Nachricht | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus - GK Geschichte Abschied von Wladimir Gall

Seit 2001 hat Wladimir Gall (gest. am 9.9.2011) wie kaum ein anderer Zeitzeuge die historisch-politische Bildungsarbeit der Rosa Luxemburg Stiftung zu Themen des dunkelsten Kapitels deutscher Zeitgeschichte mitgeprägt, unterstützt und begleitet.

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In rund 80 Lesungen quer durch Deutschland hat er für rund 6000 TeilnehmerInnen unserer Bildungsveranstaltungen seinen Lebensweg von Moskau nach Spandau und Halle beschrieben. Die meisten dieser Lesungen führten Wladimir Gall an den Lernort Schule, zu der Generation, die aus der Erinnerung an Geschichte künftig Verantwortung für die Zukunft tragen wird.

Wolodja, wie ihn seine zahllosen Freund_innen nannten, hat sein ungewöhnliches Schicksal, das ihn immer wieder nach Deutschland zog, in seiner Autobiographie „MOSKAU – SPANDAU – HALLE. Etappen eines Lebensweges“ (GNN-Verlag, Schkeuditz 2000) mit einem persönlichen Vermächtnis beschrieben und beendet:

„Ich begann dieses Buch mit Halle und beende es mit ihm, meiner Lieblingsstadt. Der Ring schließt sich.
Mein Kriegsschicksal führte mich von Moskau über Spandau nach Halle. Das waren Etappen auf diesem Wege. Jetzt, im Frieden, bemühe ich mich, meinen bescheidenen Beitrag zum Bau der Freundschaftsbrücke von Moskau über Spandau nach Halle und darüber hinaus von Rußland nach Deutschland zu leisten.
Ich bin nicht bibelfest, kenne aber einige Bibelsprüche. Einer von ihnen, aus dem Ekklisiastikus, lautet: `Steine werfen hat seine Zeit und Steine sammeln hat seine Zeit.` Natürlich steht es mir nicht zu, die Bibel zu ergänzen. Das wäre eine freche Anmaßung. Und doch möchte ich zu diesem Spruch etwas hinzufügen: Jetzt, viele Jahre nach Kriegsende, ist es höchste Zeit, aus den Steinen, die zu sammeln sind, ein festes und dauerhaftes Gebäude der Versöhnung und der Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern zu errichten.“ (S. 199)

Das hier zitierte Buch ist seinem viel zu früh verstorbenen Freund und Kampfgefährten Konrad Wolf gewidmet. Beide waren sich im Juli 1944 zum ersten Mal begegnet. Da kämpfte der damals 18-jährige Deutsche schon ein ein halb Jahre in der Roten Armee für die Befreiung der Sowjetunion, die ihm und seiner Familie seit 1934 Heimat geworden war.

Wladimir Gall hatte am 22. Juni 1941 gerade ein Germanistikdiplom des Moskauer Instituts für Geschichte, Philosophie und Literatur in der Tasche. Mit einem Doktorandenstipendium war sein weiterer, akademischer Weg schon vorgezeichnet, als sich sein wie das Leben von Millionen Landsleuten schlagartig änderte – Krieg!

In der Uniform eines Flaksoldaten traf Lew Kopelew Mitte 1942 seinen Musterschüler Gall in Moskau wieder und trug dazu bei, dass er in die „Siebente Abteilung“ der 2. Panzerarmee an der Brjansker Front für Aufklärungsarbeit unter deutschen Soldaten versetzt wurde. Der Wechsel zur „Siebenten Abteilung“ der 47. Armee an die 1. Belorussische Front im Juli 1944 brachte Gall erstmals mit dem Emigrantensohn Konrad Wolf zusammen. Gemeinsam zogen sie ein dreiviertel Jahr später mit Zwischenstation Wolfs als 1. Stadtkommandant von Bernau, nach Berlin. Es war der 1. Mai 1945, als die Rote Armee Berlin schon eingenommen hatte, Richtung Brandenburg vorrückte, die Zitadelle Spandau, voll mit Hunderten Zivilisten, Offizieren der Wehrmacht und der SS, im Rücken. Gall kletterte mit seinem Vorgesetzten, Major Grischin, über eine Strickleiter in die Zitadelle, führte dort mit ihm die Verhandlungen, die zur kampflosen Kapitulation der Festung führten.

Vom Juli 1945 bis Januar 1948 half Wladimir Gall als Leiter der Kulturabteilung der SMA und persönlicher Berater des SMA-Chefs der Provinz Sachsen (Sachsen-Anhalt) einen wichtigen Beitrag für einen demokratischen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland zu leisten. Auch Konrad Wolf wirkte 1946 als Kulturreferent und Wladimir Galls  Stellvertreter in Halle.

Im Sommer 1949, Wladimir Gall war bereits in die Sowjetunion zurückgerufen worden, kreuzten sich beider Wege wieder. Konrad Wolf hatte ein Regiestudium am Staatlichen Allunionsinstitut für Kinematographie in Moskau begonnen. Für seinen autobiografischen Film „Ich war neunzehn“, der ursprünglich „Die Heimkehr“ heißen sollte, war Wladimir Gall als sein ganz persönlicher Berater tätig.

Die Verhandlungen auf der Zitadelle Spandau hat Konrad Wolf in seinem Film „Ich war neunzehn“ mit einigen dramaturgischen Freiheiten ergreifend dargestellt. Im Februar 1968 wurde der Film im Kino „International“ nach einer Reihe von politischen Interventionen aus dem Politbüro der SED  uraufgeführt.

Wolf selbst trägt im Film den Namen Gregor Hecker. Die Rolle wurde von Jaecki Schwarz gespielt. Gall heißt im Film Wadim Geiman. Bei der Uraufführung war Wladimir Gall Ehrengast. Danach besuchte er jedes Jahr die DDR. Eine Jugendbrigade in der Filmfabrik Wolfen trug sogar seinen Namen. Dass er trotz erfolgter Einladungen nach Berlin-Spandau erst nach 40 Jahren, im Mai 1985, seinen „Tatort“ wieder sehen durfte, erklärte Wladimir Gall wie folgt: „Ich war, wie es im sowjetischen Volksmund hieß, invalid am Punkt 5. Der fünfte Punkt auf dem Ausreise-Antragsbogen fragte nach der Nationalität. Und da steht bei mir: Jude…“

Weitere zwanzig Jahre später, im Mai 2005, trug Wladimir Gall sich ins „Goldene Buch“ Berlin-Spandaus ein. Diese späte Ehrung wurde ihm im 60. Jahr der Befreiung zuteil.

Im Mai diesen Jahres hat Wolodja sich bei seinem alljährlichen Deutschlandbesuch von seinen FreundInnen mit den Worten verabschiedet, dass es wohl ein Abschied für immer sein wird.