Erziehungswissenschaftliche Historiographie ist zurzeit nicht gerade ein Modethema der akademischen Pädagogik. Umso erfreulicher ist daher der nun vorliegende Beitrag von Ulrich Hermann und Meike Sophia Baader. Angetreten, um den geschichtlich-pädagogischen Blick auf die bewegte, viel diskutierte und bis heute auch polarisierende Phase um 1968 aufzuzeigen, schaffen sie einen beinahe kompensatorischen Beitrag, in einer Zeit, in der datenproduzierende Erziehungswissenschaft und eine auf Leistungsoptimierung ausgerichtete Schulvorstellung Einzug in Politik und Gesellschaft gehalten haben.
Das 2011 erschienene Buch ist das Ergebnis der Konferenz »68« – Umbrüche in bildungsgeschichtlichen Perspektiven. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik aus dem Jahr 2008 in Berlin. Aufgrund der Fülle der dort behandelten Themen ist, neben dem hier vorliegenden, im Klinkhardt-Verlag ein zweiter Band publiziert worden, der Artikel zu zeithistorischen und institutionellen Zusammenhängen von »68« als bildungsgeschichtlicher Zäsur aufzeigt.
Unterteilt wurde der vorliegende Band in vier Strukturkapitel, die sich allerdings in zwei große Bereiche gliedern lassen: Der erste Teil enthält drei Blöcke, in denen die Protagonisten-Gruppen (und hier sei bewusst die männliche Form gewählt) »Schüler«, »Jugendliche« und »Studierende« als überwiegend selbstständig agierende und aktive Mitglieder einer Bewegung anhand konkreter Aktionen vorgestellt werden. Der zweite Teil des Buches behandelt die »Pädagogische Reflexion« der Zeit und umfasst sieben Aufsätze, die weitgehend und nur mit einer einzigen Ausnahme aus professoral-akademischer Feder stammen.
Das Eingangskapitel von Linde Apel stellt eindrucksvoll die Schülerbewegung im Kontext von »68« am Beispiel der Hamburger Gruppe des Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS) vor. Die Autorin zeigt die große Unzufriedenheit der Schüler mit dem autoritär aufgestellten Schulalltag, den körperlichen und psychischen Sanktionierungen sowie der fehlenden Mitbestimmungsfreiheit, berichtet über den schwungvollen Aufstieg von AUSS, aber auch über dessen rasanten Abstieg. Sie verdeutlicht zum einen die ungeheure Politisierungsbereitschaft, arbeitet zum anderen aber auch die sich noch im Aufbau und Prozess befindliche politische Bewusstwerdung der Heranwachsenden heraus. Offengelegt werden zudem das Problem der Verleugnung eigener Ideale sowie der zunehmende Einzug autoritärer Strukturen in das Aktionszentrum.
Weniger akteurszentriert und mehr textexegetisch geht im darauffolgenden Beitrag Christian Ritzi vor, der sich in seiner Untersuchung mit der Rezeptionsgeschichte der Studentenbewegung in den Schülerzeitungen
aus dem Jahr 1968 beschäftigt. Er untersuchte Schülerzeitungen und konstatiert einen signifikanten Zuwachs an politischen Themen, nicht aber eine Radikalisierung innerhalb des Mediums. Interessant ist seine Erkenntnis, dass es vor allem eine Verlagerung der Informationsbeschaffung gab, sodass von einer Zunahme an kritischem Journalismus gesprochen werden könne (siehe S. 51).
Von der spezifischen Gruppe der Schüler zur weiter gefassten und somit erst einmal nicht institutionell greifbaren Gruppe der Jugendlichen führt das zweite Strukturkapitel. Hier berichtet Richard Münchmeier von der Jugendzentrumsbewegung, die eine sehr kraftvolle und zielgerichtete Bewegung war. Von besonderem Interesse ist sie schon deshalb, weil sie den Blick von den Großstädten als Zentren politischer Orte und Ereignisse in die Provinz lenkt.
