Nachricht | Krieg / Frieden - Nordafrika - Palästina / Jordanien Ägypten: Vom Vermittler zum Kläger

Was steckt hinter der Entscheidung Ägyptens, sich der südafrikanischen Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof anzuschließen?

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Ein Lager für Binnenvertriebene nahe der Grenze zu Ägypten in Rafah im südlichen Gazastreifen, 09.05.2024. Foto: IMAGO / APAimages

Als Israel seine Militäroperation in Rafah fortsetzte, kündigte das ägyptische Außenministerium am 12. Mai plötzlich seine «Absicht an, offiziell der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) beizutreten». Dieser Schritt nannten einige Expert*innen «beispiellos», während Alon Liel, ehemaliger Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, ihn als «unglaublichen diplomatischen Tiefschlag für Israel» bezeichnete. Manche Kommentator*innen fragten, ob sich nun eine militärische Konfrontation zwischen den beiden Staaten anbahne.

Hossam el-Hamalawy ist ein ägyptischer Journalist und Aktivist. Gegenwärtig lebt er in Berlin. Er publiziert regelmäßig auf Substack and Twitter.

Ist die ägyptische Erklärung vor dem IGH eine Abkehr von seiner traditionellen Rolle als Friedensvermittler? Bereitet sich Kairo etwa gar auf einen neuen Krieg mit Tel Aviv vor? Die Antwort lautet nein. Bei der Erklärung handelt es sich vielmehr um den verzweifelten diplomatischen Schachzug eines Regimes, dessen politische Bedeutung und regionale Macht immer weiter schwindet.

Die Phase der Annäherung

Die Feindseligkeiten zwischen Ägypten und Israel endeten, als der damalige ägyptische Präsident, Anwar as-Sadat, 1979 einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete. Damit führte er sein Land aus der Anbindung an die Sowjetunion heraus und schmiedete eine Allianz mit den USA. Obwohl er im Westen als Friedensstifter und Vordenker gefeiert wurde, war Sadat in Wirklichkeit ein Diktator, der bereits 1974 eine neoliberale Politik einführte. Nur drei Jahre später lösten seine Sparmaßnahmen einen Volksaufstand aus, der beinahe zu seinem Sturz geführt hätte. Der Friedensschluss mit Israel markierte in diesem Kontext einen verzweifelten Versuch, sein Regime zu konsolidieren und die Bedrohung durch einen Putsch der Armee zu neutralisieren. Als er zwei Jahre später von Offizieren, die dem Islamischen Dschihad nahestanden, ermordet wurde, atmeten die Volksmassen erleichtert auf.

Sadats Nachfolger wurde sein Vizepräsident, der ehemalige Luftwaffenkommandeur Hosni Mubarak. Drei Jahrzehnte lang regierte Mubarak mit eiserner Faust und einem weithin gefürchteten Sicherheitsapparat. Er hielt sich indes an Sadats Verträge und positionierte Ägypten als Vermittler zwischen Israel und den arabischen Staaten. Diese Vermittlungsaufgabe übernahm sein Allgemeiner Nachrichtendienst (GIS), der von dem berüchtigten Direktor Omar Suleiman geleitet wurde. Die zunehmend von US-amerikanischer Militärhilfe abhängige ägyptische Armee schützte die Grenze zu Israel, sicherte den Seeverkehr des Suezkanals und diente als Hilfstruppe im Golfkrieg 1991. Ägyptische Offiziere wurden in den USA ausgebildet, darunter auch die Generäle, die später den Militärputsch von 2013 anführten. Heute ist Ägypten nach Israel der zweitgrößte Empfänger von US-Auslandshilfe.

Mubaraks Beziehungen zu Israel wurden weitgehend als «kalter Frieden» bezeichnet. Als Herrscher über das bevölkerungsreichste arabische Land war Mubarak sich der starken pro-palästinensischen Stimmung unter den Ägypter*innen durchaus bewusst. In seiner Eigenschaft als Präsident besuchte er Israel nur ein einziges Mal, und zwar um an der Beerdigung von Yitzhak Rabin teilzunehmen. Überdies gewährte er der staatlichen Presse Raum für Kritik an Israel und den USA und erlaubte seinen Außenministern, hin und wieder feurige Erklärungen abzugeben, in denen sie israelische Gräueltaten anprangerten. Anschließend ging man jedoch rasch wieder zur Tagesordnung über.

