Martin Diebel, Universität Jena berichtet auf HSozKult über die Tagung
Tagber: Konsensgesellschaften in der Krise? Grossbritannien und die Bundesrepublik seit den 1970er Jahren
die vom 9. - 10.07.2012, in Jena stattfand. Veranstalter waren das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Auf Einladung von DIETMAR SÜß (Jena) und WINFRIED Süß (Potsdam/Göttingen) diskutierten jüngere Historikerinnen und Historiker aktuelle Forschungsprojekte zur deutsch-britischen Geschichte seit den 1970er-Jahren. Im Mittelpunkt stand der Zäsurcharakter der Epoche "nach dem Boom".[1] Dabei ging es um unterschiedliche Bereiche: um Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, um Fragen von "Sicherheit" und "Ordnung", um das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft sowie um Kultur und Musik. In ihrer Einleitung stellten die Veranstalter den doppeldeutigen Begriff der "Konsensgesellschaften" zur Diskussion.
Einerseits nehme er die Wahrnehmung der Zeitgenossen ernst, dass die in der Nachkriegszeit etablierten wohlfahrtsstaatlich fundierten gesellschaftlichen Basiskompromisse und Politikmuster seit den 1970er-Jahren zunehmend in die Defensive geraten seien. Zugleich sei aber der "Konsensbegriff" nie wertneutral, sondern immer auch ein Element der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in beiden Staaten und zudem ein prägendes Narrativ der britischen Nachkriegsgeschichte gewesen, das seinen Höhepunkt in dem Moment erlebt habe, als gerade dieser vermeintliche "Konsens" in die Kritik geriet. Der Versuch, die Ambivalenzen dieses "Konsens" auszuleuchten, so eine Ausgangsüberlegung des Workshops, sei insbesondere für vergleichende und transfergeschichtlich angelegte Arbeiten viel versprechend. Zudem werde es möglich, die Debatten über die 1970er-Jahre stärker als bisher als Teil einer europäischen Geschichte zu schreiben und nach Kontinuitäten, Zäsuren, Wandlungs- und Lernprozessen westlich-demokratischer Gesellschaften zu fragen.
In diesem Sinn näherte sich JENNY PLEINEN (Trier) der Frage, inwieweit der Wechsel zu konservativen und tendenziell marktliberal orientierten Regierungen in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik mit ihrer Politik des "welfare retrenchment" den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskonsens auflöste. Am Beispiel der Debatten über soziale Ungleichheit zeige sich ein Wandlungsprozess weg von einem keynesianisch
geprägten und auf gesellschaftlichen Ausgleich angelegten Wirtschaftssystem hin zu einer Wirtschaftsordnung, die die Leitidee der sozialen Gerechtigkeit durch die Norm der Chancengerechtigkeit ersetzt habe, so dass marktvermittelte Ungleichheiten wieder stärker auf die Sozialstruktur durchgeschlagen seien. Im Kontrastbezug dazu gab die konservativ-liberale Regierung unter Helmut Kohl entgegen der zeitgenössischen Kritik keineswegs das "klassische" Modell der sozialen Gerechtigkeit auf. Für einen Politikwechsel fehlte in Westdeutschland die gesellschaftliche Basis, während die Vorstellung eines "public capitalism", der einer breiten Mittelschicht durch Vermögenserwerb die Wohlstandsteilhabe ermöglichen sollte, in den angelsächsischen Demokratien breiten Rückhalt fand. Insgesamt solle man also besser von einem Formwandel statt vom "Ende" des Konsenses sprechen.
Die heftigen Arbeitskämpfe in den altindustriellen Regionen wurden vielfach als Ausdruck für ein Ende des Nachkriegskonsenses betrachtet. ARNE HORDT (Tübingen) diskutierte auf der Grundlage seines Dissertationsprojektes über die Bergarbeiterstreiks in Nordwestengland sowie im Rheinland Ende der 1980er-Jahre die Frage, inwieweit das Scheitern einer Kompromissformel zwischen Gewerkschaften und Politik ein tatsächliches Ende des "Nachkriegskompromisses" symbolisierte.
Insbesondere über die Betrachtung der lokalen bzw. regionalen Ebene beider Montanregionen ließen sich Wahrnehmungs- und Deutungsmuster einer Gesellschaft im Umbruch von einer Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft nachvollziehen. Indes zeige die Analyse der Konfliktkonstellationen in der Montanindustrie, dass die Deutung von Krisen und die Wahrnehmung von Bedrohungen stets auch eine Frage von Interessen und politischer wie wirtschaftlicher Macht seien. Der Wandel korporatistischer Strukturen sei hier maßgeblich, der gleichwohl nicht plötzlich Mitte der 1980er-einsetzte, sondern einen langen Vorlauf gehabt habe, der mit dem Bedeutungsverlust alter Industriesektoren vor allem im Bergbau zusammengefallen sei.
