Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Europa - Europa2024 «Wir müssen den Menschen Hoffnung geben.»

Hanna Gedin von der schwedischen Linkspartei über die Herausforderungen vor der Europawahl

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Hanna Gedin, Duroyan Fertl,

Hanna Gedin, EU-Kandidatin für die schwedische Linkspartei Vänsterpartiet
«Wir haben drei Prioritäten in diesem Wahlkampf: Klimawandel, gute und sichere Arbeitsplätze, und die Lebenshaltungskosten-Krise.» Hanna Gedin, EU-Kandidatin für die schwedische Linkspartei Vänsterpartiet, Foto: Agnes Stuber

Im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 führt die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Reihe von Interviews mit Parteien und Kandidat*innen aus der ganzen EU durch, um den Wahlkampf, ihre politischen Forderungen und die Herausforderungen für die politische Linke in den jeweiligen Ländern und in Europa zu diskutieren. Duroyan Fertl sprach mit Hanna Gedin, der Nummer zwei auf der Liste der schwedischen Linkspartei Vänsterpartiet, über die aktuellen Prioritäten der schwedischen Linken.

Duroyan Fertl: Welche Prioritäten setzt sich die Vänsterpartiet für diese Europawahl? Was sind die wichtigsten Wahlkampfthemen und Forderungen?

Hanna Gedin: Wir haben drei Prioritäten in diesem Wahlkampf: Klimawandel, gute und sichere Arbeitsplätze, und die Lebenshaltungskosten-Krise. In mancher Hinsicht ist die EU beim Klimaschutz progressiver als die rechte schwedische Regierung, die gerade klimapolitische Errungenschaften der letzten Jahre wieder zunichtemacht. Dennoch verbietet das auf EU-Ebene vorherrschende neoliberale Dogma staatliche Beihilfemaßnahmen für die gewaltigen Investitionen, die für den grünen Wandel nötig sind. Es muss den EU-Mitgliedstaaten erlaubt werden, massiv in eine gerecht gestaltete sozial-ökologische Transformation, in die Schaffung von Arbeitsplätzen und in eine bessere Lebensqualität für viele Menschen zu investieren. Gleichzeitig muss die EU aufhören, die fossile Industrie zu subventionieren.

Beim Thema gute Arbeitsplätze geschieht die Priorisierung von Kapital und Wettbewerb in der EU zu Lasten der Qualität der Arbeit. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Debatte um die Richtlinie zur Plattformarbeit. Wir wollen außerdem die Regeln für das öffentliche Beschaffungswesen ändern, die den niedrigsten Preis zum Hauptkriterium für die Auftragsvergabe gemacht haben, was zu Sozialdumping führt. Zusammen mit den europäischen Gewerkschaften fordern wir eine Erneuerung des öffentlichen Vergabewesens, die Sozialklauseln und Tarifverhandlungen in den Vordergrund stellt.

Wir müssen eine neue Gesellschaftsform aufbauen, von der alle Menschen profitieren.

Letztlich sehen wir bei den Lebenshaltungskosten, dass die Inflation zu mehr Armut und sozialer Ungerechtigkeit geführt hat, während gleichzeitig Schwedens Großkonzerne historische Gewinne erzielen. Wir müssen eine neue Gesellschaftsform aufbauen, von der alle Menschen profitieren statt nur einige wenige. Ein tiefliegender Grund für die Wohnungskrise in Schweden – die durch Wohnungsknappheit und steigende Mieten verursacht wird – ist, dass Wohnraum auf dem europäischen Markt schlicht als Ware angesehen wird, was uns daran hindert, staatliche Beihilfen für den Bau neuer Wohnungen zu vergeben und öffentliche Wohnungsunternehmen dazu zwingt, die Marktregeln einzuhalten. 

Was sind Deiner Meinung nach derzeit die größten Herausforderungen für die Linke auf europäischer Ebene? 

Das in der EU verankerte System des Marktliberalismus hat den demokratischen Entscheidungsprozess – und die Diskussion über eine bessere Zukunft für die Menschen – in den Hintergrund gerückt und die Kontrolle dem Markt überlassen. Das ist nicht nur schlecht für die Gesellschaft, sondern auch für den Glauben und das Vertrauen der Menschen in Politik und kollektives Handeln sowie in einen weitreichenden, positiven Wandel. Die Klimakrise stellt eine akute, existenzielle Bedrohung für uns alle dar, und es ist an der Zeit für die Menschen, ihre Zukunft wieder in die eigene Hand zu nehmen. Wir müssen den Menschen Hoffnung schenken.

