Es war ein Ereignis von historischer Tragweite, als im Februar dieses Jahres erstmals eine Vertreterin des nationalistischen Lagers – das heißt der Parteien, die eine Wiedervereinigung des Nordens mit dem Rest des Landes anstreben – als Erste Ministerin Nordirlands vereidigt wurde. Michelle O’Neill, stellvertretende Vorsitzende von Sinn Féin (Wir selbst), stammt aus einer Familie, die im republikanischen Kampf, der in ihrer Partei institutionell zum Ausdruck kommt, verwurzelt ist. Ihr Vater wurde als Mitglied der Provisional IRA (das Produkt einer Spaltung der Irisch-Republikanischen Armee 1969 in «Provisorische» und «Offizielle» IRA – d. Red.) inhaftiert, ein Onkel sammelte Geld für die paramilitärische Gruppe, und zwei ihrer Cousins wurden als Mitglieder der Organisation von britischen Sicherheitskräften angeschossen, wobei einer von beiden seinen Verletzungen erlag.
Dennoch steht die 47-Jährige für eine Generation von Sinn-Féin-Politiker*innen, die zunehmend unbeschwerter von der Last des drei Jahrzehnte während des Nordirlandkonflikts, der sogenannten Troubles, agieren. Dies trug entscheidend dazu bei, dass die Partei bei den Wahlen zum nordirischen Regionalparlament im Mai 2022 neue Stimmen nicht zuletzt aus jüngeren Wählerschichten hinzugewinnen konnte.
Tommy Greene ist freier Journalist in Belfast. Er schreibt u.a. für The Guardian, Tribune und The Irish Times.
O’Neills große Popularität half ihr, die Partei zu ihrem historischen Triumph als erste nationalistische bzw. republikanische Wahlsiegerin in Nordirland zu führen. Dabei profitierte sie von der nach dem Brexit entstandenen Fragmentierung der unionistischen Wählerschaft, also desjenigen Lagers, das im Wesentlichen den Verbleib der Region in der politischen Gemeinschaft mit Großbritannien anstrebt.
Ein Jahrzehnt der Möglichkeiten
Der Aufstieg O'Neills ist auch deshalb so bedeutsam, weil Nordirlands politische Architektur gezielt darauf angelegt wurde, eine dauerhafte unionistische Mehrheit zu garantieren, die durch das «protestantische Parlament und den (…) protestantischen Staat» verwaltet wird. Der damalige BBC-Reporter Lewis Goodall erklärte dies in einem aufschlussreichen Videoclip, der sich schnell im Internet verbreitete: «Nordirland wurde buchstäblich geschaffen und seine Grenze auf diese Weise gezogen, damit so etwas nicht geschieht.»
Nach Jahren des Aufruhrs und einer bewaffneten republikanischen Unabhängigkeitsbewegung wurde Irland im Mai 1921 durch den Government of Ireland Act in zwei selbstverwaltete Gemeinwesen aufgeteilt. Das Gesetz ermöglichte die Gründung des irischen «Freistaats» (dem Vorgänger der heutigen Republik Irland), der 26 der 32 Grafschaften der Insel umfasste, und schuf gleichzeitig Nordirland, in dem die britische und protestantische Herrschaft dauerhaft gesichert werden sollte – ein Modell, das später sowohl in Palästina als auch in Indien nachgeahmt wurde.
Die Ungleichheit, die in Nordirland von Anfang an herrschte, wurde durch jahrzehntelange konfessionelle Diskriminierung von Katholik*innen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – vom Wohnungswesen über den Arbeitsmarkt bis zur Justiz – und durch brutale staatliche Gewalt aufrechterhalten. Das allgemeine Wahlrecht führte die unionistische Regierungsverwaltung erst 1969, als Reaktion auf die Forderungen und den öffentlichen Druck der nordirischen Bürgerrechtsbewegung, ein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der «Funke», der durch diese und andere Schikanen seitens der offiziellen unionistischen Regierung entzündet worden war, bereits zu einem «Flächenbrand» ausgeweitet, und die Eskalation der Gewalt in der gesamten Region konnte nicht mehr eingedämmt werden. Der Einmarsch britischer Truppen im selben Jahr – ein verzweifelter Versuch, den Konflikt unter Kontrolle zu bringen – verschlimmerte die Lage noch, und nach einer Reihe von Massakern, die die Armee Anfang der 1970er Jahre verübte, brach ein landesweiter Guerillakrieg aus.
Der Aufstieg von Sinn Féin im Norden markierte einen entscheidenden Wendepunkt im Konflikt, da er den Bestrebungen des irischen Republikanismus eine Plattform innerhalb der reformierten politischen Institutionen des nordirischen Staates bot und einen Ausweg aus einem unlösbaren und zunehmend schmutzigen konfessionellen Konflikt aufzeigte.
Nach ihrem ersten Wahlerfolg während des Hungerstreiks der IRA 1981 lag die Partei jahrelang weit hinter der gemäßigt nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP). Ihre führenden Vertreter*innen unternahmen erste zaghafte Schritte auf dem langen Weg der Abkehr vom bewaffneten Kampf, der 1994 im Waffenstillstand der IRA und 1998 im Karfreitagsabkommen gipfelte.
Die Position der SDLP und der Ulster Unionist Party als gemäßigte, jeweils hegemoniale Kräfte innerhalb des grünen (irischen) und orangefarbenen (pro-britischen) Lagers geriet unter dem neuen, von ihnen mit ausgehandelten Abkommen ins Wanken, da Sinn Féin und die ultrakonservative Democratic Unionist Party (DUP) ihre Rivalen rasch verdrängten. Im Rahmen der neuen Machtverteilung in Nordirland begann für Sinn Féin 2007 eine unruhige Zeit der dezentralen Regierung, die von wiederholten Pattsituationen und institutioneller Lähmung geprägt war.
