Nachricht | International / Transnational Infobrief Türkei Ausgabe 02/2012 erschienen

Der Infobrief kann hier heruntergeladen werden. Die Beiträge können auch im Internet (http://infobrief-tuerkei.blogspot.com) gelesen werden.

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Aus dem Editorial:

Was haben der Kampf um höhere Löhne und gewerkschaftliche Organisierung, der Widerstand von Studierenden gegen die Vermarktlichung von Universitäten sowie deren zentralistische Kontrolle und der Kampf von LBGT*-Bewegten um Anerkennung unter-schiedlicher Lebens- und Liebesformen gemeinsam mit dem Problem der kurdischen Bewegung, ihr Streben nach Emanzipation nicht auf die Anerkennung von Identität zu reduzieren? Im organisatorischen Sinne nicht viel, auf politischer Ebene eine Menge: Gemeinsam ist den in dieser zweiten Ausgabe des INFOBRIEF TÜRKEI vorgestellten Kämpfen vor allem ihr Bemühen um Emanzipation, das sich aus dem konkreten Wunsch der Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen speist. Ansonsten bewegen sie sich unverbunden auf unterschiedlichen Feldern und entlang gesellschaftlicher Spaltungen. Diese Gemeinsamkeit unverbundener Kämpfe ist geradezu typisch für die soziale und politische Realität in der Türkei am Vorabend des 1. Mai 2012.

Der Kampf um gewerkschaftliche Organisierung beim westanatolischen Pumpenhersteller MAS-DAF ging von dem schlichten Wunsch nach Lohnerhöhung aus. Dieser wurde verweigert und mit ihm auch das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung – dies ließ die Auseinandersetzung zwischen den Lohnarbeitenden und dem Eigentümer Özer Polatoğlu eskalieren. Auf Massenentlassungen reagierten die Arbeiter mit einer Besetzung der Fabrik, auf die erzwungene Räumung der Fabrik folgte ein Marsch auf die Unternehmenszentrale in İstanbul. Kurz: Der Kampf wurde nicht nur politischer, sondern auch über die beteiligten Akteure hinaus bekannt. Die Chancen auf juristische Revision der Kündigung in Form einer Abfindung stehen nicht schlecht, doch die Kämpfenden bleiben als Gewerkschafter gebrandmarkt. Ihnen hat die Auseinandersetzung individuell mehr geschadet als dem Unternehmer. Nicht immer ernten die Kämpfenden die Früchte ihres Kampfes, und das ist ihnen bewusst, wie im Bericht von Serdar Damar und Thomas Sablowski deutlich wird.

Soziale und identitäre Kämpfe finden auf einem Terrain statt, das tief geprägt ist von jener durchgreifenden neoliberalen Transformation, die zu Beginn der 1980er Jahre mit dem Militärputsch gewaltsam eingeleitet wurde. Eine starke Exekutive brach den gesellschaftlichen Widerstand gegen das neoliberale Projekt (siehe auch Axel Gehring in INFOBRIEF TÜRKEI 01/12). Auch der Hochschulrat, Yükseköğretim Kurulu (YÖK), wurde 1982 kreiert, um dieses Projekt mit Hilfe eines hochgradig zentralistischen Apparates an den Hochschulen durchzusetzen. Die Proteste von Studierende gegen den YÖK richten sich gegen den autoritären YÖK als solchen und gegen seine Politik der marktkonformen Hochschule, die sich aktiv in den Dienst der herrschenden Klassen stellt, wie Ismail D. Karatepe in seinem Beitrag exemplarisch darstellt. Auch die regierende AKP hat an dem von der Militärjunta eingeführten YÖK-System keine fundamentalen Änderungen vorgenommen, vielmehr den Hochschulrat zielstrebig mit eigenen Kadern besetzt. Offenkundig denkt sie nicht daran, die zentrale Kontrolle der Universitäten aufzugeben. Dies belegt die repressive Vehemenz, mit der sie den YÖK nicht nur gegen Kritik verteidigt, sondern diese Kritik auch kriminalisiert. In den 1990er Jahren waren im YÖK vor allem Akteure präsent, die sich selbst als Kemalisten bezeichneten und die Neoliberalisierung der Hochschulen vorantrieben. Heute passiert dies im YÖK unter der Ägide der AKP, die nicht zögert, Widerstand gegen den YÖK und die Neoliberalisierung von Hochschulen als »kemalistisch« zu brandmarken. Indem Studierende Widerstand gegen die fortgesetzte neoliberale Transformation ihrer Hochschulen leisten – die ohne einen starken Staat nicht denkbar wäre – verweigern sie sich der Identitätspolitik der regierenden AKP, die sich als Vertreterin einer »demokratischen Opposition« gegen »autoritäre Staatseliten« inszeniert und von der Bevölkerung verlangt, sie möge sich zu einem der beiden Lager bekennen (siehe auch Ismail D. Karatepe in INFOBRIEF TÜRKEI 01/12). Dieses Beispiel zeigt: Auch antineoliberaler Widerstand hat eine identitäre Dimension.