Hanna Gedin ist seit 1998 Mitglied der Vänsterpartiet und kandidiert auf Listenplatz 2 für die Partei bei den Europawahlen. Im letzten Jahr arbeitete sie als politische Beraterin für Nikolaj Villumsen, MdEP von Enhedslisten und Malin Björk, MdEP. Zuvor hielt sie zahlreiche wichtige Positionen in der Partei (Mitglied des Parteivorstandes und stellvertretende Parteisekretärin 2017 - 2022, stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Malmö u.a.).

Hier gibt es natürlich eine Überschneidung mit unseren Wahlkampfthemen. Die Preisbildung für Strom auf dem EU-Markt bremst den grünen Wandel in Schweden und führt dazu, dass der in Schweden erzeugte günstige grüne Strom zum höchsten europäischen Marktpreis verkauft wird, wodurch unsere Stromrechnung weiter gestiegen ist. Dann ist da die schwedische Eisenbahn, die stark privatisiert wurde und sich in desolatem Zustand befindet, zugleich aber sehr teuer und für große Teile des Landes unzugänglich ist. Mit anderen EU-Regeln wäre es in Schweden möglich, massiv in den öffentlichen Verkehr, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Senkung der Preise und den Umweltschutz zu investieren.

Ein weiteres gewaltiges Problem ist natürlich der Aufstieg der extremen Rechten in der gesamten EU. Dieses Problem betrifft nicht nur die Linke, sondern auch all die vielen Menschen, die von deren rassistischer, frauenfeindlicher Politik betroffen sind und sein werden. Die extreme Rechte ist sehr gut darin, Sündenböcke und vermeintliche Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Sie schafft es, sich ständig ins Zentrum der Debatte zu stellen, was uns linken Parteien schwerfällt. Wir müssen dringend einen Weg finden, stärker die Agenda zu setzen.

Die schwedische Regierung ist derzeit dank der Unterstützung der rechtsextremen Schwedendemokraten (SD) im Amt. Welchen Einfluss übt die extreme Rechte dadurch aus?

Obwohl die Schwedendemokraten formal nicht Teil der schwedischen Regierung sind, sind sie die größte rechte Partei des Landes und haben enormen Einfluss auf die Regierungspolitik bei Themen wie Migration, Kriminalität und ethnische Zugehörigkeit. Erwähnenswert ist auch, dass die SD nicht nur rechtsextrem ist – sie wurde von waschechten Nazis gegründet und ist damit noch extremer als viele andere europäische Parteien am rechten Rand. 

Vor der Wahl nutzte die SD bewusst eine gemäßigtere Rhetorik bei Themen wie Renten und Arbeitslosigkeit, aber jetzt scheint sie das weniger zu kümmern. Die Regierung schränkt die Rechte von Arbeitslosen und jenen die krankheitsbedingt nicht arbeiten können ein, und hat bereits zahlreiche neue Gesetze eingeführt, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wären. Das ist für viele Schwed*innen zutiefst beunruhigend. Eines dieser Gesetze ermöglicht die Schaffung von sogenannten «Durchsuchungszonen», in denen die Polizei jede Person ohne Verdacht auf ein Verbrechen durchsuchen darf – es ist wenig überraschend, dass es sich dabei um Gegenden handelt, in denen viele Migrant*innen leben. Daneben werden auch Gesetze verabschiedet, die die finanzielle Unterstützung für die Zivilgesellschaft drastisch einschränken. Es gibt viele schlimme Entwicklungen.

Gibt es großen Widerstand gegen diese Politik?

Natürlich wird teils dagegen mobilisiert, aber ich persönlich habe den Eindruck, wir leiden an einer Art Massenpsychose. Vielleicht liegt es an der Pandemie, auf die so schnell der Krieg folgte, dann die NATO-Mitgliedschaft und so weiter. Es scheint, als würden die Menschen den Blick mehr nach innen richten und sich nicht mehr so stark mobilisieren wie zuvor. Mit einer großen Ausnahme: in Schweden gibt es riesige Demonstrationen gegen die Gräueltaten, die in Gaza begangen werden.

