Soeben wurde die Hungersnot am Horn von Afrika für beendet erklärt. Die Bilanz: zwischen 50.000 und 100.000 Tote, knapp 1 Million somalische Flüchtlinge in den Nachbarländern, viele von ihnen für Jahre oder Jahrzehnte fern der Heimat, und etwa 13 Millionen direkt Betroffene, von denen viele auch zukünftig auf internationale Unterstützung angewiesen sein werden.
Während sich die Lage in Ostafrika augenscheinlich langsam entspannt, schleicht sich in West- und Zentralafrika, weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, eine neue Hungerkatastrophe an. Betroffen sind sämtliche Länder der Sahelzone zwischen Atlantik und Zentralafrika. In Worten: Mauretanien, Senegal, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad, Teile Nigerias und Kameruns. In Zahlen: zwischen 10 und 15 Millionen Menschenleben sind akut bedroht.
Die Gründe für die sich anbahnende Katastrophe sind vielfältig. Die gesamte Region hatte 2011 mit ungenügenden und schlecht verteilten Niederschlägen zu kämpfen. Die Regenfälle setzten verfrüht ein, und die Landwirte, die im Sahel einen Bevölkerungsanteil von 80 bis 90% stellen, brachten ihr Saatgut in die Erde. Dann hörte es auf zu regnen – die Saat vertrocknete. Neue Regenfälle setzten ein, und wer es sich leisten konnte, säte abermals ein. Dann hörte es wieder auf zu regnen, und auch diese Saat verdarb. Und so weiter. Das immer gleiche Lied singen die Bauern der Region in vielfältigen Abwandlungen. Zu allem Überfluss hörte der Regen in 2011 vorzeitig auf - bei einer mit drei bis fünf Monaten ohnehin sehr kurzen Vegetationsperiode eine Katastrophe; das Korn vertrocknet unreif auf dem Halm.
Doch nicht nur die Ackerbauern, sondern auch die Viehzüchter der Region sind von der launischen Witterung direkt betroffen. Die meisten Wasserstellen sind längst ausgetrocknet und die Gräser verdorrt, Erntereste zur zusätzlichen Fütterung sind knapp, der Zukauf von Futtermitteln wegen der schlechten Finanzlage der meisten Haushalte kaum möglich. Vielen Hirten bleibt keine andere Wahl, als ihr Vieh zum Spottpreis zu verkaufen, bevor es vollständig abmagert oder endgültig verhungert und verdurstet. Damit geht ihnen und ihren Familien gleichzeitig die einzige Lebensgrundlage auf Jahre oder Jahrzehnte verloren.
Der Sahel ist unbestritten ein Grenzraum für menschliche Aktivitäten. In der Vergangenheit misslang die Ernte durchschnittlich alle fünf Jahre. War sie aber in den Jahren dazwischen befriedigend, wirkten die vollen Speicher, der gute Gesundheitszustand von Mensch und Tier und eventuelle finanzielle Rücklagen als Puffer. In den letzten zehn Jahren hat die Region jedoch drei Missernten überstehen müssen, dieses ist die vierte seit 2004. Schon vor der großen Not erschöpft und an ihren Grenzen der Überlebensfähigkeit, haben die Menschen dem Hunger nichts entgegenzusetzen. Der Einfluss des Klimawandels tritt wohl in kaum einer Erdregion deutlicher zum Vorschein als in der Sahelzone.
Zur Missernte des Jahres 2011 gesellen sich zu allem Überfluss Scharen von Wandernden. Einerseits drängen Flüchtlinge aus Mali, im Gepäck nicht viel mehr als ihr nacktes Leben, an die Außengrenzen des militärgeputschten Wüstenstaates; alleine Burkina Faso hat, obwohl selbst am Ende seiner Reserven, über 50.000 weitere hungrige Mäuler zu stopfen. Andererseits kehren aus Libyen tausende ehemalige Soldaten, nach Gaddafis Sturz nunmehr arbeitslos, mit leeren Taschen in ihre Heimatländer – zumeist Niger und Tschad - zurück. Die gesamte Region ist nach den Ereignissen des Vorjahres in Libyen destabilisiert und krisengebeutelt, und ein Ende der Unruhe ist nicht in Sicht.
Fassen wir die direkten Auslöser der nahenden Hungerkatastrophe noch einmal zusammen: Eine dürrebedingte Missernte, zumindest teilweise bedingt durch den Klimawandel, verschärft durch die politische Instabilität der gesamten Region in Folge des Libyenkriegs, resultierend in erhöhten Wanderungsbewegungen. Begnügen wir uns an dieser Stelle mit der sehr vereinfachten Version, die nicht auf Wirtschaftskrisen des globalen Nordens, willkürliche Grenzziehungen auf dem afrikanischen Kontinent, verfehlte Landnutzungskonzepte, degradierte Böden, Gewässer und Gehölzbestände, Landraub, Nahrungsmittelspekulationen oder die dadurch verursachte Explosion der Lebensmittelpreise eingeht.
Fest steht, dass die drohende Hungersnot im Sahel durchaus schon lange vorhersehbar war. Bereits im Erntemonat Oktober warnten internationale Hilfsorganisationen vor der nahenden Krise. Seit Dezember 2011 sind immer wieder Alarmsignale ausgesendet worden - sie verhallten weitgehend ungehört. Ein halbes Jahr nach den ersten Hinweisen wird nun endlich weltweit Alarm geschlagen. Die Hilfsorganisationen haben bis heute noch nicht einmal ein Viertel der Gelder loseisen können, die benötigt werden, um zumindest einen Teil der Betroffenen vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und mit jedem Tag, der vergeht, steigen die zu leistenden Ausgaben, denn ein gesundes Leben zu erhalten ist bedeutend einfacher und günstiger als ein halb verhungertes Leben zu retten. Tatsache ist, dass es die Kinder sind, die dem Hunger am kürzesten trotzen können.
Die Weltgemeinschaft (das sind wir) hat genau jetzt die Gelegenheit, es besser zu machen als am Horn von Afrika, wo die Welle internationaler Solidarität trotz rechtzeitiger Warnungen langsam - zu langsam - angerollt ist. Die gute Nachricht: es ist noch nicht zu spät, das Schlimmste abzuwenden. Die schlechte Nachricht: es wird sehr bald zu spät sein.
Dorothea Kulla ist Diplom-Geografin und hat als 'Kurzzeitfachkraft' ein Projekt mit Bauernorganisationen in Burkina Faso unterstützt. Sie arbeitet freiberuflich als Expertin zu Fragen der Landwirtschaft.