Ein weiteres, angesichts der heutigen Berichte zur Entschädigung von Heimkindern wieder erschreckend aktuelles Thema, ist das vierte Kapitel des Buches, das sich mit der Heimkampagne der Jahre 1968/69 beschäftigt. Hierin werden die Neuerungen im Zuge der »68er«-Bewegung als vor allem strukturelle klassifiziert, die jedoch in erster Linie an politischen Kalkülen hingen und nicht, wie man hoffen sollte, an universal menschlichen Rechten. Der Umgang mit den Opfern ist für den Autoren Manfred Kappeler berechtigterweise ein Prüfstein unserer »demokratischen und sozialen Gesellschaft« (S. 86).
Den fünften Artikel steuerte Heinrich Eppe bei. Er lenkt seinen Blick auf die Auswirkungen veränderter Partizipationsstrukturen in den Zeltlagern der SJD – Die Falken. Exemplarisch fokussiert er sich dabei auf die Zeltlager des Bezirkes Hannover für die Jahre 1970 bis 1972. Auch er zeigt »68« als in erster Linie strukturell veränderndes Moment auf.
An einer spezifischen Alma Mater exemplifizierend, ist Ulrich Herrmanns Artikel ein Beitrag zur Offenlegung der Ziele, Forderungen und Wirkweisen der Studentenbewegung. Gegenwartskritisch, aber mit seiner Retrospektive keineswegs hagiographisch, verweist er auch auf die Heterogenität der Aktionen und macht damit zu Recht auf die Notwendigkeit zielgenauer und differenzierter Untersuchungen aufmerksam.
Eine historische Kontextualisierung der Studentenbewegung liefert schließlich Carola Groppe und führt damit von der Detailuntersuchung ihres Vorgängers in einen globaleren Zusammenhang. Hier findet sich ein distanzierter Blick der Spätergeborenen, der gut platziert ist und die (aktuelle) Forschungsdebatte berücksichtigt. Als achten und letzten Beitrag des ersten Teils erhält
der Lesende von Ekkehart Krippendorff eine ganz persönliche und autobiographische Perspektive. Sein Blick, der ihn – obgleich er sich gegen die
Etikettierung »68er« wehrt – als politisch interessierten und engagierten Protagonisten zeigt, relativiert so manches Klischee, etwa das des Antiamerikanismus. Sehr kurz, ist sein Text dennoch ein kritischer Beitrag, der sich zur Auseinandersetzung mit dem heutigen Bild über »68« eignet.
Im zweiten Teil des Buches lassen sich ebenfalls acht Kapitel finden, die sich nun nicht mehr auf die Akteursgruppen fokussieren, sondern die Seite der pädagogischen Reflexionen betrachten. In einem interessanten Aufsatz legt Diethart Kerbs die Wiederentdeckung der ästhetischen Bildung mit ihren pädagogisch-politischen Implikationen und Dimensionen dar. Er wärmt damit eine Diskussion auf, die heute leider, angesichts gekürzter Kunststunden und -etats, aktueller denn je ist.
Ulrich Herrmann beschäftigt sich in seinem zweiten Beitrag in diesem Werk mit der Frage, ob eine Wendung von der Geisteswissenschaftlichen zur Kritischen Pädagogik auch einen Paradigmenwechsel im Denken und Argumentieren zur Folge hätte.
In Andreas Gruschkas Text konkretisiert sich schließlich das Themenfeld Kritische Theorie und Pädagogik. Es sei hier darauf verwiesen, dass der Autor auf den Umstand des relativ späten Aufgreifens der Kritischen Theorie in der Erziehungswissenschaft aufmerksam macht, wodurch sich für manchen Lesenden die Vorstellung von »68« als Modernisierungsschub relativieren dürfte.
Günter C. Behrmann stellt anhand des Funkkollegs Erziehungswissenschaft und der Hessischen Richtlinien zur politischen Bildung dar, warum er in der sogenannten »68er-Bewegung« keinen Impulsgeber zu erkennen vermag, der wiederum eine Wende in der Kultur- und Bildungsgeschichte vollbracht habe.
Johannes Bilstein beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Psychoanalyse und »68«. Gab es in der Weimarer Zeit unter den Linken (mit Ausnahmen) bisweilen Skepsis gegen einen doch sehr auf das Individuelle gerichteten Ansatz, vermerkt Bilstein eine Popularisierung der Psychoanalyse
durch »68«. Er legt jedoch überzeugend ihre wechselwirkende Kraft dar. So konnte die Psychoanalyse in dieser Zeit ihr gesellschaftskritisches Potential im Kontext der Erziehungsdiskurse entfalten (siehe S. 231).