Während diese Periode zu einer gewissen Desillusionierung in Teilen der republikanischen Basis führte, zahlte Sinn Féin politisch einen relativ geringen Preis. In den folgenden Jahren fiel ein weiteres vermeintliches Wachstumshindernis, als die Partei während des Brexit-Prozesses, der die nationale Frage wieder in den Mittelpunkt der britischen Politik rückte, einen geschickten Führungswechsel vollzog.
«Wie die Scottish National Party verfügt Sinn Féin über das seltene Privileg, sich gleichzeitig als Regierungspartei mit einer kurzfristigen politischen Agenda und als Protestpartei mit einem übergeordneten, langfristigen Ziel präsentieren zu können», schrieb der Journalist und Autor Dan Finn nach dem historischen Wahlergebnis der Partei im Mai 2022. Seitdem ist Sinn Féin in Nordirland auf kommunaler Ebene die stärkste Partei und dürfte nach ihrem Wahlsieg 2020 auch bei der 2025 bevorstehenden Parlamentswahl in der Republik Irland die meisten Sitze erringen. Damit hat sie gute Chancen, nächstes Jahr sowohl in Dublin als auch in Belfast die Regierung zu stellen.
Mary Lou McDonald, die 2018 den Parteivorsitz von Gerry Adams übernahm, erklärte Anfang des Monats gegenüber Sky News, sie könne sich «ein Referendum noch in diesem Jahrzehnt vorstellen», was darauf hindeutet, dass eine Abstimmung über die irische Wiedervereinigung noch vor 2030 stattfinden könnte. O’Neill bezeichnete dieses neue politische Kapitel auch als «Jahrzehnt der Möglichkeiten».
Das «Neue Irland» Wirklichkeit werden lassen
Dennoch bleibt der Partei, soll es zu einem Referendum und dem gewünschten Ergebnis kommen, noch viel zu tun. Dies erfordert nicht weniger als einen beschleunigten konstitutiven Prozess, der von sozialdemokratischen Reformen angetrieben wird, wie es sie in Europa seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Die Bewältigung der akuten Wohnungskrise und die Schaffung eines öffentlichen Gesundheitssystems in einem der weltweit größten Steuerparadiese für Unternehmen sind lediglich zwei der vielen notwendigen Schritte, um Wähler*innen angesichts der Aussicht auf eine Stabilisierungsphase im Vereinigten Königreich unter einer Labour-Regierung von Keir Starmer von der größeren Attraktivität eines vereinten Irlands zu überzeugen.
Sinn Féin hat in den letzten zehn Jahren ihr politisches Geschick unter Beweis gestellt, sei es als Oppositionspartei im Süden der Insel oder während der langen Lähmung der nordirischen Regionalregierung durch die Nachwirkungen des Brexit und das Patt mit der DUP. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sie in der Lage sein wird, diese Unterstützung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig zwei Landesteile mit bemerkenswert begrenzten Verwaltungskapazitäten zu lenken.
Die derzeitige Regierung in Dublin hat dem Norden für den Zeitraum bis 2030 bis zu einer Milliarde Euro für verschiedene Infrastruktur- und Beschäftigungsinitiativen zugesagt. Nachdem die Partei in Belfast die Schlüsselministerien für Wirtschaft und Finanzen besetzt hat, könnte eine von Sinn Féin geführte Regierung südlich der Grenze dazu beitragen, erhebliche grenzüberschreitende Ausgaben zu koordinieren, um ihre Ziele in den kommenden Jahren zu erreichen. In naher Zukunft wird sie jedoch dem Haushaltsdruck aus Westminster ausgesetzt sein, da sie sich der Forderung nach Wassergebühren und anderen schmerzhaften Maßnahmen zur Erhöhung der Staatseinnahmen widersetzt und gleichzeitig eine großzügigere Finanzierung für die am stärksten benachteiligte Region des Vereinigten Königreichs fordert.
Der intensive Wahlkampfzyklus hat auch gezeigt, dass die Partei auf zwei verschiedenen Pferden reitet: Im Süden der Insel positioniert sie sich als rebellische, linkspopulistische Kraft, während sie im Norden als gemäßigte, kompromissbereite Kraft in einer Koalitionsregierung auftritt. Von der Wohnungs- bis zur Umweltpolitik zeigen sich bemerkenswerte Diskrepanzen zwischen den politischen Positionen, die die Partei in den beiden Regionen vertritt. Während sie beispielsweise in Dublin gegen sogenannte Geierfonds wettert, wirbt sie in Belfast für ausländische Direktinvestitionen.
Bisher ist Sinn Féin an diesen offensichtlichen Widersprüchen nicht zerbrochen. Wenn überhaupt, dann hat ihr jüngster Einbruch bei den Umfragen in Südirland rechtspopulistischen Kandidat*innen Wählerstimmen verschafft.
Einmal mehr spielt die Partei eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der verfassungspolitischen Zukunft der Insel. Die vor ihr liegende Aufgabe ist gewaltig, und der Ausgang könnte sich bis zu einem gewissen Grad ihrer Kontrolle entziehen. Wenn es Sinn Féin jedoch gelingt, die versprochenen Maßnahmen durchzusetzen und damit der Mehrheit der Gesellschaft auf der ganzen Insel konkrete Verbesserungen und Sicherheiten zu bieten, könnte das von ihr versprochene «Neue Irland» eine überzeugendere Option werden.
Übersetzung aus dem Englischen von Camilla Elle und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.