. Aber all dies geschieht in einem sehr kontrollierten politischen Raum, was Probleme schafft und einige der Vorteile eines Prozesses wie Gacaca im Besonderen verwässert.

Eines der größten Versäumnisse ist meiner Meinung nach die Weigerung, den Prozess in die Lage zu versetzen, Verbrechen zu behandeln, die von der RPF nach dem Völkermord an unschuldigen Hutu-Zivilisten begangen wurden. Nun müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir die Verbrechen des Völkermords nicht mit den Verbrechen der RPF gleichsetzen. Diese RPF-Verbrechen sind eine eigene Kategorie. Sie wurden meist aus Rache für den Völkermord begangen. Sie geschahen nur in bestimmten Teilen des Landes und betrafen nur einen sehr viel kleineren Teil der Bevölkerung – was ihre Bedeutung nicht schmälern soll. Doch sie waren von der Hutu-Bevölkerung in nur einigen Gebieten Ruandas zu spüren und nicht unbedingt landesweit.

Eines der Probleme heute ist, dass es nie einen Prozess gegeben hat, in dem die Verbrechen der RPF anerkannt und diese zur Rechenschaft gezogen wurden. Für einen Großteil der Bevölkerung spielt das keine Rolle, aber für die Hutu an den Orten, an denen diese Verbrechen begangen wurden, ist das wichtig. In meinen Gesprächen, vor allem in ländlichen Gebieten, kommen immer wieder RPF-Verbrechen zur Sprache. Man hat das Gefühl, dass diese vergangenen Gräueltaten nicht anerkannt werden, und das führt zu Spaltungen auf lokaler Ebene.

Es war ein Fehler der Regierung Kagame, keinen Prozess zur Untersuchung dieser Fälle einzuleiten, und das hat die Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, die Justiz sei einseitig. Ich denke, dieser Vorwurf ist zutreffend. Dennoch sollte dieser Vorwurf nicht dazu benutzt werden, die sehr wichtigen Vorteile eines Verfahrens wie der Gacaca-Gerichte zu untergraben. Hätte die Regierung einen Weg gefunden, beides zu tun – Gacaca zu machen, aber auch ein offenes und ehrliches Gespräch über die Verbrechen des RPF zu ermöglichen – dann würden wir über eine viel umfassendere, tiefgreifendere Form der Übergangsjustiz sprechen, die meiner Meinung nach später zu einer noch tieferen Form der Versöhnung führen würde. Es gab also große Fortschritte in diesem Bereich, aber auch einige systematische Fehltritte auf dem Weg dorthin.

Im Osten der Demokratischen Republik Kongo tobt derzeit ein Bürgerkrieg zwischen der kongolesischen Armee, den Demokratischen Hutu-Kräften zur Befreiung Ruandas (Forces Démocratiques de Libération du Rwanda, FDLR) und der von Ruanda unterstützten Rebellenbewegung 23. März. Da es sich um einen ethnischen Bürgerkrieg handelt, warnen Experten vor der Gefahr von Völkermordverbrechen insbesondere durch Hutu-Jugendgruppen, die als «Wazalendo-Gruppen» bekannt sind. Wie schätzen Sie die Lage ein, und wie kann sie deeskaliert werden?

Es gibt einige Kontinuitäten zwischen dem Völkermord von 1994 und dem, was derzeit im Kongo geschieht, und es gibt Unterschiede. Die Kontinuität besteht darin, dass im Ostkongo immer noch eine enorme Menge an Anti-Tutsi-Rhetorik und Anti-Tutsi-Gewalt stattfindet, teilweise von Hutu-Milizen ausgeübt, von denen einige direkt mit dem Völkermord von 1994 in Verbindung stehen. Nehmen wir zum Beispiel eine Gruppe wie die FDLR: Ein Großteil ihrer Führungsriege und einige ihrer Mitglieder waren 1994 am Völkermord beteiligt, und sie sehen die gezielte Gewalt gegen Tutsi im Ostkongo als Fortsetzung dieses Völkermords an.

Aber das ist nicht der einzige Faktor. Es sind zahlreiche andere Dimensionen im Spiel, und vieles davon ist politisch, nicht ethnisch. Es handelt sich auch um eine Situation, in der die ruandische Regierung jenseits der Grenze im Osten der Demokratischen Republik Kongo durch eine Reihe von Stellvertreter-Milizen und anderen Akteuren direkt involviert ist, und es geht darum, dass Ruanda versucht, seinen regionalen Einfluss zu vergrößern. Dieses Streben nach Einfluss wird zum Teil von dem Wunsch bestimmt, die Tutsi-Bevölkerung zu schützen. Aber es geht auch um materielle Interessen und politische Macht.

