Nachricht | Afrika - Geschlechterverhältnisse - Migration / Flucht Zwischen Tradition, Perspektivlosigkeit und Aufbruch – (junge) Menschen im Senegal

Im Nachgang zur Veranstaltungsrundreise hat Ulla Rothe sich im Dezember 2012 und Januar 2013 noch mal mit Yayi Bayam Diouf in der Nähe von Dakar getroffen, mit jungen Menschen auf einer Konferenz im Rahmen des UNSAS-Planungssystems der Vereinten Nationen gesprochen und zwei Jugendprojekte in einem Vorort der Hauptstadt des Senegals besucht.


Yayi Bayam Diouf lebt und arbeitet in Thiaroye sur Mer, einem Vorort „Banlieue“ von Dakar, ein traditioneller Ort des Fischfangs. Ein erschreckend hoher Anteil der Bevölkerung Thiaroyes lebt unterhalb der Armutsgrenze und muss tägliche Überlebensstrategien entwickeln. Menschen aus allen möglichen Gegenden und Ethnien Senegals leben inzwischen hier, wodurch traditionelle kommunale Strukturen aufgebrochen wurden. Armut, Müll, Verwahrlosung sind überall sichtbar, die Analphabetenrate ist extrem hoch, nur wenige Menschen können außer Wolof eine andere Sprache, z. B. die Amtssprache Französisch, sprechen. Regelmäßige Arbeit hat kaum eineR. Als einzige Chance, aus der Armut heraus zu kommen, wird letztendlich gesehen, nach Europa zu gelangen, dort zu arbeiten und Geld nach Hause zu schicken. Die Menschen können nicht mehr aus dem Fischfang, bis vor einigen Jahren noch die wichtigste Einkommensquelle in Thiaroye, ein einigermaßen würdiges Leben finanzieren. Das liegt zum großen Teil daran, dass Hightech-Fischereischiffe aus Europa, China und Russland im fischreichen Küstengewässer Senegals den Einheimischen den Fisch weg fangen - zum Teil illegal, zum Teil aber auch legal durch diverse internationale Meeres- und Fischereiabkommen.

In Deutschland ist eigentlich kaum bekannt, dass viele Jugendliche in Dakar / Senegal für sich ein konstruktives und kreatives Potential zur Schaffung von Zukunftsperspektiven entwickelt haben. Die offizielle Politik unternimmt wenig, um gute Ausbildung und Arbeit für junge Menschen zu organisieren. Der Alltag ist daher oft davon geprägt, ein Überleben auf dem informellen Sektor zu ermöglichen. D. h. die Menschen üben Tätigkeiten außerhalb von anerkannten regulären Arbeitsprozessen aus wie z. B. irgendwas auf den Straßen Dakars zu verkaufen. Da es kaum Angebote und Wahlmöglichkeiten gibt, werden jegliche Jobs – oft unwürdig, hart und ermüdend - angenommen.
Viele Jugendliche sind aber inzwischen gut ausgebildet, haben Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln wie Internet und Mobiltelefone und entwickeln eigene Initiativen, um einen anerkannten Platz in der Gesellschaft zu finden. Dabei werden traditionelle Kulturen mit westlichen / globalisierten Impulsen verbunden, um Neuerung, Opposition und Protest zu artikulieren und Perspektiven einzufordern.


Ich hatte während eines Senegalaufenthalts Gelegenheit, zwei Initiativen kennen zu lernen und Interviews mit beteiligten Jugendlichen zu führen. Gespräche mit Professor Maguèye Kassé von der Ante Diop Universität in Dakar, Claus-Dieter König – Leiter des Büros der RLS in Dakar – und immer wieder mit Yayi Bayam Diouf haben Hintergründe deutlich gemacht und neue Einschätzungen ermöglicht. Eine differenzierte Betrachtung und Auseinandersetzung aktueller Ereignisse in (West-) Afrika kann globale Hintergründe und Beziehungen verständlicher machen.