Auch in anderen Bereichen waren die Brüche keineswegs scharf. Hierauf verwies WIEBKE WIEDE (Trier) mit ihrem Beitrag über Konzepte der Berufsberatung in der Bundesrepublik und Großbritannien. Sie machte darauf aufmerksam, dass die in den 1970er- und 1980er-Jahren wirkenden Krisenpolitiken auf dem Arbeitsmarkt bereits in der "planungsoptimistischen" Phase der 1960er-Jahre entwickelt wurden. Die wirtschaftlichen Krisen und Umbrüche wirkten daher stärker trendverstärkend als trendverändernd auf die Arbeitsmarktpolitik beider Staaten. Ein wichtiger Umstand, der insbesondere durch den Vergleich dieses Politikbereiches deutlich wird, war die Zunahme internationaler Verflechtungen, die zunehmend "Konsensallianzen" auf europäischer und transnationaler Ebene erforderten und damit die nationalstaatlichen Politiken vor neue Herausforderungen stellten.
Dem Wandel ordnungspolitischer Vorstellungen im Bereich der Sicherheitspolitik wandte sich ACHIM SAUPE (Potsdam) zu. Er fragte, in welchem Umfang in der Zeit "nach dem Boom" ein grundlegender - vor allem
semantischer - Wandel auf diesem Politikfeld zu beobachten sei. Die in den 1970er-Jahren einsetzenden strukturellen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wirkten sich nach Saupe direkt auf die Wahrnehmungen von Ordnung und Sicherheit aus. Zentral war hierbei die Frage, inwieweit die bundesdeutschen (Un-)Sicherheitsperzeptionen eine internationale Sonderstellung einnehmen. Damit berührten die Überlegungen Saupes einen zentralen Aspekt der Hypothese einer Gesellschaft "nach dem Boom", nämlich die einer "krisenhaften" Zuspitzung gesellschaftlicher Entwicklung. Seit dieser Zeit diente der Begriff "innere Sicherheit" der "innenpolitischen Legitimation von Staatlichkeit" (K. Weinhauer). Am gewandelten Bedeutungsinhalt dieses Begriffs würden zentrale gesellschaftliche Veränderungen sichtbar. Bezog sich die "innere Sicherheit" Anfang der 1970er-Jahre noch stark auf die Bedrohung durch den Terrorismus, rückten im Laufe der Zeit auch Gefährdungslagen durch technische Entwicklungen oder die organisierte Kriminalität in den Blickpunkt. Mit der Zunahme des Sicherheitsdenkens wurden wiederum zunehmend individuelle Rechte bedroht, womit die Diskussion um das Gleichgewicht zwischen innerer Sicherheit und individueller Freiheit zunehmend zu Spannungen zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft führte - der gesellschaftliche Konsens der "inneren Ordnung" der 1950er- und 1960er-Jahre wurde zurückgedrängt (Saupe).
Im Kontext der Diskussionen um "Sicherheit" stand auch der Vortrag von KLAUS WEINHAUER (Bielefeld). Dieser beschäftigte sich in seiner Untersuchung urbaner Kulturen in Hamburg, Liverpool und Amsterdam mit dem Phänomen großstädtischer Gewalt, das seit dem Ende der 1960er-Jahre verstärktes öffentlich-mediales Interesse erfuhr und Einzug in die Diskussion transnationaler Organisationen hielt (z.B. Interpol). Die Debatten um die "urban crisis" wurden dabei als Scheitern der Konzepte von Stadtplanern und Politikern aus den 1960er-Jahren interpretiert und fielen mit einer Phase verstärkter städtischer Krisenwahrnehmungen zusammen. Weinhauer deutete die Gewalt als einen Ausdruck der seit Ende der 1960er-Jahren einsetzenden Entwicklungen hin zu einer "Urbanisierung der Wohlstandsgesellschaft". Zentraler Aushandlungsbegriff, so Weinhauer, war hierbei wiederum der Begriff der "Sicherheit". Der Vergleich machte deutlich, dass es sich beim Problem Jugendkriminalität in Großstädten um ein internationales Phänomen handelte - nicht zuletzt, weil die Politiker in Europa eine Entwicklung ähnlich wie in den USA befürchteten, wo die urbanen Ballungsräume in zunehmendem Maß als unkontrollierbar galten. Anhand der Transferprozesse - so zum Beispiel der Einfluss der "Defensible Space"- Theorie (Oscar Newman) - kann aufgezeigt werden, dass städtische Jugendgewalt nicht als lokal, regional oder national begrenztes, sondern als international verbreitetes Phänomen betrachtet werden muss.
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