Die radikalen Kürzungen bei der sozialen Sicherung finden vor dem Hintergrund der steigenden Ausgaben für Streitkräfte und Polizei statt.
Ende 2014 hat die Parlamentskoalition das neue Kabinett von Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk gebilligt. Die Verhandlungen über einzelne Regierungsposten dauerten einen Monat lang – weder der Kollaps der Wirtschaft, noch der Krieg in der Ostukraine hatten die Parteispitzen dazu bewogen, sich zu beeilen.
Der 39jährige Arsenij Jazenjuk trat im Februar 2014 an die Spitze der Regierung nachdem sich Präsident Janukowitsch vor der Wut der Protestierenden nach Russland gerettet hatte. Da Jazenjuk dank der Majdan-Proteste an die Macht gekommen war, bezeichnete er sich selber gerne als «Kamikaze», als politischen Selbstmörder. Bezugnehmend auf die komplizierte Lage im Land deutete er darauf hin, dass die Macht für ihn kein Privileg gewesen sei, sondern eine schwere Last. Pathetische Reden in den ministeriellen Sesseln über die «Selbstmörder» sollten die Protestierenden auf dem Majdan überzeugen, dass die Übergangsregierung nicht für lange gedacht ist und sich auf die dringlichsten Fragen konzentrieren wird.
Es ist aber anders gelaufen und der «Kamikaze» – Anführer der kriegs- und kampfbereiten populistisch-patriotischen Partei «Narodnyj Front» (Volksfront) hat seine Machtposition gefestigt. Vor kurzem hat der Ministerpräsident die Ergebnisse seiner Tätigkeit in den letzten neun Monaten so beschrieben:
«Wir haben zwei Pakete strenger Sparmaßnahmen verabschiedet, das Programm der Ermäßigungen und Zuschläge für sozial Schwache komplett neu gestaltet, eine Reihe der Zuschüsse und Sozialprogramme gestrichen, die Besetzung der staatlichen Behörden um 10 Prozent reduziert, um die Ausgaben des Staatshaushalts zu kürzen. Wir haben neue Steuern eingeführt, die Regulationspolitik geändert, manche Kontrollbehörden abgeschafft und die Vollmacht der Verbliebenen eingeschränkt […]»
Zum Kreis derer, denen die sozialen Zuschläge faktisch gestrichen wurden, gehören die «Kinder des Krieges» (Menschen, die als Kinder zwischen 1941-1945 Kriegshandlungen erlebt haben), die Einwohner der verseuchten Gebiete Tschernobyls, sowie pensionierte Soldaten. Außerdem wurde die Vollmacht der Behörden erweitert, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in unbezahlten Urlaub zu schicken.
Im Februar hat Jazenjuk zum zweiten Mal seine Regierung formiert. Diesmal aus den Vertretern der vier Parteien, die die Parlamentswahlen im Herbst 2014 gewonnen haben: Narodnyj Front (Arsenij Jazenjuk), Blok Petra Poroschenka (Partei des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko), Bat’kiwschtschyna (Vaterland von Julia Tymoschenko) und Radykalna Partija (Radikale Partei von Oleg Ljaschko).
Um die Unterschiede zur Vorgängerregierung unter Janukowitsch zu betonen, wurde ein wahres Schauspiel vorgeführt. Es wurde angekündigt, dass Anwärter für Ministerposten von internationalen Rekrutierungsagenturen ausgewählt werden. Dieses Verfahren sollte eine hohe Professionalität und Unabhängigkeit garantieren. So hat man in die Regierung drei Ausländer eingeladen. Zum Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel ist der Privatunternehmer aus Litauen Aivaras Abromavicus gekürt worden, zum Gesundheitsminister – der Georgier Aleksandr Kvitashvili, der frühere Minister für Gesundheitswesen in Georgien, zur Finanzministerin – die US-Amerikanerin ukrainischer Herkunft Natalia Yaresko.
