Bericht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Kultur / Medien - Digitaler Wandel - International / Transnational - Amerikas - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Commons / Soziale Infrastruktur - Digitalisierung und Demokratie Wissen teilen statt besitzen

In Mexiko-Stadt tauschten sich Programmier*innen mit sozialen und politischen Initiativen über politische Dimensionen und Perspektiven freier Software aus.

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Autor

Erwin Anders,

Wir setzen auf freie Software. Denn sie entspricht dem Denken, das unser Volk schon seit 2000 Jahren hochhält: Wissen teilen statt besitzen. Das ist unsere Kosmovision, unser Verständnis von der Welt. 

Bulmaro Ventura, Zapoteke aus Mexiko Stadt, Mitbegründer von AMI, «Versammlung indigener Migrant*innen» in: www.ekd.de

Schon seit mehreren Jahren organisiert die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko zusammen mit dem Projektpartner AMI Software-Workshops für Indígenas und erstellt Videotutorials zur Benutzung von WordPress, einem freien Content Management-System, um die Gemeinden und Organisationen zur Anwendung alternativer Medien- und Kommunikationstechnologien zu ermutigen. Zudem werden Fortbildungsangebote zur Nutzung freier Software[1] (im Folgenden mit «FS» abgekürzt) entlang spezifischer Bedürfnisse für alle Projektpartner und Verbündete angeboten.

Aktuell baut das Büro die dritte Säule seiner FS-Initiative auf. Vom 8. bis zum 10. Oktober 2012 fand in Mexiko-Stadt eine außergewöhnliche internationale Konferenz mit dem etwas sperrigen Titel «Beiträge der Freien Software zu den Kämpfen der Linken. Elemente für eine kollektive Reflexion» statt.

Das Organisationskomitee[2] hatte eine Auswahl an Hacker*innen, sozialen Aktivist*innen, politischen Akteure, Vertreter*innen indigener Gemeinden, Wissenschaftler*innen und Entwickler*innen aus zwölf Ländern[3] (mehrheitlich aus Lateinamerika) eingeladen, um mit ihnen gemeinsam über die gesellschaftliche Rolle und politische Bedeutung von freier Software nachzudenken. Fernziel ist laut Büroleiter Torge Löding, ein transnationales Forum zu FS zu etablieren.

Das Büro in Mexiko spielt technopolitisch eine Vorreiterrolle innerhalb der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Während dort seit Jahren aus politischer Überzeugung freie Software wie Linux statt Windows und Open Office statt Microsoft Office benutzt wird, läuft in den anderen RLS-Büros noch weitestgehend proprietäre Software, also kommerzielle Software ohne öffentlichen Zugriff auf den Quellcode. Auch in der Berliner Zentrale mangelt es bisher an einer politisch-strategischen Diskussion zur Nutzung von freier Software und Open Source-Programmen.

An kritischem Bewusstsein fehlte es hingegen nicht auf der Konferenz in Mexiko. Kein Bildschirm zeigte ein Logo mit bunten Fenstern. Kein angebissener Apfel leuchtete irgendwo. Die gemeinsame Haltung war: FS verbessert die Bedingungen gesellschaftlicher Partizipation und Teilhabe. Aber wieso? Warum soll die Wahl eines digitalen Werkzeuges Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse haben? «Freie Software mit Copyleft-Lizenzen erlaubt die freie Distribution, Vervielfältigung und Modifikation der Software. Darin liegt ihre große Bedeutung für die linke Bewegung», formulierte es Enrique Rosas von mayfirst Mexiko, Mitorganisator der Konferenz.

Es geht bei diesem Thema um mehr als die Beschaffenheit von Software. Es geht um nicht profitorientierte Produktion und Verteilung, es geht um einen unbeschränkten Zugang zu Information, um gemeinschaftliche Güter statt Privateigentum, um Unabhängigkeit, Autonomie und Selbstermächtigung. FS bietet die Möglichkeit «zur Demokratisierung der Internetnutzung und des Einsatzes von digitalen Anwendungen». Weil die Entwickler*innen von FS selbst die Verfügungsgewalt über ihre Produktionsmittel besitzen und die «Baupläne» (Quellcodes) allen zur Verfügung stehen, sind in diesem Bereich andere Produktionsformen möglich. Das immaterielle Produkt kann unbegrenzt oft ohne hohen Aufwand oder Qualitätsverlust kostenlos vervielfältigt und an reale Bedürfnisse angepasst werden und ermöglicht so eine demokratische, nutzungsorientierte Verteilung ohne rechtliche oder finanzielle Schranken.

