Nachricht | GK Geschichte Strukturwandel und Protest in Hamburg und Norddeutschland seit den 1970er-Jahren (Tagungsbericht)

Ein Bericht von Sarah Gottschalk, Berlin/ZZF Potsdam, HSozKult 11.11.2011

Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, 23.09.2011-24.09.2011, Hamburg

Die Interpretation der jüngsten Zeitgeschichte als strukturellen Wandel auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebene seit den frühen 1970er-Jahren bildet den Ausgangspunkt zahlreicher neuer Forschungen, die dem Zäsurcharakter der Epoche "nach dem Boom" auf der Spur sind.
Mit ihrer Tagung führte die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) ihren Beitrag zur aktuellen Forschungsdebatte fort. Die Veranstaltung verfolgte das Ziel, Erkenntnisse über die Konturen des sozioökonomischen Wandels mit kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten zu verbinden. Die Leitfrage für die Referenten war, inwiefern es Tendenzen eines Strukturwandels gegeben habe. Exemplarisch sollten
Hamburg und der norddeutsche Raum untersucht werden, um einerseits lokale Spezifika herauszustellen, andererseits über die regionale Perspektive hinaus von der Mikro- auf die Makro-Ebene Einsichten zu gewinnen. Im Sinne einer "problemorientierten Vorgeschichte der Gegenwart" (Hockerts) konzipierten die Veranstalter ein Programm, dessen Inhalte zeithistorische bis gegenwärtige Themen berührte.

Das Thema "Hafen" war auf der Tagung in der Hansestadt sehr präsent. Als (schwer-)industrieller Wirtschaftszweig mit hoher Bedeutung für den Norden bietet sich hier eine Überprüfung der Strukturbruchthese an. Die erste Sektion "Wirtschaft und Arbeit" eröffnete CHRISTOPH STRUPP (Hamburg) mit einem Beitrag über die Hamburger Hafenwirtschaftspolitik seit den späten 1960er-Jahren. Obwohl es in den 1970ern durchaus konjunkturelle Einschnitte gegeben habe, sei die Krise vor allem ab 1982
zutage getreten. Welche hohe nicht nur ökonomische, sondern auch identitätsstiftende Bedeutung der Hamburger Hafen für die Stadt innehatte, wurde in dem Vortrag deutlich. Die im Verlauf der Tagung vielfach thematisierte  Planungseuphorie der 1960er-Jahre illustrierte Strupp anschaulich anhand der Zukunftsvisionen des  Verkehrssenators
Helmuth Kern (SPD), welche noch im diametralen Gegensatz zu den "Grenzen
des Wachstums" standen. Das Primat des Hafens wurde ab 1974 jedoch zunehmend in Frage gestellt. KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) kommentierte, es sei eine zeitliche Verzögerung der technischen Erneuerungen in der Hafenwirtschaft (Container) in den 1960er-Jahren und ihrer Thematisierung in den Medien in den 1970er-Jahren festzustellen. So seien einige Wandlungsprozesse erst zeitversetzt "fühlbar". Heinsohn
plädierte daher in diesem Zusammenhang für eine stärkere Berücksichtigung kulturgeschichtlicher Perspektiven und somit eine Abkehr von rein sozialwissenschaftlichen Statistiken. Der Wahrnehmung von Wandlungsprozessen durch die Betroffenen viel Raum zu geben ist das Ziel eines von SEBASTIAN LEHMANN (Schleswig) vorgestellten, neuen Projekts zum Strukturwandel in Schleswig-Holstein.