Einige weitere Ministerien sind in den Händen der Manager großer Privatunternehmen gelandet, die, genauso wie die Ausländer, angeblich «unabhängige Experten» und effiziente Technokraten sein sollen, ohne korrumpierte Beziehungen zu den alten ukrainischen Eliten. So wurde Andrij Pyvovarskyj zum Infrastrukturminister ernannt, der früher für korporative Finanzen in privaten Investitionsunternehmen zuständig war. Das Umweltschutzministerium hat der Rechtsanwalt und Mitbesitzer einer großen juristischen Gesellschaft Ihor Shevchenko übernommen. Präsident Poroschenko war so begeistert von der Zusammensetzung des neuen Ministerkabinetts, dass er es gleich zur «allerbesten Regierung in der ukrainischen Geschichte» erklärte.
Doch auch diese Regierung müsste zunächst die Alltagsprobleme der Bevölkerung lösen. Die Ausgangslage für die Allgemeinbevölkerung ist von der mangelhaften Elektrizitätsversorgung bestimmt. Derzeit gibt es täglich 4 bis 6 Stunden keinen Strom und er kann jeden Moment ohne Vorwarnung abgeschaltet werden. Dies wird «Fächerausschaltung» genannt und wurde letztes Mal Mitte der 90er praktiziert, als das Land die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion zu bewältigen hatte.
Die «Fächerausschaltung» steht wieder auf der Tagesordnung, weil die Energieversorgung der Ukraine mit den Herausforderungen des Winters und dem Mangel an Brennstoffen nicht klar kommt. Die für die Versorgung notwendige Steinkohle wird im Donezkbecken abgebaut, in einem Gebiet, das nicht mehr unter der Kontrolle der Kiewer Regierung steht. Der Krieg und die zerstörten Straßen machen Kohletransporte unmöglich und gefährden so die Leistungsfähigkeit der Elektrizitätswerke. Der ukrainische Bedarf an Elektrizität wurde zur Hälfte durch Atomstrom abgedeckt aber die Leistungen der Atomkraftwerke sind auch begrenzt.
Das Bild vervollständigt die Entwertung der Hrywnja, der ukrainischen Nationalwährung, die im Jahre 2014 rapide an Wert verloren hat. Dies hat sich entsprechend bei allen Importwaren widergespiegelt. Medikamente, Haushaltsgeräte, einige Lebensmittel und Brennstoffe sind viel teurer geworden. So sind die Preise für einige Medikamente während des Jahres um 100 Prozent gestiegen. Dazu hat die Regierung 2014 die Nebenkosten, wie Heizung, Gas und Wasser für Wohnungen – wesentlich erhöht. Diese sollen noch weiter steigen.
Der einfache Vergleich zeigt: die Mindestrente in der Ukraine beträgt 52 EUR (959 Hrywnja), der Mindestlohn 75 EUR (1.378 Hrywnia). Die Nebenkosten für eine 30 qm²große Einzimmerwohnung in Kiew machen 30 EUR (560 Hrywnia) aus. Wenn man dazu noch den Rückgang der Produktion um 10 Prozent in den letzten elf Monaten mit entsprechendem Anstieg der Arbeitslosenzahl rechnet, kommt man auf ein mehr oder weniger realistisches Bild davon, was ukrainische Bürger im Jahr 2015 erwartet.
Es scheint, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Die neuen Minister haben aber auch ihren Beitrag zu dieser scheinbar aussichtlosen Situation geleistet. Besonders viel Aufmerksamkeit hat die Finanzministerin Natalia Yaresko auf sich gezogen. Sie hat eine merkwürdige Biografie. Mitte der 90er Jahre leitete sie die Wirtschaftsabteilung der US-amerikanischen Botschaft in Kiew. Danach verdiente sie ihr Geld mit Anlagegeschäften. Als sie an die Spitze des Finanzministeriums stieg, initiierte Frau Yaresko den ultraliberalen Plan für die Kürzung der Ausgaben im Staatshaushalt.