Das führt uns zwar noch nicht in eine neue Gesellschaft, wie zum Beispiel Vertreter*innen des politischen Projektes Oekonux schon vor Jahren konstatierten (FS als «Keimzelle einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft»). Es eröffnet aber der Linken Möglichkeiten, neue Formen solidarischen Wirtschaftens real auszuprobieren, weiter zu entwickeln und zu popularisieren.

Mit offenen Quellen gegen Imperialismus

Diskutiert wurde im Oktober in der entspannten Atmosphäre eines ehemaligen Klosters im Süden von Mexiko-Stadt in mehreren Workshop-Phasen, die sich mit spezifischen Fragestellungen zu FS beschäftigten. Überwiegend positiv wurde zum Beispiel die Frage beantwortet, ob die Entwicklung und Nutzung freier Software zur Herausbildung einer technologischen Gegenmacht führen kann. Ansätze sind bereits vorhanden: freie Funknetze; freie Radios; unabhängige, (daten-)sichere Kommunikationstools; soziale Prozesse werden vorangetrieben durch kooperative Nutzung. FS-Produkte dienen als Werkzeuge der Befreiung und Selbstermächtigung in indigenen Gemeinden und anderen gesellschaftlich benachteiligten sozialen Gruppen.

In der Debatte über die spezifische Bedeutung freier Software für die Bevölkerung der Peripherie wurde dies deutlich. Als eine Besonderheit des Verhältnisses zwischen globalem Norden und globalem Süden wurde konstatiert, dass im Gegensatz zu den herkömmlichen historischen Erfahrungen des Technologietransfers FS nicht dazu beiträgt, weitere postkoloniale Abhängigkeiten und Herrschaftsverhältnisse zu etablieren, sondern im Gegenteil durch ihre Quellenoffenheit Ressourcen und Werkzeuge für Prozesse technologischer Aneignung zur Verfügung stellt. Dies materialisiert sich zum Beispiel in der Bereitstellung unabhängiger Kommunikationsdienste für soziale Akteure durch linke Provider-Kollektive (riseup.net / mayfirst.org / espora.org), aber auch in Bildungsprojekten (www.labdoo.org), in der kommunalen Arbeit, in der Vernetzung und Kommunikation von Menschenrechtsgruppen und sozialen Bewegungen (Cereza / www.indigenasdf.org.mx).

Magda Brito de Toste, Direktorin des Joven Club in Kuba, zeigte sich positiv überrascht: «Ich bin sehr erstaunt, wie viele interessante Projekte in anderen Ländern realisiert werden, obwohl es keinen erklärten politischen Willen zum Wechsel gibt wie bei uns in Kuba. Trotzdem passiert viel in diesen Ländern, basierend auf aktiven Gemeinden und engagierten Netzwerken.» (siehe Interview / in spanischer Sprache)

Nicht nur Kuba wendet sich ab von proprietärer Software. Auch in anderen links und mitte-links regierten Ländern Lateinamerikas wie Venezuela, Ecuador, Bolivien oder Brasilien wird die Migration zu FS vorangetrieben. Damit taucht eine neue Frage auf: Wie viel Bürokratie verträgt freie Software? Die Teilnehmer*innen sind sich der Gratwanderung zwischen staatlicher Institutionalisierung freier Softwareplattformen und kommunaler Selbstverwaltung bewusst. Die Bedingungen für eine Verbreitung von FS-Alternativen in der Bevölkerung verbessern sich jedoch mit staatlicher Hilfe. Die genannten Regierungen schaffen in unterschiedlichem Maße gesetzliche Grundlagen und politische Rahmenbedingungen, initiieren Bildungsprogramme und unterstützen finanziell und administrativ Entwicklung und Distribution. Das Beste aus beidem ist wünschenswert, so ein Fazit aus der Diskussion: IT-kompetente Gruppen und Organisationen, die sich für soziale und politische Inklusion engagieren und staatliche Unterstützung, die Bürokratismus vermeidet.

Braucht die Linke Freie Software?

