Nachricht | GK Geschichte Revision nach 1968. Vom politischen Wandel der Geschichtsbilder in der Bundesrepublik Deutschland

Die Dissertation von Oliver Schmolke ist auf dem server der FU Berlin online. Dr. Oliver Schmolke (geb. 1969) leitet heute das Referat Grundsatzfragen beim SPD-Parteivorstand.
In der Zusammenfassung schreibt er:
"Im Rückblick ließe sich sagen, die Bonner Republik sei zweimal 20 Jahre alt geworden, bevor sie im vereinten Deutschland aufging. Am Scheidepunkt beider Lebenshälften liegt das Jahr 1968. Es markiert einen doppelten Einschnitt: Zum einen wurde die gesellschaftspolitische Liberalisierung der 60er Jahre und die intellektuelle Kritik an den autoritären deutschen Traditionen durch die Zu-spitzungen und Konfrontationen des Studentenprotests überlagert. Zum ande-ren kam die sozialliberale Konstellation in der bundesdeutschen Geschichte, die sich ebenfalls in den 60er Jahren formierte und deren verbindendes Motiv darin lag, die offene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu leisten und die noch fälligen innen- und außenpolitischen Konsequenzen zu ziehen, an die Schwelle der parlamentarischen Mehrheit für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt. Die Formel „mehr Demokratie wagen“ aus des-sen erster Regierungserklärung symbolisierte die überaus hochgespannten Erwartungen der Entspannungs- und Reformpolitik, mit denen die 70er Jahre begannen. Nach den Erfolgen der Ostpolitik zerbrach das sozialliberale Selbst-vertrauen vor allem an den innenpolitischen Kontroversen, und schon 1974 machte das Wort einer konservativen „Tendenzwende“ die Runde. Wie kam es zur Renaissance des Konservatismus in Deutschland und welche Wendung nahm dabei die Aufarbeitung der Vergangenheit, die ein Hoffnungszeichen univer-seller politischer Aufklärung gewesen war?
40 Jahre nach „1968“ steht einmal mehr die Frage im Raum, wie die Studenten-bewegung das Land verändert hat. Diese Arbeit stellt die gegenteilige These in den Mittelpunkt: Nicht der Protest, sondern die gegen ihn gerichtete neukonser-vative Bewegung ist es, die fortan und bis heute das vorherrschende Selbstbild der Republik prägt.
Zunächst fällt die Abwehr ins Auge, mit der Hochschullehrer auf die politisch elektrisierten Studenten reagierten. Die studentischen Provokationen, die sich gegen die wirkliche oder vermutete Nähe der Professoren und Lehrinhalte zu autoritären Traditionen richteten, zunehmend rechthaberisch, dogmatisch und gewalttätig wurden, verletzten das akademisch-politische Selbstbewusstsein vieler Ordinarien. Die Studentenbewegung wurde für sie zum zentralen Be-zugspunkt der polemischen Abgrenzung. Zusammen mit den politischen Initiativen der frühen sozialliberalen Regierungszeit, vor allem den Ostverträgen, entstand bei ihnen das Bild einer um sich greifenden westdeutschen Krise, einer Preisgabe antimarxistischer Positionen und einer nationalen Selbstaufgabe. Die konservative Neuformierung begann nach 1968 und gegen die „Ideen von 1968“, in denen für die neukonservativen Protagonisten der Schock der studentischen Protestkundgebungen, der Regierungsantritt Willy Brandts, die neue Ostpolitik und die ersten terroristischen Anschläge zu einem einzigen Komplex verschmolzen. In all dem vermuteten sie die negativen Folgen einer übertriebenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Kritik und Kränkung, Krisenbewusstsein und bürgerliches Ordnungsbedürfnis gebaren bei west-deutschen Historikern, Sozialwissenschaftlern, Schriftstellern und Politikern den brennenden Wunsch nach einer Stabilisierung der historischen Leitbilder. In diesem Sinne ist von einer Sammlungsbewegung neukonservativer Überzeugungen zu sprechen, deren gemeinsamer Haltepunkt eine „Bewältigung der Vergangenheitsbewältigung“ war.