Nachricht | Geschichte «Es gibt kein besseres Mittel, als eine marxistische Bildungsbewegung ins Leben zu rufen.»

Hermann Duncker – Bildungsarbeiter, Spartakist und Gewerkschaftslehrer

Herman Duncker (24. Mai 1874 - 22. Juni 1960), Mitbegründer der MASCH und von 1949 bis 1960 Rektor der Gewerkschaftshochschule« Fritz Heckert» in Bernau

Von früher Jugend an war Hermann Duncker an allen Orten seines Lebens – in Leipzig, Stuttgart, Berlin, Gotha, an den Orten des Exils Kopenhagen, Paris und New York und nach der Rückkehr in Bernau bei Berlin und in den Jahren von 1891 bis Mitte der 1920er streckenweise im wahrsten Sinne als «Wanderprediger» – «bildnerisch» im mehrdeutigen Sinne unterwegs: seine musikalische und literarisch-kulturelle Bildung flossen in seine hauptberufliche marxistische Bildungsarbeit ein, in politische Publizistik u.a. in der SPD-nahen «Leipziger Volkszeitung», der «Roten Fahne» und «Internationale» sowie in seine gewerkschaftliche Lehrtätigkeit der letzten Jahre, aber auch in seine Leitung von Arbeiterchören, die Liedbegleitung am Klavier sowie seine Gedichte. Und die Ergriffenheit in Sachen marxistischer Theorie rührte daher, «daß ich so frühzeitig in die Gedankenwelt von Marx und Engels eingeführt wurde – das hat mein Leben bestimmt. Ich habe noch Bebel und Wilhelm Liebknecht lauschen, habe mit Rosa Luxemburg und Franz Mehring plaudern dürfen. Daß ich Anfang der 1890er Jahre in das alte Arbeiterzentrum Leipzig kam, das noch lange die radikalste Bastion war, die entscheidende Kämpfe gegen den Reformismus führte» (Rückblick aus dem Jahre 1949, anläßlich des 75. Geburtstags).

Christoph Lieber, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus, Mitglied der LINKEN Berlin-Charlottenburg.

In dieses geistige Zentrum von Sozialisten mit der politisch sehr regen Leipziger Arbeiterschaft kam Hermann Duncker, der 1874 in Hamburg geboren wurde und in Göttingen aufwuchs, 1891. Er trat 1893 der SPD bei und lernte die junge Lehrerin Käte Döll (1871-1953) kennen, die er 1898 heiratete. Sie hatten drei Kinder, Hedwig (1899-1998), Karl (1903-1940, Repressionsopfer in der SU) und Wolfgang (1909-1942, Suizid im amerikanischen Exil). In diesem bewegten Arbeiter-Bildungsmilieu suchten auch Studenten mit Arbeitern in Verbindung zu kommen und trafen dabei auf schlagfertige und gebildete Autodidakten, «wir waren in der Lage, die Studenten mit der Mehrwerttheorie zu schlagen», erinnerte Walter Ulbricht. Und die Mehrwerttheorie markiert einen Kernbestandteil marxistischer Bildung, destruiert sie doch gerade das gängige Oberflächenbewusstsein einer harmonischen Produktionsfaktorentheorie.

Als politisches Subjekt – erst linker Sozialdemokrat und Spartakist, dann KPD- und schließlich SED-Mitglied – musste auch Duncker wie viele andere zwischen politisch-theoretischer Zuarbeit und direkter parteipolitischer Organisationsarbeit abwägen. Ende 1925 gehörte Hermann Duncker dann zu den Gründern der Marxistischen Arbeiterschule, die unter ihrer Abkürzung MASCHpopulär geworden ist, und war zuvor schon Initiator und maßgeblicher Herausgeber der populären und wirkmächtigen Schriftenreihe «Elementarbücher des Kommunismus».

Duncker entwickelt in seiner sozialistischen Bildungsarbeit dieser Jahrzehnte mithin weiter, was zur DNA der Vorkriegssozialdemokratie selbst gehörte: «Wissen ist Macht! Bildung macht frei!» formulierte Wilhelm Liebknecht 1872, wies aber die Schlussfolgerung «durch Bildung zur Freiheit als falsche Losung der falschen Freunde» zurück – eine frühe Kritik an der «jakobinischen Illusion» (Bourdieu) von sozialdemokratischer Seite. Freiheit ist eine gesellschaftliche Voraussetzung, um an Bildungsprozessen partizipieren zu können, die aber „nur auf dem Weg politischer und sozialer Agitation zu erreichen» ist (Liebknecht). Zurecht. Denn immer noch schränken soziale Herkunft und Klassenlage den Zugang zu Bildung ein.