Es gibt weitere Gründe[4] auf freie Software zu setzen: Pedro Lugo aus Venezuela ist blind und entwickelt FS für barrierefreie Kommunikation. Sein Kollektiv Un Mundo Accesible («Eine Welt ohne Schranken») informiert über technische Möglichkeiten zur Nutzung von Computer und Internet für Menschen mit Behinderung. Für Pedro ist die Entwicklung freier Software notwendig zur Beseitigung sozialer Ungleichbehandlung: «Es gibt viele proprietäre Software-Programme für Menschen mit Behinderung, aber sie sind sehr teuer. Ein Screenreader zum Beispiel kostet Tausende von Dollar. Die meisten können das nicht bezahlen.»

Für Alejandro und Francesco Cerezo von der Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo steht die Kommunikationssicherheit im Vordergrund: «Menschenrechtsverteidiger*innen brauchen eine unabhängige, sichere Kommunikationsstruktur. Sie brauchen anonymisierte Wege, die nicht von staatlichen oder privaten Institutionen kontrolliert werden können, um ihre Berichte und Verlautbarungen zu veröffentlichen. Das war der Punkt, an dem wir angefangen haben, uns mit freier Software zu beschäftigen. Wenn wir über Kommunikationssicherheit reden meinen wir nichts Geringeres als die Rettung von Menschenleben, denn Verteidiger*innen von Menschenrechten sind in Mexiko oft von Verschleppung und Tod bedroht.» (siehe Interview)

Carlos Duarte aus Mexiko arbeitet als FS-Aktivist an einem selbstlernenden Übersetzungsprogramm. Er beschäftigt sich schon länger mit indigenen Sprachen – allein in Mexiko gibt es ungefähr 60 indigene Gruppen mit jeweils eigener Sprache. Wie auch einige andere Aktivist*innen anmerkten, ist die Möglichkeit der Lokalisierung (Übersetzung und Anpassung) von Softwareprogrammen für die Nutzung in indigenen Gemeinden besonders wichtig. Bevor ein Programm benutzt werden kann, muss es verstanden werden. Oft gibt es für Begriffe aus der digitalen Welt keine Entsprechung in indigenen Sprachen, neue Wörter müssen gefunden werden. Das erfordert Diskussionen in der Kommune und einen Verständigungsprozess zwischen Entwickler*innen und Nutzer*innen, denn es geht nicht nur um Sprache, sondern auch um Kultur und Lebensweisen. FS-Entwickler*innen, die solche Lokalisierungen unterstützen, stehen also in engem Kontakt zu den Aktivist*innen in den Kommunen. Ein solcher partizipativer Prozess kann nur mit einer Technologie realisiert werden, auf die voller Zugriff besteht. Darin liegt auch das Potential der Selbstermächtigung, eine Verbindung zwischen «Software Libre» und «Educación popular» (Volksbildung). Übersetzungen für marginalisierte Gruppen auf diese Weise zu  realisieren, wäre mit einem Konzern wie Microsoft nicht vorstellbar und auch nicht bezahlbar.

Braucht Freie Software die Linke?

Héctor Capossiello, Hacktivist aus Chile, meinte, ein Problem sei der Mangel an Entwickler*innen mit politischem Bewusstsein: «Wir brauchen mehr politische Diskussionen in der Entwicklergemeinde, müssen mehr Leute gewinnen, an der Weiterentwicklung und Nutzbarmachung von Freier Software mitzuarbeiten.» Ein Einwand, der in der Diskussionsgruppe nicht unwidersprochen blieb. Das Problem sei nicht eine zu geringe Anzahl an Software-Entwickler*innen, sondern das Erkennen des gesellschaftspolitischen Potentials freier Software in den Bewegungen und Organisationen. Nicht nur Programmierer*innen seien verantwortlich für die Weiterentwicklung einer FS-Bewegung. Genauso wichtig sei die Einbeziehung von engagierten Bildner*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Distributor*innen, Grafiker*innen und Projektgründer*innen. Die Bewegung müsse sich gesellschaftlich breiter aufstellen.

Digitale Demokratie erfordert Zugang zu Technologie aber auch eine Bereitschaft dafür. Die Werkzeuge machen uns nicht demokratischer!