Meike Sophia Baader widmet sich einem Thema, das die meisten bildlich mit über ein Klavier laufenden Kindern verbinden: den Kinderläden. Nach historischer Einordnung und organisatorischem Verlauf des Aufbaus dieser (vor allem akademischelterlicher) Bewegung, verweist sie auf die gesellschaftskritische Bedeutung der Kinderläden als Partizipationsmöglichkeit von Kindern, in denen diese zu politischen Akteuren werden. Neben der zweifelsfrei bestehenden Notwendigkeit der (kindlichen) Eroberung des öffentlichen Raumes, wäre es jedoch sinnvoll gewesen, den schmalen Grad zwischen Eröffnung politischer Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und politischer Instrumentalisierung aufmerksam zu machen.
Den letzten Aufsatz steuert der Publizist Peter E. Kalb bei. Wieder in autobiographischer Perspektive, berichtet er von der pädagogischen, 1967 ausgegründeten Zeitung betrifft:erziehung, die in kurzer Zeit zum publizistischen Vertreter der Bildungsreform avancierte. Viele Beiträge des Bandes sind erfahrungsgeschichtlich und haben eine bisweilen (auto-)biographische Perspektive. So haben einige der Autoren »68« als Beobachtende oder als handelnde Akteure miterlebt und gestaltet. Darüber hinaus stellen manche Aufsätze Ergebnisse vor, die aus umfangreichen Interviews mit Beteiligten, etwa mit einstigen Protagonisten des AUSS, entstanden sind und dem Band daher eine insgesamt akteurszentrierte Perspektive verleihen.
Wird eingangs auf die Bedeutung der »68er-Bewegung« als kraftvollem Movens für die Zäsur der Bildungsgeschichte sowie auf den Modernisierungsschub und die gesellschaftliche Transformationskraft hingewiesen, ist der Band keineswegs hagiographisch; der Umgang der einzelnen Autoren und Autorinnen mit der zum Teil eigenen Geschichte ist eher kritisch. Es wird beispielsweise sehr richtig auf die Heterogenität der Studentenbewegung verwiesen. Der Politikdidaktiker Günter C. Behrmann meldet gar Zweifel an, ob »68« überhaupt kritische Impulse zur Veränderung der Bildungsgeschichte geliefert hätte. Kritische Stimmen auch zur Wirkung der Pädagogik dieser Jahre.
So äußert der Kunstpädagoge Diethart Kerbs (erneut in persönlicher Retrospektive), dass sich der Wunsch der »68er«, Informiertheit führe zu Aufgeklärtheit und dies wiederum zwangsläufig zu emanzipierten Verhalten, nicht erfüllt habe. Insgesamt ist den Beiträgen dennoch eine wohlwollende
Haltung zu »68« durchaus abzulesen und zwar sowohl was seiner grundsätzlichen Bedeutung zur gesellschaftlichen Veränderung als auch was seine Bedeutung angesichts heutiger Transformationen insbesondere der Hochschullandschaft angeht. Letztere werden von den Autoren und Autorinnen überwiegend kritisch gesehen.
Ein Verdienst des Buches ist es, dass hier in komprimierter und äußerst lesenswerter Form wichtige, aber auch marginalisierte Themen aufgegriffen und bearbeitet wurden. Dies ist nicht nur sehr informativ, sondern mag auch wichtige und konstruktiv-kritische Hinweise für unsere heutige Bildungslandschaft (mag man denn von einer solchen sprechen) liefern. Schade nur, dass auch dieses Werk die Zeit um das Jahr 1968 als von männlichen Protagonisten dominiert erscheinen lässt und versäumt wurde, dies in dem Band überhaupt zu problematisieren.
Meike Sophia Baader, Ulrich Herrmann (Hg.), 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Juventa Verlag, Weinheim 2011, 264 Seiten, 27 Euro.
Alexandra Bauer, geb. 1979, ein Kind, Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Universität Hamburg, Promotion 2011.
Wir danken Frau Bauer für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieser Rezension. Sie erschien zuerst in den Mitteilungen des Archiv der Asrbeiterjugendbewegung, 2/2012.