Popularisieren und Versöhnen

Zu Beginn, in der kurzen heroischen Phase der Revolutionserwartungen 1923ff., war Dunckers politische Publizistik immer auch auf die kommunistische Partei fokussiert, und seinen Bildungsauftrag eines nichtreformistischen Marxismus sah er in einer umfassenden Persönlichkeits- und Kaderbildung. So stellte er in einer Rezension eines parteipolitischen Klassikers jener Jahre – Georg Lukacs‘ «Geschichte und Klassenbewußtsein» – das oft übersehene zentrale Anliegen des Autors heraus, der Duncker vergleichbar zu dem Zeitpunkt auch Publizist und zugleich «Kader» in der ungarischen KP war: die «Organisationsfrage». Duncker zitiert Lukacs zustimmend mit eigenen Hervorhebungen: «Kommen die Mitglieder der Partei mit ihrer Gesamtpersönlichkeit in eine lebendige Beziehung zu der Totalität des Parteilebens und der Revolution, hören sie auf, bloße Spezialisten zu sein, die notwendig der Gefahr der inneren Erstarrung unterworfen sind» (Ein neues Buch über Marxismus, Rote Fahne, 27.5.1923).

Mit seinem Erfahrungswissen nach dem Scheitern der Einheitsfrontpolitik, dem Untergang der Weimarer Republik, Faschismus und Exil sowie um die sozialpsychologischen Dimensionen historischer Konstellationen und ihrer Akteure wird die politische Analyse einer konkreten Situation differenzierter und geschärft. Aber ein anderes Diktum Dunckers aus diesen Kinderjahren des deutschen Kommunismus hat Bestand: «Um den Blick für solche Situationen zu schärfen, um aber auch etwaige >Zwischenpausen< der Ereignisse im Sinne der Einheitsbewegung zweckentsprechend auszunutzen, gibt es kein besseres Mittel, als eine marxistische Bildungsbewegung ins Leben zu rufen und mit allen Kräften zu fördern» (Einführungen in den Marxismus, Band I, S. 407f., Hv.CL) – zurecht das Motto dieses Beitrages, das die Aktualität von Dunckers Bildungsintention auf den Punkt bringt: auch in Pausen und Krisen des Klassenkampfes, in nicht-revolutionären Zeiten einer «demobilisierten Klassengesellschaft» (Dörre), an organisiertem Lernen festzuhalten und so das kollektive Gedächtnis einer sozialistischen Partei als lernender Organisation mit Leben zu füllen und in strategischen Such- und Lernprozessen sich auf neue politische Konstellationen vorzubereiten.

So zieht er kurz vor seiner Überfahrt in die USA gegenüber seiner Frau eine Art Bilanz seiner politisch-theoretischen Entwicklung: «Ich lese noch im «Friends Intelligencer». Und immer bin ich überrascht durch kluge Einsichten und warmes Mitfühlen. Da ist weltweite Toleranz. We need not so much knowledge as the way to use knowledge! Und so kann ich mich meiner vergangenen Lebensarbeit als Popularisator und «Versöhnler» doch nicht schämen.» (HD an KD, 18.2.1941)

«Seid einig, einig, einig!»

Im Frühjahr 1947 kehrte Hermann Duncker aus dem amerikanischen Exil mit seiner Frau Käte nach Berlin-Bernau zurück und stellte sich wieder der Aufgabe einer «marxistischen Bildungsbewegung» für eine dritte Generation: «Wenn ich doch nur noch irgendwie mithelfen könnte, um die Einheit einer sozialistischen Arbeiterschaft in Deutschland fördern zu helfen. … Schwer genug hat mich der Zwist und Zank unter den Refugees hier bekümmert. Daß man immer wieder in der Vergangenheit herumwühlt, um Zwietracht aufrechtzuerhalten, wo doch der Antifaschismus und die Zukunftsaufgabe sozialistische Einheit so dringend notwendig machen. Wie der alte Attinghausen im «Tell» sagte, sage ich auch: «Seid einig, einig, einig!» (Duncker an Erika Hartmann, 3.7.1946)