Der Arabische Frühling und die Zeit danach

Mubarak wurde am 11. Februar 2011 nach einem landesweiten Aufstand gestürzt und durch den Obersten Rat der Streitkräfte abgelöst. Obwohl westliche Beobachter*innen die ägyptische Revolution immer wieder als eine rein innenpolitische Angelegenheit darzustellen versuchten, war einer der Katalysatoren des Protests die Wut der Bevölkerung auf Mubaraks Außenpolitik, die als unterwürfig gegenüber Israel und den USA empfunden wurde. Bei fast allen Mobilisierungen hissten Demonstrant*innen auf dem Tahrir-Platz palästinensische Flaggen und forderten den Abbruch der Beziehungen zu Tel Aviv; zwei Mal stürmten sie sogar die israelische Botschaft.

Der GIS setzte seine Vermittlungsbemühungen zwischen Israel und Palästina fort, während Kairo – ermutigt durch den Aufstand, der zu einem Vorbild in der Region und anderen Teilen der Welt wurde – seine «Soft Power» ausbauen konnte. Als 2012 Krieg in Gaza ausbrach, öffnete der demokratisch gewählte Präsident, Mohammed Mursi, den Grenzübergang Rafah. Damit ermöglichte er den Import von Hilfsgütern in die palästinensische Enklave und erleichterte die Evakuierung von Verletzten aus dem Gazastreifen. Er half auch bei der Vermittlung eines Waffenstillstands, woraufhin die US-Regierung ihn als wichtigen Stabilitätsanker der Region. 

Der Militärputsch von 2013 unter der Führung des damaligen Verteidigungsministers, Abdel Fattah el-Sisi, läutete eine neue Ära in der Außenpolitik des Landes ein, in deren Verlauf dessen regionale Macht immer weiter schwand. Obwohl Sisi anfangs durchaus durch die Bevölkerung unterstützt wurde, führten seine verfehlte Wirtschaftspolitik und die harte politische Unterdrückung dazu, dass das Regime bald keine breite Unterstützung in der Gesellschaft mehr besaß. Sisis Aufstieg an die Macht wurde durch regionale und internationale Mächte – vor allem durch die arabischen Golfstaaten und Israel – ermöglicht, die in der ägyptischen Revolution eine Bedrohung ihrer Interessen sahen.

Um Sisis Regime zu festigen, transferierten die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien Milliarden nach Ägypten, während Israel diplomatische und militärische Unterstützung leistete. Die ägyptischen Medien, die nach dem Staatsstreich unter die Kontrolle des GIS gerieten, hetzten regelmäßig gegen die Palästinenser*innen, und im Gaza-Krieg 2014 machte Kairo sich zum Komplizen des israelischen Angriffs. Der Grenzübergang Rafah wurde für längere Zeit geschlossen, was das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung noch vergrößerte.

Nachdem Sisis verfehlte Aufstandsbekämpfung das ägyptische Militär 2017 gezwungen hatte, die Hamas um Hilfe zu bitten, um die Grenze zu überwachen und den Zustrom von salafistischen Dschihadisten in den Sinai zu unterbinden, verbesserten sich die Beziehungen zwischen Kairo und den islamistischen Machthabern des Gazastreifens etwas. Später versuchte der GIS, seine frühere Rolle als Vermittler zwischen Palästina und Israel wiederaufzunehmen, um zu beweisen, dass Kairo immer noch politisch relevant und einen Nutzen für Joe Bidens neue Regierung sei.

Der Ausbruch des aktuellen Krieges am 7. Oktober 2023 hat gezeigt, wie marginal Kairo unter Sisi geworden ist. Ägypten versuchte mehrfach vergeblich, Waffenstillstandsvereinbarungen zu vermitteln. Katar hingegen scheint eine wichtigere Rolle bei der Sicherung des bislang einzigen (vorübergehenden) Waffenstillstands und des Geiselabkommens zu spielen.

Anders als in früheren Kriegen konnte Ägypten diesmal seine Souveränität über den Grenzübergang Rafah nicht ausüben. Derzeit können Hilfsgüter nur mit Israels Erlaubnis in den Gazastreifen gelangen. Die Namen jener Bewohner*innen des Gazastreifens, die nach Ägypten ausreisen wollen, müssen zuvor mit Israel besprochen werden. Auch Abwürfe von Hilfsgütern über dem Gazastreifen können nur mit israelischer Genehmigung erfolgen. In den Worten eines Experten: «Ägypten war während des israelischen Krieges gegen Gaza nicht im Einsatz».

