Termin der Konferenz: 06./07.12.2013, Berlin
Der Blick der Geschichtswissenschaft ist ihrem Gegenstand gemäß zunächst in die Vergangenheit gerichtet. Kann der Blick zurück aber darüber hinaus eine kritische politische Perspektive auf die Gegenwart ermöglichen? Die Tagung 'History is unwritten' widmet sich den Möglichkeiten und Fallstricken eines Bezugs auf die Vergangenheit, der sich auch einer besseren Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Gegenwart verpflichtet sieht.
Geschichtswissenschaft in die Arena gegenwärtiger Politik zu tragen, gibt zunächst Anlass zur Skepsis. Diese ist einerseits in den zahlreichen historischen Beispielen von Vergangenheitsbezügen begründet, die die Darstellung von Geschichte für die Stabilisierung von Machtverhältnissen instrumentalisierten. Darüber hinaus haben sich auch soziale Bewegungen mit einem emanzipatorischen Selbstverständnis der Geschichte bedient und eigene problematische Beispiele für eine vereinfachende und instrumentalisierende Traditionsbildung geliefert (z.B. die Heroisierung der KPD und der männlich-weißen Arbeiterbewegung). Es ließen sich angesichts der Homogenisierungen und Exklusionen, die auch Traditionsbildungen unter linken Vorzeichen vorgenommen haben, zahlreiche Gründe dafür finden, prinzipiell gegen eine politische Bezugnahme auf die Vergangenheit zu plädieren. Gleichwohl ist auch eine Geschichtswissenschaft, die sich selbst als unpolitisch begreift, ganz wesentlich von den politischen Verhältnissen der Gegenwart geprägt. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, sich mit diesen Verhältnissen auseinanderzusetzen und eine bewusste und selbstkritische Verortung darin anzustreben.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit birgt ein emanzipatorisches Potenzial, denn sie kann Gesellschaft als einen von politischen Subjekten gestalteten Prozess begreifbar machen – und damit auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse im Hier und Jetzt verweisen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse erscheinen so nicht mehr als unveränderliche Gegebenheiten, sondern als Prozesse, die von Menschen gestaltet und somit auch verändert werden können. Der Blick zurück eröffnet also nicht zuletzt die Möglichkeit, „die Welt im Licht ihrer nicht verwirklichten Möglichkeiten“ (Herbert Marcuse) zu betrachten.
In diesem Sinne soll die Tagung die Frage aufwerfen, was der global wirkmächtigen Erzählung über den Sieg und die Alternativlosigkeit des kapitalistischen Gesellschaftsmodells entgegengestellt werden kann. Durch das Verschwinden des realsozialistischen Lagers und die relative Schwäche der europäischen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften scheint auch die Artikulation einer „großen“ (Gegen-)Erzählung, etwa die der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung, in den letzten zwei Jahrzehnten ihr Ende gefunden zu haben. Vor diesem Hintergrund soll diskutiert werden, welche historischen Bezüge bei gegenwärtigen sozialen Kämpfen eine Rolle spielen und inwieweit durch diese neue gegenhegemoniale Erzählungen entworfen werden. Es stellt sich in diesem Sinne die Frage nach einer gemeinsamen Klammer, die die sehr heterogenen sozialen Bewegungen der Gegenwart einen könnte. Welche Rolle kommt der Geschichte in Bezug auf gegenwärtige Kämpfe um die Zukunft zu? Wie viel linke Identität darf und sollte über historische Bezüge hergestellt werden?
Für dieses Anliegen kommt der Verbindung von kritischer Geschichtsanalyse mit den Praxen sozialer Bewegungen in der Gegenwart zentrale Bedeutung zu - anders gesagt: dem Zusammentreffen von wissenschaftlicher Arbeit mit gesellschaftlichen Kämpfen. Dieses Zusammentreffen ist ein Spannungsfeld, das Potenziale und Gefahren birgt. Eine emanzipatorische wissenschaftliche Perspektive kann sozialen Bewegungen dabei behilflich sein, ein Verständnis ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte gesellschaftlicher Verhältnisse zu entwickeln. Vergangenheit kann hierbei als Fundus an Erfahrungen im Kampf um Befreiung dienen, sie kann somit Identitätsangebote und Traditionen für emanzipatorische Bewegungen liefern; Geschichte kann ein Mittel zur Selbstermächtigung und zur Stärkung von Handlungsfähigkeit sein. Hier liegt jedoch auch die Gefahr für die Geschichtswissenschaft, sich in den Dienst sozialer Bewegungen zu stellen und dabei homogenisierende und instrumentalisierende Lesarten der Vergangenheit zu liefern.