Die Tagung in Mexiko-Stadt hat gezeigt, dass dies möglich ist: Vertreter*innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen traten in einen produktiven Austausch über das soziale Potential einer Technologie. Viele möchten die Produktion und Nutzung quellenoffener Software auch als einen Kampfraum verstanden wissen, ähnlich den Kämpfen für Netzneutralität, gegen transnationale Urheber- und Patenrechtsabkommen oder gegen staatliche Überwachung. Viele Ideen und Kontakte wurden generiert. Für die Verbreitung freier Software ist es wünschenswert, dass solche interdisziplinäre Treffen weltweit öfter stattfinden und zu kontinuierlicher Zusammenarbeit führen.

Denn: Technologische Unabhängigkeit ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Transformation. Allerdings hat FS nur dann einen subversiven Charakter, wenn sie eindeutig gegen profitorientierte Verwertung gerichtet ist und ihre Verwendung in einen sozialen Kontext eingebunden ist. Sonst kann sie schnell die Rolle eines Katalysators neuer kapitalistischer Verwertungsmodelle erfüllen.
Bei den in Mexiko präsentierten Projekten ist diese Sorge unberechtigt.
 

Erwin Anders, Oktober 2012
 


[1] Es gilt zu unterscheiden zwischen «Freie Software» und «Open Source»:
Das Konzept «Freie Software» wurde Ende der 1970er Jahre initiiert von dem ehemaligen MIT-Mitarbeiter Richard Stallman, Gründer des GNU-Projektes und der Free Software Foundation. Der Entwickler Stallman hat sich entschieden, einen anderen Weg zu gehen als den der Privatisierung und Geheimhaltung von Quellcode. Das Konzept der freien Software basiert auf vier Prinzipien:

  • Die Freiheit, das Programm für jeden Zweck auszuführen (Freiheit 0).
  • Die Freiheit, die Funktionsweise des Programms zu untersuchen und eigenen Bedürfnissen der Datenverarbeitung anzupassen (Freiheit 1). Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.
  • Die Freiheit, das Programm weiterzuverbreiten und damit seinen Mitmenschen zu helfen (Freiheit 2).
  • Die Freiheit, das Programm zu verbessern und diese Verbesserungen der Öffentlichkeit freizugeben, damit die gesamte Gemeinschaft davon profitiert (Freiheit 3). Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.

Ein wichtiger Bestandteil freier Software ist das «Copyleft», eine anerkannte urheberrechtliche Nutzungslizenz, die festschreibt, dass Bearbeitungen des Werkes nur dann erlaubt sind, wenn alle Änderungen ausschließlich unter den gleichen Lizenzbedingungen weitergegeben werden. Copyleft garantiert also jeder/m Nutzer/in die Freiheit, weitere Kopien und Änderungen machen zu dürfen, egal ob für die Software Geld ausgegeben wurde oder nicht.

Die Free Software Community grenzt sich deutlich von der Open-Source-Bewegung ab. Mit dem Begriff Open Source (quelloffen) soll der Schwerpunkt auf die Verbreitung und Nutzung gelegt werden. Der Freiheitsgedanke, der bei GNU im Vordergrund steht, spielt deshalb eine untergeordnete Rolle. Die Vertreter*innen der Open Source-Bewegung argumentieren, dass offene Quellen zu besserer und preisgünstigerer Software führen als geschlossene, proprietäre Applikationen. Kommodifizierungen, also Inwertsetzungen der Produkte, sind dabei ausdrücklich erwünscht.
In dem Artikel wird nur der Begriff «Freie Software» (FS) verwendet, darin ist aber die Bezeichnung «Open Source» mit eingeschlossen.

[2] Das Team aus Organisator*innen spiegelt das Spektrum der Teilnehmer*innen wider:

[3] Mexiko, Kuba, Honduras, Kolumbien, Venezuela, Argentinien, Ecuador, Chile, USA, Kanada, Spanien, Deutschland

[4] Freie Software ermöglicht:

  • Unabhängigkeit, Autonomie und Selbstermächtigung
  • Gemeinschaftliche Arbeitsprozesse (Peer-toPeer)
  • Demokratische Beteiligung, horizontale Entscheidungsebenen
  • Gemeineigentum, Commons
  • Abbau von Wissenshierachien, offener Zugang zu Information
  • Dezentralisierung der Ressourcen
  • Lokalisierung und Kommunalisierung (Sprachen, spezifische Lebens- und Arbeitsweisen)
  • Infragestellung von Exklusivität, Privateigentum und Herrschaftsbeziehungen
  • Sicherheit in der Kommunikation, Datenschutz