Obwohl Kairo seit Kriegsbeginn regelmäßig bekräftigt, dass eine israelische Übernahme der Philadelphi-Passage einen Bruch des Friedensvertrags von 1979 darstellen würde, stürmte Israel am 8. Mai dennoch Rafah, übernahm die palästinensische Seite des Grenzübergangs und hisste die israelische Flagge. Ägypten sah hilflos zu. Das Außenministerium gab eine Erklärung ab, in der es die Operation verurteilte, ohne jedoch von einem Vertragsbruch zu sprechen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, schickte Israel am selben Tag eine Delegation auf «mittlerer» Ebene nach Kairo, um den Waffenstillstandsvorschlag der Hamas zu bewerten.

Verärgert über Israels Rafah-Offensive, die die Palästinenser*innen in den Sinai zu treiben droht, beschloss Ägypten, den Krieg der Worte zu eskalieren. In den GIS-geführten Medien nahm die israelfeindliche Rhetorik zu, und die Regierung mobilisierte am 17. Mai nach den Freitagsgebeten in Kairo und mehreren Provinzen kleine Proteste «zur Unterstützung von Palästina und Sisi». Die GIS-gesteuerten Medienkanäle berichteten über die absurden Mobilisierungen, deren Ziel darin bestand, der Welt die Botschaft zu übermitteln, dass auf der ägyptischen Straße eine gewisse Wut herrschte, wenn auch bereinigt und zur Unterstützung des Regimes.

Ägypten hat sich geweigert, den Import von Hilfsgütern in den Gazastreifen über den Rafah-Übergang mit Israel zu koordinieren, da Tel Aviv eine «inakzeptable Eskalation» betrieben habe, berichtete der von der GIS betriebene Satellitenfernsehsender Alqahera News am Folgetag unter Berufung auf einen hohen Beamten.

Angst vor dem Ende des Status quo

Am darauffolgenden Tag verkündigte Ägypten seine Absicht, die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH offiziell zu unterstützen. Zusammen mit der Türkei und Kolumbien wird das Land nun offiziell beantragen, dem Verfahren beizutreten. Dennoch ist beachten, dass es sich zunächst (zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels) noch lediglich um eine «Absicht» handelte. Zudem bleibt unklar, was «Absicht» eigentlich bedeutet. Wird Ägypten eine beratende Stellungnahme abgeben? Wird Kairo ein Kläger in dem Fall sein? Das ägyptische Außenministerium hat diese Punkte absichtlich vage gehalten.

Der Krieg der Worte dürfte in den kommenden Tagen eskalieren, aber er wird sich auf Worte beschränken – ohne Androhung militärischer Aktionen oder der Aufkündigung des Friedensvertrags. Tatsächlich hat Israel dem ägyptischen Militär bereits erlaubt, seine Truppen entlang der Grenze zu verstärken – ein klares Signal, dass es im ägyptischen Militär keine wirkliche Gefahr sieht. Tatsächlich tauchten in den sozialen Medien Videos auf, die zeigen, wie ägyptische Soldaten Jugendliche aus dem Gazastreifen, die verzweifelt über die Grenze geflohen sind, misshandeln. In Kairo und anderswo haben die ägyptischen Sicherheitsdienste zahlreiche Studierende verhaftet und Hausdurchsuchungen bei Aktivist*innen der Palästina-Solidaritätsbewegung durchgeführt.

Darüber hinaus sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und Ägypten nicht beeinträchtigt, sondern haben sich sogar noch vertieft. Ägypten ist von israelischen Gasimporten abhängig, deren Menge immer weiter zunimmt. Fünf Monate nach Kriegsbeginn unterzeichnete die ägyptische Regierung ein Abkommen, das eine Verdoppelung dieser Gasimporte bis 2025 vorsieht. Unter der vorgetäuschten Empörung und dem Getöse scheinen die Dinge unverändert zu bleiben. Anstatt den Status quo umzustoßen, ist Kairos Schritt in Wirklichkeit ein verzweifelter Versuch, ihn zu erhalten.