Das Potenzial sozialer Bewegungen für die Geschichtswissenschaft liegt unter anderem darin begründet, dass sie deren Prämissen, Modelle und Diskurse aus einer praktischen und politischen Perspektive heraus hinterfragen und herausfordern können – z.B. indem sie auf Leerstellen verweisen, etwa in Bezug auf gender, race oder Klasse. Aus dem Dialog zwischen Geschichtswissenschaft und sozialen Bewegungen können neue Ideen für die praktische Erforschung und Repräsentation von Vergangenheit entstehen. Zudem können soziale Bewegungen geschichtswissenschaftliches Wissen in eine genuin politische gesellschaftliche Arena tragen und dem kritischen historischen Wissen damit eine Wirkungsmacht verleihen, die über das unmittelbar akademische Feld hinausgeht. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass das Verhältnis von kritischer Geschichtswissenschaft und sozialen Bewegungen als vielversprechender Schnittpunkt zu denken ist, von dem aus produktive Transformationen für beide Seiten ausgehen können.
Wir bitten um Einreichung von Abstracts (max. eine halbe DIN-A4-Seite) und kurzen Angaben zur Person für die folgenden Themen (geplant sind Vorträge von ca. 20 min.):
Zwischen Akademie und Aktivismus: Zum Spannungsverhältnis von Geschichtswissenschaften und sozialen Bewegungen
- Wie verorten sich WissenschaftlerInnen, die ihre Arbeit innerhalb der akademischen Sphäre mit einem politischen Engagement verbinden?
- Wie positionieren sich AktivistInnen gegenüber wissenschaftlichen Institutionen?
- Wie ist das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und sozialen Bewegungen zu denken? Welche Probleme, welche Potenziale existieren, welche Möglichkeiten einer produktiven Vernetzung lassen sich ausmachen?
Geschichte in der 'Postmoderne': Das Ende der großen Erzählungen?
- Welchen Einfluss haben die Proklamationen vom Ende der 'großen Erzählungen' auf die Geschichtswissenschaften und auf die Vergangenheitsbezüge sozialer Bewegungen?
- Was wird gewonnen, was geht verloren mit der zunehmenden Verabschiedung von Konzepten wie Identität und Tradition und was bedeutet dies für den Entwurf alternativer Zukunftsvisionen?
- Wie lässt sich unter 'postmodernen' Bedingungen ein Bezug auf historische 'Traditionen' emanzipatorischer Kämpfe formulieren?
Workshops – Linke Geschichtspolitik: Kritische Praxen und Interventionen
In der Workshop-Phase werden praktische Ansätze linker Geschichtspolitik vorgestellt und diskutiert. Verschiedene Gruppen und Initiativen werden ihre Arbeit vorstellen und Einblicke in die ihre Praxis ermöglichen. Kritische Interventionen in Gedenkstätten, im urbanen Raum und in Museen sowie antifaschistische Erinnerungsarbeit sind mögliche Felder, die hier diskutiert werden sollen. Die Workshops ermöglichen dabei eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung in kleineren Gruppen, die zudem eine stärkere Vernetzung von Wissenschaft und Aktivismus befördern soll.
Wir bitten um Einreichungen bis Ende Juni 2013, eine Antwort soll im August 2013 erfolgen. Eine Publikation der Beiträge ist geplant.
Kontakt für Einreichungen und Nachfragen: unwrittenhistory[at]riseup.net
Organisation: AK Loukanikos in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Unterstützt von Sozial.Geschichte Online.
Der AK Loukanikos sind Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter. Sie beschäftigen sich seit längerer Zeit mit Fragen kritischer Geschichtswissenschaft und -politik und sind HerausgeberInnen des Bandes "Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation" (2012).