Es gibt sehr besorgniserregende Meinungsumfragen, denen zufolge insbesondere junge Männer sich politisch immer weiter nach rechts bewegen, bis hin zum Rechtsextremismus. Ich fürchte, das alles könnte Teil eines allgemeinen Rechtsrucks sein. Zugleich belegen jedoch andere Meinungsumfragen, dass eine Mehrheit der Menschen in Schweden sich politisch eher links als rechts verortet. Diese Art von Verschiebung gab es seit Jahren nicht, sodass die aktuelle Lage tatsächlich schwer einzuschätzen ist.

Was sind im Moment die wichtigsten politischen Debatten in Schweden? 

Wie gesagt, wenn man sich ansieht, wofür die Menschen auf die Straße gehen, dann ist das Palästina, da gibt es regelmäßig Massendemonstrationen. Dennoch verteidigen die Regierung und der Außenminister das Vorgehen Israels weiter als verhältnismäßig. Dann ist da der große Arbeitskampf rund um Tesla: Viele Arbeitnehmer*innen in Schweden, Dänemark und Finnland schließen sich dem Kampf zur Verteidigung der Kollektivverhandlungen und des nordischen Modells an. Das sind die zwei Hauptthemen, die momentan die Menschen mobilisieren.

Wir als Linke suchen weiter nach einer besseren Strategie und es ist wichtiger denn je, die richtigen Prioritäten zu setzen. Es muss für die Menschen klarer ersichtlich werden, wofür wir stehen. Deshalb versuchen wir, uns auf ganz konkrete Dinge im Lebensalltag der Menschen zu konzentrieren, wie Renten und die Kürzungen in Gesundheitswesen und Bildung durch die Regierung. Außerdem nimmt die Ungleichheit in Schweden zu, immer mehr Menschen haben keine soziale Sicherung mehr und müssen für ihr Essen bei der Tafel anstehen. Die Schlangen werden immer länger, da sie sich keine Lebensmittel leisten können. Das ist nichts Neues in Schweden, aber die Lage hat sich sehr verschärft.

Wir versuchen, unsere Prioritäten auf die Agenda zu setzen, aber das ist sehr schwierig angesichts des NATO-Beitritts. Zwar dominiert das Thema die politische Kommunikation, aber es gab keine richtige gesellschaftliche Debatte darüber. Dazu kommen der Krieg in der Ukraine und populistische Vorschläge der extremen Rechten, sodass es für uns schwer ist, die politische Agenda zu prägen.

Schweden trat nach einer langen Zeit der Ungewissheit kürzlich der NATO bei. Wie steht Vänsterpartiet zur NATO-Mitgliedschaft und dem Kampf gegen Krieg und Aufrüstung?

Es gibt zwar eine Friedensbewegung in Schweden, aber die Mehrheitsmeinung zeigt sich angesichts des russischen Angriffs klar solidarisch mit der Ukraine. Die Invasion war ein Schock für die schwedische Gesellschaft und wahrscheinlich stand der NATO-Beitritt deshalb kaum zur Debatte. Vänsterpartiet ist weiter gegen die Mitgliedschaft, aber daran lässt sich momentan nicht rütteln. Also konzentrieren wir uns auf andere Aspekte, z. B. dass die schwedische Regierung es nicht geschafft hat, den USA die Zusage abzuringen, keine Atomwaffen oder Truppen auf schwedischem Boden zu stationieren. Die Regierung hat quasi alles akzeptiert – sogar mehr noch als Dänemark und Norwegen, so scheint mir, wo es immerhin unilaterale Abkommen zum Verbot von Atomwaffen in Friedenszeiten gibt.

Die öffentliche Meinung in Schweden ist klar gegen Atomwaffen, aber der grausame Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Debatte in gewissem Maße in den Hintergrund gerückt. Jetzt wo Schweden tatsächlich der NATO beigetreten ist und es folglich zu spät ist, wird angefangen darüber zu diskutieren. Den Leuten wird mit Sorge bewusst, dass das bedeuten kann, dass unsere Kinder in andere Länder in den Krieg ziehen müssen und US-Soldat*innen in Schweden stationiert werden. Aber all das wurde vor der Entscheidung nicht thematisiert. Rückblickend wurde der NATO-Beitritt nicht ausreichend diskutiert. Es geht dabei nicht nur um Aufrüstung und die NATO, sondern auch darum, dass Schweden seine eigene Außenpolitik eigenständig gestaltet, worauf wir seit langem stolz waren. Das ist jetzt vorbei.