Das Zusammenkommen all dieser verschiedenen Faktoren auf verschiedenen Ebenen macht die Situation im Ostkongo so schwer zu entschlüsseln. Es gibt eine langjährige historische Komponente, es gibt eine ethnische Komponente, aber auch einen politischen Aspekt und eine Dimension der natürlichen und der materiellen Ressourcen. Die Gefahr in vielen Kommentaren besteht darin, sich nur auf einen dieser Faktoren zu konzentrieren und diesen als Hauptaugenmerk zu verwenden, um zu verstehen, was vor sich geht, während in Wirklichkeit alle diese Faktoren eine wirklich wichtige Rolle spielen. Das bedeutet auch, dass die Antworten auf diesen Konflikt nicht simpel sein können. Sie müssen genauso komplex sein wie der Konflikt selbst.

Dieser Konflikt kann nicht militärisch gelöst werden, auch wenn viele der internationalen und regionalen Mächte, die bewaffnete Kräfte vor Ort einsetzen, das hoffen. Es gibt hier nur eine politische Lösung, und die erfordert, dass alle verschiedenen Akteure in der Region zusammenkommen, um die Hauptgründe für diesen Konflikt zu ermitteln und im Dialog Wege zu finden. Dazu gehören auch Verhandlungen auf hoher Ebene zwischen der Regierung Kagame in Kigali und der Regierung von Félix Tshisekedi in Kinshasa. Wenn sich die beiden Regierungen nicht zusammensetzen und einen Weg finden, die Situation auszugleichen, werden wir einen langanhaltenden Konflikt erleben.

Auch auf der Ebene der lokalen Gemeinschaften muss tiefgreifend gearbeitet werden, denn die ethnischen Gegensätze bestehen weiterhin. Wir beobachten eine sehr besorgniserregende Rhetorik und gewalttätige Angriffe gegen die Tutsi-Bevölkerung. Vieles davon ist auf lokale Probleme im Zusammenhang mit Land und natürlichen Ressourcen zurückzuführen. Es muss einen Friedens- und Versöhnungsprozess geben, der unterhalb der Ebene der nationalen Eliten angesiedelt ist und der die Dynamik in den Gemeinden in Angriff nimmt.

All dies muss strukturiert und systematisch angegangen werden. Doch im Moment erleben wir viel zu einfache Antworten auf einen sehr komplizierten Konflikt. Wir müssen die Debatte in Richtung eines tieferen Verständnisses der Geschehnisse und eine dieser Komplexität angemessenen Reaktion lenken.

Der Völkermord in Ruanda war eines der Ereignisse, die dazu dienten, das Konzept der humanitären Intervention zu legitimieren und die Argumente rund um die «Schutzverantwortung» (Responsibility to Protect, R2P) voranzutreiben, die 2005 von der UN-Generalversammlung gebilligt wurde. Was hat dieses Prinzip seitdem im internationalen Recht und in der Politik bewirkt?

Ich denke, dass das Prinzip der «Schutzverantwortung» grundlegend überdacht werden muss. Ursprünglich war es durch den Wunsch motiviert, dass es keine weiteren Ruandas geben sollte, und es entstand vor allem aus der Verlegenheit und Scham der UNO über ihr Versagen bei der Intervention im Jahr 1994. Es ist also das Ergebnis einer notwendigen Abrechnung der internationalen Gemeinschaft mit diesen Versäumnissen.

Von Ende der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre setzte sich nicht nur der Gedanke durch, dass die Vereinten Nationen und die Staaten eine Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung haben, sondern auch, dass es effizientere Formen der Intervention geben muss. Vor allem innerhalb der UNO sollten schnelle Eingreiftruppen zur Verfügung stehen, die auf Konflikte reagieren können, sobald sie entstehen. Es wurden viele wichtige und systematische Überlegungen darüber angestellt, wie man wirksamere internationale Interventionen durchführen könnte. Doch diese Agenda wurde durch den «Krieg gegen den Terror» und die militärischen Interventionen westlicher Streitkräfte im Irak und in Afghanistan in den Hintergrund gedrängt. In jüngerer Zeit wurde diese Agenda durch die Berufung auf die R2P im Rahmen der NATO-Bombardierung Libyens unterwandert. Dies wurde als eine R2P-Intervention angesehen, die nominell dem Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort diente, in Wirklichkeit aber die militärischen und politischen Ziele der NATO-Staaten verfolgte.

Im Jahr 2024 sind wir also an einem Punkt angelangt, an dem viele lokale Gemeinschaften und viele Staaten einfach nicht glauben, dass R2P ein ehrliches Prinzip ist. In den letzten zehn oder 15 Jahren hat sich die Ansicht entwickelt, dass R2P ein Instrument ist, das von mächtigen Regierungen benutzt wird, um ihre militärischen Interventionen in schwächeren Staaten zu rechtfertigen. Das Prinzip der «Schutzverantwortung» war eine gute Idee, wird aber jetzt als zynisches Instrument angesehen. Es muss also ein Umdenken stattfinden. Es muss ein Weg gefunden werden, den Geist von 1994 zu bewahren und die dortigen Fehler zu verstehen, aber über Interventionen nicht nur auf effizientere und effektivere Weise nachzudenken, sondern auch auf eine ethischere Weise, die sich an den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten und nicht an den Interessen mächtiger Staaten orientiert.