SARAH GRABER-MAJCHRZAK (Frankfurt/Oder) präsentierte ihre Thesen zur Schiffbaukrise in Bremen in den Jahren 1978-1983. Nachdem es in Bremen noch in den 1960er-Jahren einen Schiffbau-Boom gegeben habe, habe um 1973/1974 im Zuge der Ölkrise der Niedergang der Industrie eingesetzt - hier illustriert am Beispiel der Werft "AG Weser". In ihrem Vortrag wurde die globale Dimension der "neoliberalen Wende" deutlich. Die Referentin stellte die Mobilität des Kapitals heraus, denn dem weltweiten Konkurrenzdruck sei die "AG Weser" zugunsten Südkoreas und Japans erlegen. Hinsichtlich der Strukturbruchfrage zeichnete JANINE SCHEMMER (Hamburg) ein ambivalentes Bild. In ihrer akteursbezogenen Untersuchung zum Wandel der Arbeitswelt Hafen Hamburg geht die Historikerin den Veränderungen durch die Einführung der
Containerwirtschaft nach. Die technische Neuerung sei als langwieriger Prozess zu verstehen, es habe eine lange Gleichzeitigkeit von Container- und Handarbeit gegeben. Die Hafenarbeiter seien zur Arbeit mit dem Container schrittweise erzogen worden. Es habe eine generationenspezifische Diversifizierung der Hafenarbeiter durch neue
Berufsprofile gegeben. Von Weiterqualifizierungs- oder Umschulungsmaßnahmen hätten vor allem junge Kollegen profitiert. In der Erinnerung der Betroffenen seien diese Veränderungen eher zwiespältig, da die Konsequenzen individuell verschieden gewesen seien. Als gemeinsame Wahrnehmung dominiere rückblickend ein Gefühl von weniger
Kollegialität und Unsicherheit. Auffällig sei ein gewandelter Arbeitsbegriff vom Ethos "richtiger" Handarbeit zur technisierten Containerarbeit, kommentierte Frank Bajohr.

Den ganzen Tagungsbericht hier lesen.

Die Mehrheit der Vorträge ist online abrufbar auf der Medienplattform der Universität Hamburg unter: lecture2go.uni-hamburg.de/konferenzen/-/k/12653 (23.10.2011).

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Axel Schildt, Knud Andresen, Claudia Kemper (FZH): Begrüßung und
Einführung

Sektion I: Wirtschaft und Arbeit

Christoph Strupp, FZH: Kisten, Kohlen, Kraftwerke. Hamburger
Hafenwirtschaftspolitik seit den frühen 1970er-Jahren

Sebastian Lehmann, Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und
Regionalgeschichte Schleswig: Strukturwandel - Schleswig-Holstein als
Land. Ein Forschungsprojekt

Kommentar: Kirsten Heinsohn, Institut für die Geschichte der deutschen
Juden (IGdJ) Hamburg

Sarah Graber-Majchrzak, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder:
Strukturwandel ohne Alternativen? Die Schiffbaukrise in Bremen
1978-1983

Janine Schemmer, FZH: "Keine Angst vor dem Container!" Erzählungen über
den Wandel der Arbeitswelt Hafen Hamburg

Abendvortrag
Detlef Siegfried, Universität Kopenhagen: Strukturwandel und Protest
seit den 1970er-Jahren. Überlegungen zur Historisierung

Sektion II: Zum Spannungsverhältnis von Stadt und Land

Meik Woyke, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn: "Strukturbruch" oder die
Perpetuierung des Altbekannten? Suburbanisierung in den 1970er-Jahren

David Templin, FZH: Selbstverwaltung zwischen Aufbruch und Krise -
Jugendzentrumsinitiativen im Hamburger Umland

Kommentar: Michael Ruck, Universität Flensburg

Thomas Pohl, Institut für Geografie Hamburg: Hamburgs Wandel zur
postfordistischen Stadt seit den 1970er-Jahren

Karl Christian Führer, Universität Hannover: Die Stadt, der Markt und
die Angst. Der Wohnungsmarkt als bundesdeutscher Krisenherd in den
1970er-Jahren

Peter Birke, Universität Hamburg: Nach dem Boom? Arbeitsverhältnisse und
Leitbilder der Stadtteilentwicklung in Hamburg seit 1970

Kommentar: Cornelia Rauh, Universität Hannover

Sektion III: Sozialer Protest

Hanno Balz, Universität Lüneburg: Jenseits der Friedensbewegung?
Sozialer Protest und militante Anti-Kriegsbewegung in Norddeutschland zu
Beginn der 1980er-Jahre

Silke Mende, Universität Tübingen: Grüne Avantgarde oder ökologische
Nachzügler? Hamburgs Grüne, Bunte und Alternative - von der "Krise der
Linken" zur GAL

Kommentar: Detlef Siegfried, Universität Kopenhagen

Bart van der Steen, European University Institute Florenz: Militanz als
Praxis und Identität. Die autonome Bewegung in Hamburg und die
Hafenstraße während der 1980er-Jahre

Henning Tümmers, Universität Tübingen: "Heaven can wait": Reaktionen auf
die Aids-Bedrohung in Hamburg

Kommentar: Klaus Weinhauer, Universität Bielefeld

Schluss
Axel Schildt, Knud Andresen und Claudia Kemper: Abschlussdiskussion