Ihre Ideen greifen so weit, dass man sie zunächst für den Versuch gehalten hat, die neue Regierung zu diskreditieren. Der Plan hat sich aber nicht als Schlagzeile in der gelben Presse entpuppt, sondern als ein reales Dokument. Die Maßstäbe der vorgeschlagenen Kürzungen sind verblüffend.
Eine der bedeutendsten Kürzungen ist wohl die Absicht der Regierung, die Schulpflicht für alle Bürger und Bürgerinnen von 11 auf 9 Jahre zu reduzieren. In der Tat möchte der Staat das Recht auf eine kostenlose Mittelschulbildung nicht mehr garantieren. Es wird auch vorgeschlagen, die gebührenfreie Hochschulbildung und die medizinische Versorgung abzuschaffen, sowie das Angebot an öffentlichen Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen zu verringern, wobei die bestehenden Einrichtungen ohnehin zu wenig sind. Viele Bürger müssen bereits jetzt 8 bis 10 Kilometer mit unregelmäßig fahrenden und oft überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln in schlechtem Zustand zurücklegen.
Es gibt aber noch weitere, nicht weniger erschreckende, Ideen:
• Die kostenpflichtige Ernährung in den Krankenhäusern einzuführen. (Derzeit wird die Lebensmittelversorgung in den medizinischen Einrichtungen noch von der staatlichen Krankenversicherung abgedeckt).
• Die Studienzuschüsse für besonders leistungsfähige Studierende sollen abgeschafft werden.
• Die kostenfreie Verplegung der Grundschüler soll gestrichen werden.
• Die Nutzung des öffentlichen Verkehrs für Schüler, Studierende und Pädagogen (eine der am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen in der Ukraine) soll kostenpflichtig werden.
• Die Haushaltsermäßigungen für Rentner und Menschen mit Behinderungen sollen monetarissiert werden. Das heißt, statt Ermäßigungen sollen kleine kleine Geldzuschüsse ausgezahlt werden, was beim derzeitigen permanenten Haushaltsdefizit zu längeren Verzögerungen führen kann.
• Die Arbeitszeiten der Lehrer und Hochschuldozenten zu erhöhen, die ohnehin das zwei- bis dreifache im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen arbeiten und wesentlich schlechter bezahlt werden.
• Die Zuschläge für Beamte mit wissenschaftlichen Graden werden gestrichen.
• Die Gesamtzahl der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wird um 3 Prozent gekürzt.
• Das Rentenalter wird auf 65 erhöht, wobei die durchschnittliche Lebensdauer der ukrainischen Männer 67 Jahre und der Frauen 73 Jahre beträgt.
• Die Auszahlung der Löhne wird eingefroren.
• Die Indexierung der Renten wird für ungewisse Zeit auf Eis gelegt.
• Günstige Angebote für Kuren und Prophylaxe bei Erkrankungen von Schulkindern in Kindereinrichtungen werden abgeschafft.
Für eine durchschnittliche Familie bedeuten diese Neuigkeiten eine finanzielle Katastrophe. Noch vor der letzten Krise machte die Ernährung gut eine Hälfte der Familienkasse aus. Bei den laufenden Preis- und Nebenkosten-steigerungen wird eine solche Familie den Großteil ihres Einkommens nur für ihr Überleben ausgeben müssen. Zusätzlich anfallende Ausgaben wie z.B. für einen Kühlschrank oder einen Wochenendausflug sind nicht mehr bezahlbar. Und das betrifft viel zu viele Einwohner unseres Landes.
Dasselbe kann man von der (kostenlosen) Verpflegung der Grundschulkinder und ihrer Gesundheitsvorsorge sagen. Diese Normen gelten ohnehin nur für die Bevölkerung, die in den von der Tschernobyl-Katastrophe verseuchten Gebieten lebt. Jetzt möchte man sogar diese streichen.
Als die Öffentlichkeit verstand, dass der Plan von Frau Yaresko kein Witz war, sind viele unzufriedene Stimmen laut geworden. Weitere Beratungen des Staatshaushalts 2015 wurden danach nur hinter verschlossenen Türen abgehalten. Keiner der Abgeordneten hat den aktuellsten Haushaltsentwurf vor der Abstimmung auf dem Tisch gehabt. Die volle Version des entsprechenden Gesetzes bleibt nach wie vor unveröffentlicht.