Angesichts der aktuellen Pulverisierung der sozialistisch-kommunistischen Linken in Europa und der Erosion der europäischen Sozialdemokratie, aber auch im bilanzierenden Rückblick auf die vertanen Chancen am Höhepunkt des Golden Age Mitte der 1970er Jahre, die Potentiale der kurzzeitigen sozialdemokratischen Hegemonie unter Brandt/Kreisky/Palme, des Eurokommunismus und der 68er-Reformen in Osteuropa in progressiv-emanzipatorischer Richtung zu verbinden, sind die Ausführungen Dunckers «Zur Einheit der Arbeiterbewegung» («Einheit», 4. April 1947) am Beginn dieses Golden Age immer noch inspirierend, zumal sie mit einer dezidierten Aufforderung Dunckers verbunden sind, die Marxsche Methode innovativ anzuwenden.

Sozialismus neu entdecken

In einem seiner letzten Texte bekennt Duncker, dass er in seiner Jugend als Kennzeichnung einer kommunistischen Gesellschaft «nicht gerade die Antwort erwartet hatte, die Marx im Kommunistischen Manifest gibt, wo er sagt, daß … <die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist>.» (Einführungen in den Marxismus, Band II, S. 102) Der 150. Geburtstag von Hermann Duncker fällt in eine Zeit, in der die sozialistische Bewegung nicht nur in Deutschland in einer schweren Krise steckt. Michael Brie vom wissenschaftlichen Beirat der RLS, in jungen Jahren noch Zeitgenosse von Hermann Duncker in der DDR, schlägt vor, «Sozialismus als solidarische Austragung des Widerspruchs freier Entwicklung der Einzelnen und freier Entwicklung Aller» neu zu entdecken.

Die gegenwärtigen geschichtlichen Situationen mit ihren beängstigenden politischen Konstellationen fordern einer sozialistischen Linken ein hohes Maß an Reflexion und historischem Interpretationsvermögen ab. Letzteres ist bei vielen Akteur:innen nicht gerade ausgeprägt. Daher ist die Arbeit am kollektiven Gedächtnis ein ebenso wichtiger Beitrag zu einer modernen sozialistischen Politik und Kultur wie zur strategischen Erneuerung der LINKEN als einer «lernenden Organisation». Auf diesem Weg helfen die Erfahrungen und Erkenntnisse einer marxistischen Bildungsbewegung, die Duncker ins Leben gerufen hat. Und es gibt kein besseres Lehr- und Lernmaterial als dieses «Tagebuch in Briefen«, aus dem das voranstehende «Kalenderblatt» geschöpft hat und dessen Fundus an fast 3.000 Briefen und über 60 Jahren linker Geschichte der Mitarbeiter Dunckers während dessen letzten Jahre, Heinz Deutschland, der in diesem Duncker-Jahr selbst seinen 90. Geburtstag feiert, für uns dankenswerter Weise erschlossen und zugänglich gemacht, mithin demokratisiert hat – ganz im Sinne Hermann Dunckers: «jedem Leben den demokratischen Regierungsanteil zu geben!»

Literatur

  • Hermann Duncker, Einführungen in den Marxismus. Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bände, Berlin 1958/59
  • «Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten». Briefwechsel zwischen Käte und Hermann Duncker 1915 bis 1917, hrsg. von Heinz Deutschland, Bonn 2005
  • Käte und Hermann Duncker, Ein Tagebuch in Briefen (1894-1953), hrsg.von Heinz Deutschland unter Mitarbeit von Ruth Deutschland, Inklusive USB-Card mit dem vollständigen Briefwechsel, Berlin 2016
  • Hermann Duncker, Menschheitsgedichte, hrsg. von Heinz Deutschland, Berlin 2022
  • Mario Keßler/Heinz Deutschland, Hermann Duncker. Sozialdemokratischer «Wanderprediger», Spartakist, Gewerkschaftslehrer. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7-8/2001, Hamburg
  • Heinz Deutschland, Hermann Duncker und die Marxistische Arbeiterschule (MASCH), in: Kollektiv für sozialistisches Bauen, Proletarische Bauausstellung. Wohnungsfrage, Leipzig 2015