Bald steht der Parteitag der Vänsterpartiet an, noch vor der Europawahl. Kannst Du uns sagen, welche Hauptthemen dort diskutiert werden?

Ja, unser Parteitag dauert fünf Tage, das ist sehr lang. In der Pandemie haben wir auch Parteitage durchgeführt, aber immer digital, und wir konnten nicht so sehr in die Tiefe gehen wie wir wollten, deshalb haben beschlossen, dass dieser Parteitag fünf Tage dauern sollte. Auf den Parteitagen von Vänsterpartiet wird vieles entschieden, das wird diesmal nicht anders. Es wird zahlreiche Abstimmungen geben – so sollte das auch sein – und es liegen schon über 1.000 Anträge und Änderungsanträge vor. Wir werden ein komplett neues Parteiprogramm beschließen – das ist unser wichtigstes Dokument. Das aktuelle Programm ist recht lang und sehr theorielastig. Das neue soll kürzer und näher an der Alltagspolitik sein.

Ich denke, bei der Debatte auf dem Parteitag wird es auch darum gehen, wofür wir als Partei stehen und was uns von anderen unterscheidet. Wir sind eine sozialistische, feministische, grüne Partei – die Frage ist, wie wir das vermitteln. Wir werden auch über die NATO und die EU sprechen. Unser aktuelles Programm sieht einen EU-Austritt vor und kurz vor Europawahlen werden wir immer gefragt, ob wir tatsächlich austreten wollen. Uns stellt sich also erneut die Frage, wie wir unsere Position besser zum Ausdruck bringen. Wie können wir unsere Kritik an der EU beibehalten und gleichzeitig einen «Schwexit» als Option für die Zukunft offenhalten, auch wenn wir ihn nicht jetzt sofort fordern?

Ein großes Thema wird natürlich der Klimawandel sein, dazu gibt es zahlreiche Anträge und Änderungsanträge. Es wird historisch und herausfordernd. Manche sagen, wir sind verrückt, so einen riesigen Parteitag zu veranstalten. Es ist außerdem besonders schwierig, diese Art von Parteitag ausgerechnet einen Monat vor der Europawahl zu veranstalten, weil wir nicht wissen, was man über uns schreiben wird und was dabei herauskommt. Es ist also in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung.

Vänsterpartiet nahm jüngst an einem Treffen der europäischen linken Parteien in Kopenhagen teil. Was erwartest Du von einer engeren Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften in Europa?

Ich sehe die engere Zusammenarbeit zwischen progressiven linken Parteien in Europa und der EU als Zeichen unserer Stärke. Wie Du vielleicht weißt, haben wir bei dem Treffen in Kopenhagen ein Zehn-Punkte-Programm für die Europawahl beschlossen und es war erfrischend zu sehen, dass all die linken Parteien bei vielen Themen einer Meinung sind.

Natürlich variieren die nationalen Kontexte, aber es ist eine Stärke, dass wir dieselbe Sichtweise auf die Gesellschaft und die Probleme haben. Ich denke, die Linke könnte bei dieser Wahl mehr Unterstützung erhalten. Insgesamt sehe ich das sehr positiv. Ich persönlich pflege eine gute Zusammenarbeit mit verschiedenen linken Parteien in Europa und rege die schwedische Linke dazu an, mehr von den Erfahrungen anderer zu lernen.

Momentan steht die Vänsterpartiet in den Umfragen ganz gut da. Bist Du zuversichtlich, bei den Wahlen dieses Mal einen zweiten Sitz hinzuzugewinnen?

Das ist unser Ziel – vor längerer Zeit hatten wir drei Abgeordnete, aktuell ist es nur eine. Man sollte den Umfragen allerdings nie trauen. Manche entscheiden sich am Wahltag anders oder es entfacht sich eine Debatte über ein unvorhergesehenes Thema, das auf einmal zum Maß aller Dinge wird. Wir wissen es also nicht, aber wir wollen zwei Mandate gewinnen. Das wäre ein tolles Ergebnis und zudem ein guter Ausgangspunkt, um bei der nächsten Wahl in Schweden 2026 eine neue Regierung zu bilden. Es wäre eine klare Ansage an Rechte und Rechtsextreme, dass ihre Zeit vorbei ist.