Prof. Rudolph Bauer rezensiert
Kirsten Tiedemann: Bremens Kaisenhäuser – Mehr als ein Dach über dem Kopf; Bremen: Verlag Bremer Tageszeitungen AG 2012. 135 S., 16,90 EUR (Bremer Zentrum für Baukultur, Schriftenreihe Band 16), ISBN 978-3-938795-39-2.
Im Zweiten Weltkrieg waren auch in Bremen viele Wohngebiete nicht vom Krieg verschont geblieben. Bombardements aus der Luft, insbesondere Flächenangriffe im August 1944, machten viele Bewohner, deren Häuser in der Nähe der Hafen- und Industrieanlagen gelegen sind, zu Obdach- und Wohnungslosen. Die meisten hausten in den Kellern der ausgebombten Häuser oder errichteten provisorische Notunterkünfte. Für Tausende wurden die Gartenlauben in den Parzellengebieten zum Zufluchtsort. Im August 1945 verkündete der damalige Bürgermeister daher den nach ihm benannten „Kaisen-Erlass“; die Bewohner in den Kleingärten erhielten die Genehmigung, in Eigeninitiative neue Lauben-Notwohnungen zu bauen oder die vorhandenen zu vergrößern.
In der Folgezeit entwickelte sich in den Parzellen eine besondere Bau- und Wohnkultur, die von der Sozialhistorikerin Kirsten Tiedemann in dem gut recherchierten und anschaulich bebilderten Berichtsband beschrieben wird. Das Besondere der aus der Not geschaffenen Bauten war ihr Raumprogramm, das sich den familiären Bedürfnissen der Bewohner anpasste. Als Baumaterial dienten Ziegel aus ausgebrannten Häusern, Bauholz, Kalk und Heraklitplatten aus dem Trümmerschutt. Gestalterisch waren die Gebäude in die umgebende Nutzgartenlandschaft eingebunden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand auf diese Weise aus den Notunterkünften in den Parzellen eine eigenwillige Siedlungsstruktur, die durch enge nachbarschaftliche Bezüge und den kollektiven Wunsch geprägt war, das Leben unter den ursprünglichen Bedingungen eines „Provisorium“ beizubehalten und zu normalisieren.
Diese Entwicklung auf der Basis von Selbstorganisation und sozialem Eigensinn der Bewohner rief die behördliche Bauaufsicht auf den Plan, die den „Kaisen-Erlass“ 1949 annullierte. In der Folgezeit und bis in die 1970er Jahre bekämpften sich Parzellenbewohner und städtische Behörden – ohne durchschlagenden Erfolg letzterer. Erst nach langen Auseinandersetzungen und schrittweisen Änderungen der demografischen Struktur kam es zu einer Entscheidung auf Seiten der Politik: Einem eng umschriebenen Kreis von Bewohnern räumte die Behörde ein Bleiberecht auf Lebenszeit ein, während allen übrigen das dauerhafte Wohnrecht „auf Parzelle“ versagt wurde.
Der Band des Bremer Zentrums für Baukultur erinnert an ein gelungenes Beispiel des „informellen Bauens“, das in der Zwischenzeit allerdings einer rechtspositivistischen Verwaltungsbürokratie und der städtebaulichen Verkommenheit von Kommunalpolitikern zum Opfer gefallen ist. Was in den Notzeiten der Zerstörung durch den Krieg als Lösung entwickelt und neu geschaffen worden ist, wurde in Jahren der Friedenszeit nach dem Krieg ohne Not zerstört.