Von einem Konfliktfeld, dessen Dynamik nur bedingt aus der neoliberalen Transformation erschlossen werden kann, handelt das Interview, das Anne Steckner mit den LGBT*-AktivistInnen Şevval Kılıç und Cihan Hüroglu geführt hat. Insbesondere der Trans*-Kampf um Anerkennung zeigt, inwiefern diese »Abweichungen« geschlechtlicher Identität und sexueller Präferenz in einer überwiegend konservativen Gesellschaft als Problem empfunden werden. Ausgrenzung und Diskriminierung lassen den Trans* keine andere Erwerbsmöglichkeit als Sexarbeit, die als Erwerbsquelle offiziell nicht anerkannt ist. Auch in linken Kreisen wird diese Frage oft auf ein Problem der Kommodifizierung des Körpers reduziert. Den Sexarbeitenden ist damit nicht geholfen, sie bleiben stigmatisiert. Ihre erzwungene Prekarisierung und Marginalisierung erschweren Bündnisse – nicht nur mit »traditionellen« Linken, sondern zuweilen auch zwischen Trans*- und LGB-Bewegten. Gleichwohl gibt es innerhalb sozialer Bewegungen inzwischen eine größere Offenheit, der Weg zur Entstigmatisierung der Sexarbeit bleibt aber weit. Wenn Şevval davon berichtet, dass sie auf Polizeiwachen inzwischen weniger häufig tätlichen Übergriffen ausgesetzt seien, dann ist dies nicht nur auf eine zunehmende Präsenz von Religiösen im Polizeiapparat zurückzuführen, für die Anfassen tabu ist, sondern auch einer gewachsenen nationalen und in-ternationalen Aufmerksamkeit gegenüber Praxen der Diskriminierung von LGBT*s zu verdanken. Die laufenden Verhandlungen um einen Beitritt der Türkei zur EU konnten hier den Resonanzraum erweitern. Wenn LBGT*-Bewegte heute sagen: »Wir sind mehr geworden. Und mutiger«, verweist dies auf eine Erweiterung ihrer Bündnisoptionen – zum Beispiel in Richtung einzelner Gewerkschaften, die gleichwohl nicht überschätzt werden sollte.

Die große politisch-praktische Herausforderung, unverbundene Kämpfe hin zu etwas zu erweitern, das nicht nur das Moment des Gemeinsamen hat, sondern ein tatsächliches Gemeinsames ist, wird am ehesten in der Praxis der kurdischen Bewegung offensichtlich. Wie Murat Çakır darstellt, bedingt das Fehlen einer gewerkschaftlichen ArbeiterInnen-Bewegung im kurdischen Osten der Türkei die Tendenz der kurdischen Bewegung, Bündnisse primär über die nationale Frage zu schließen und so eine Koalition vor allem unterschiedlicher kurdischer Kräfte zu begründen. Derweil hat nicht zuletzt durch die Binnenmigration der letzten Jahrzehnte eine wachsende Proletarisierung der kurdischen Bevölkerung stattgefunden: Kurdische Armut ist nicht mehr nur ländlich und auf den Osten begrenzt, sondern ebenso städtisch und geografisch entgrenzt. Die Thematisierung der nationalen Frage allein bringt nicht (mehr) automatisch die soziale Frage auf die Agenda. Die prokurdische BDP steht vor dem Problem, sich aus dem Korsett des Regionalpartei-Profils zu befreien, um sich für die sozialen Belange der kurdischen Bevölkerung (auch im Westen) stark machen zu können, was aber die Bündnisfähigkeit mit anderen kurdischen Kräften wie Großgrundbesitzern, religiös Konservativen oder nationalistischen KurdInnen schwächt. Soziale und identitäre Fragen miteinander zu verbinden ist und bleibt nicht nur im Falle der kurdischen Bewegung schwierig – gerade dies ist die gemeinsame Herausforderung von Kämpfen um gewerkschaftliche Organisierung, den Aktivitäten von Studierenden, LBGT*-Bewegten und der kurdischen Bewegung.

Axel Gehring