Nachricht | GK Geschichte Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917 - 2006). Frankfurt am Main 2011.

Christian Gerlach, Universität Bern rezensiert hierfür das Portal geschichte-transnational

Middell, Matthias; Wemheuer, Felix (Hrsg.): Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917 - 2006). Frankfurt am Main 2011 (375 Seiten; € 52,80).

Der Band vereinige, so Gerlach "Aufsätze zu den Hungersnöten in der Sowjetunion 1932-34 und 1946/47, in China 1958-61 und Nordkorea bzw. zu ihrer Rezeption; zum Hunger von Straflagerinsassen in China sowie Verbindungen zwischen Hungersnot und Massenterror in der Sowjetunion; zu negativen Folgen von Agrarreformen in der DDR und Estland sowie zur Lebensmittelrationierung in der DDR und Polen."
Seine beurteilung ist abschliessend eher kritisch: "Natürlich ist der Kalte Krieg nicht zu Ende, sondern wird ziemlich einseitig weitergeführt, und das gerade auch in der Geschichtswissenschaft. Davon ist auch dieser Band nicht frei, obwohl er auch von wachsender Verwissenschaftlichung zeugt. Trotz einiger Zwischentöne präsentieren alle Beiträge das Narrativ des Scheiterns und der Unterlegenheit des Sozialismus. Zumindest verbal tut dies auch die einzige, die sich nicht auf eine Krisensituation konzentriert, nämlich Alice Weinreb in ihrer ansonsten differenzierten Schilderung der Genese und Ausgestaltung der Schulspeisung in der DDR.
Für künftige Forschungen auf diesem Gebiet bleibt über die Reichweite dieses verdienstvollen Bandes hinaus genug zu tun. So bliebe zu klären, was genau die in diesem Buch nur beiläufig erwähnte russische Hungersnot von 1920-22 (vermutlich opferreicher als die sowjetische von 1932/33) nicht nur mit dem Kriegskommunismus zu tun hatte, sondern auch mit Erstem Weltkrieg und Bürgerkrieg (wie in diesem Band angedeutet) und eventuell auch mit der kommunistischen Landreform von 1917/18 und durchaus auch mit der Neuen Ökonomischen Politik (was der Band auslässt). Nüchterne Studien könnten erkunden, warum es einigen sozialistischen Ländern zu Hungersnöten kam und in anderen nicht. Ebenso fehlt ein systematisches Verständnis der Verbindungen zwischen Hunger und Massengewalt. Mehr als in diesem Band sollte auch dem Funktionieren von Märkten im Sozialismus Beachtung geschenkt werden. Und selbstverständlich ginge das Thema der Ernährung in sozialistischen Ländern weit über eine Geschichte des Mangels hinaus."