Jugendlich organisieren sich politisch

Die Vereinigung unabhängiger Gewerkschaften UNSAS tritt für ein Programm für Produktivität ein und kümmert sich um die Verbesserung der Lebenssituationen im Senegal, um die Migration aus wirtschaftlicher Not einzudämmen. Es werden Seminare und Veranstaltungen für Jugendliche organisiert, damit diese sich zusammenschließen und zivilrechtlichen Druck auf die Regierung ausüben.
Vier Jugendlichen auf einer Konferenz von UNSAS zur Sensibilisierung gegen die Illegalisierung von Migration Ende Dezember 2012 äußerten sich:


Fatou, 24 Jahre: „Viele Jugendliche studieren und haben ein Diplom, aber keinen Arbeitsplatz und kein Einkommen. Deswegen möchten sie nach Europa, um der Armut zu entgehen. Eigentlich ist Migration ein Menschenrecht, und wir sollten die Chance haben, legal nach Europa zu reisen, um Erfahrungen für unser Leben zu machen. Warum wird viel Geld aus Europa dafür genutzt, die Grenzen dicht zu machen und keine Afrikaner legal nach Europa reinzulassen? Es ist sinnvoller, junge Leute in ihrem Heimatland und / oder Ausland zu qualifizieren, damit sie ihren Beitrag zur Schaffung von Zukunft in einer globalen Welt beitragen können.“


Khadim, 21 Jahre: „Ich bin Student der Humanwissenschaften. Ich sehe, dass viele junge Menschen sich auf den Seeweg nach Europa machen, illegal und gefährlich in kleinen Pirogen, weil sie keine wirklichen Perspektiven im Senegal haben. Ich engagiere mich bei UNSAS um für Ausbildung und Beschäftigung zu kämpfen, damit Jugendliche nicht mehr aus wirtschaftlicher Not unser Land verlassen. Hier müssen Lösungen für gesellschaftliche Partizipation gefunden werden und entsprechende Forderungen an die Regierung gestellt werden.“


El Hadji Mamadou, 23 Jahre: „Die illegale Migration ist ein Folge von Misswirtschaft, Verstädterung (Landflucht), Armut und damit verbundene Perspektivlosigkeit in unserem Land. Man spricht von über 14.000 toten AfrikanerInnen, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Und die wenigsten, die es bis Spanien irgendwie geschafft haben, finden Arbeit und können Geld nach Hause zur Unterstützung ihrer Familien schicken. Ich möchte legal nach Europa, um dort zu studieren und neue Erfahrungen zu machen. Danach würde ich wieder zurückkehren und mich für das wirtschaftliche Wachstum und Vorwärtskommen in meinem Land einsetzen.“


Adiouma, 32 Jahre: „Ich hatte öfter mit dem Gedanken gespielt, illegal den Weg nach Europa zu versuchen. Ich mache Filme und Videoclips zu kulturellen und sozialen Gegebenheiten. Ein Film, bei dem ich mitgemacht habe, wurde Anfang 2012 auf einem Festival in Frankreich präsentiert. Ich war eingeladen, man wollte das Flugticket und alles für mich bezahlen, ich bekam aber kein Visum. Das schafft Frust, denn nach einem Aufenthalt in Europa hat man auch hier bessere Möglichkeiten. Ich mache öfter Werbeclips für Künstler, Musikgruppen, aber die können meine Arbeit meistens nicht bezahlen, und so verdiene ich nur hier und da mal was und kann mich nicht auf meine eigentliche Arbeit – das Filmemachen – konzentrieren. Ich engagiere mich aber z. B. bei UNSAS, damit ich was gegen Ungerechtigkeit tun kann, denn die illegale Migration nach Europa ist für mich keine Lösung mehr.“


Ein Zentrum für Jugendkulturen

Szenenwechsel im Januar 2013 nach Pikine, wie Thiaroye „Banlieue von Dakar“, auch hier sind viele Zugewanderte wegen Landflucht ohne Perspektiven und Hoffnungen vorzufinden. Hier ist seit 2006 nach und nach ein kulturelles Zentrum für Jugendliche entstanden: Hip Hop, (Slam) Rap, Radio, Film, Tanzen, Trommeln, Theater wird hier von vielen Jugendlichen praktiziert und weiter entwickelt. Mit neuen Trends bei Musik und Sprache artikulieren die Jugendlichen auf unterschiedliche Weise ihre Unzufriedenheit mit ihrer aktuellen Situation und der offiziellen Regierungspolitik. Sie versuchen, an ihrem Schicksal etwas zu ändern, indem sie selbst aktiv werden und sich nicht nur auf ‚In scha´a llah’ verlassen. