Im Mai fand in Donezk eine von RLS finanzierte kleine Konferenz zum Thema Aids statt, ein ausführlicher Bericht wird folgen. Vorab nur schon einige Beobachtungen, die ich in den Kaffeepausen gemacht habe. Die Kaffeepausen sind bei jeder Konferenz eine wichtige Sache, bei einer politischen Konferenz in der Ukraine aber ganz besonders. Das was auf dem Podium gesagt wird und das, was in den Kaffeepausen gesagt wird, ergänzt sich sozusagen. Die Kaffeepausen sind wie der historisch-kritische Kommentar in einem Band hermetischer Lyrik.
Eine gute Nachricht ist, dass alle Organisationen und Institutionen, die bei der Konferenz vertreten waren, auf der praktischen Ebene inzwischen zusammenarbeiten. Das war vor sechs oder sieben Jahren, als wir die meisten von ihnen kennenlernten, noch anders. Zu sehen, wie sich jeder mit jedem beim Kaffee unterhielt, vermittelte mir den starken Eindruck, dass trotz aller ideologischen Differenzen, trotz aller Konkurrenz im Alltag ein produktives friedliches Miteinander eingekehrt ist.
Eine weniger gute Nachricht ist, dass dies je schlechter funktioniert, je ferner man sich von der Basis befindet. Über den Verbleib der Millionenbeträge, die der ‹Global Fund› erneut zur Bekämpfung von Aids und Tuberkulose ins Land gepumpt hat, wissen zumindest die Organisationen, die konkret mit HIV- und TB-Patienten arbeiten, wenig. Immerhin, die ausreichende Versorgung mit Medikamenten ist inzwischen gewährleistet. Das war vor wenigen Monaten noch anders. Außerdem wird die Präventionsarbeit der beiden großen landesweit agierenden NGOs weiter finanziert. Der Löwenanteil allerdings, so mutmaßen die Anwesenden achselzuckend, wird «versickern», genauso sicher, wie dem ‹Global Fund› am Ende ein wasserdichter Verwendungsnachweis präsentiert werden wird.
Gut wiederum war es zu erleben, wie politisch die anwesenden Organisationen diskutierten. Mehrere von ihnen forderten die Stärkung von Patientenrechten bzw. Bürgerrechten insgesamt. Es sei nicht damit getan, die Organisationen zu finanzieren, die sich mit der Aids-Bekämpfung beschäftigten. Die betroffenen Menschen selbst müssten einen Anspruch auf ausreichende Finanzierung erhalten. Vertreten wurde diese Position besonders von der ‹Caritas Ukraine›, eine Organisation die für ihre selbstbewussten Positionen bekannt ist, aber auch von Angehörigen des All-Ukrainischen Netzwerks der Aids-Selbsthilfen - einer großen Organisation und direktem Grant-Empfänger des ‹Global Fund›, die einen Zusammenschluss von Betroffeneninitiativen darstellt, in denen sich ursprünglich zum überwiegenden Teil Drogenabhängige trafen, da der Hauptverbreitungsweg von HIV in der Ukraine lange verunreinigte Spritzen waren. Diese Menschen, die wir vor wenigen Jahren noch als Junkies kannten und für die «Selbsthilfe» nicht weit von Selbstbedienung lag, nun so selbstbewusst und politisch klar zu erleben, war für mich der stärkste Eindruck dieser Konferenz.
Ermutigt werden solche Bürgerrechtspositionen dadurch, dass es seit kurzem auch in mehreren nationalen Ministerien Gremien gibt, die sich mit Entwürfen eines Sozialrechts befassen, und in die auch Experten aus regierungsfernen Kreisen eingeladen sind. Diese Entwicklung ist für die Ukraine völlig neu, wir warten gespannt, was sich aus ihr ergibt.
Daher fällt es - zumindest mir - auch noch schwer, sie politisch einzuordnen. Sie bildet in jedem Fall keinen Widerspruch zu den jüngsten Einschränkungen der Meinungsfreiheit, für die auch Ivo Georgiev im letzten Newsletter des Osteuropareferats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beispiele anführte. So wenig wie Zuckerbrot und Peitsche, wie es eine Konferenzteilnehmerin formulierte. Aber das war natürlich absolut beiseite gesprochen, so etwas hört man nur in der Kaffeepause.
Autor: Karsten Hein