Bekannt geworden ist aber, dass das Parlament den Vorschlag der Regierung gebilligt hat, die Dreizimmerwohnungen, Autos und Privathäuser der Bürger zusätzlich zu besteuern. Die Wohnverhältnisse der Ukrainer sind als suboptimal zu bezeichnen. Laut Statistik stehen jedem Bürger 23 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Dies ist die Hälfte einer durchschnittlichen EU-Wohnung. Dabei ist eine traditionelle ukrainische Dreizimmerwohnung alles andere als Luxus. Sie ist meistens unter 70 Quadratmeter groß und wird von drei bis fünf Menschen bewohnt.
Aber selbst wenn der Sparentwurf der Finanzministerin im verabschiedeten Gesetz nicht im vorgeschlagenen Rahmen umgesetzt wird, bleibt die Selektivität der Sparmaßnahmen unübersehbar. Gespart wird in einem engen sozialen Segment und betroffen sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft– Kinder, Studierende, Rentner und Menschen mit Behinderungen. Verlieren werden auch die Pädagogen und Mediziner – in der Ukraine kriegen sie ohnehin nur einen Mindestlohn (ca. 70 bis100 EUR) und gehören zu den sozial Schwachen.
Dabei wird der Löwenteil der finanziellen Mittel an die Innen- und Verteidigungsministerien gehen, ihre Haushalte verdoppeln sich dieses Jahr.
Anzumerken ist auch, dass es den Schlüsselfiguren aus dem oligarchischen Umfeld des Ex-Präsidenten Janukowytsch nach wie vor gut geht. Im Vergleich zu 2013 ist der Umfang des in die Freihandelszonen ausgeführten Kapitals um ein Viertel gestiegen.
Die neue Regierung hat Großunternehmen bewusst nicht kontrolliert und sie ca. 20 Milliarden Euro aus dem Land ausführen lassen. Dieses Geld verkehrt jetzt in steuerfreien Zonen und dem ukrainischen Staat entgehen Steuergelder in beträchtlichem Umfang.
Der Zynismus der ukrainischen Regierung reicht noch weiter. Durch die Erhöhung der Nebenkosten der ohnehin armen Bevölkerung werden die Millionenschulden der privaten energiegewinnenden Unternehmen abgedeckt. So hat das Unternehmen Sapadenergo (Westenergie) des Oligarchen Rinat Akhmetov für den Kauf staatlicher Steinkohle eine Ratenzahlung über 20 Jahre mit einer Zinshöhe von 10 Prozent bewilligt bekommen. Die Zinslast würde sich auf fast 21 Mio Euro belaufen. Da die Inflation der Hrywnja jedoch sehr hoch ist (etwa 24 Prozent 2014), wird sich diese Zinslast bis 2034 soweit entwertet haben, dass Sapadenergo dem Staat nichts mehr zurückzahlen muss. Das bedeutet in der Tat, die Schulden des großen Kapitals werden gestrichen. Und diese Geschichte ist nicht die einzige.
Ende Januar ist der Krieg in der Ostukraine intensiver geworden. Die Kämpfe zwischen ukrainischer Armee und pro-russischen Separatisten lassen der friedlichen Bevölkerung keine Chance.
Und der Regierung dient der Krieg als universale Rechtfertigung für drastische Kürzungen ihres Sozialhaushaltes zu Lasten der ohnehin schwächsten Glieder ihrer Gesellschaft.
Vitaly Atanasov im Dezember 2014
Übersetzung: Nelia Vakhovska
Vitalii Atanasov ist politischer Analyst und Journalist, schreibt über gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme, Menschenrechte, soziale Bewegungen, Nationalismus und Rechtsradikalismus. Von ihm ist auch der Film «Voices of Protest» der mit finanzieller Unterstüzung der Rosa Luxemburg Stiftung entstand.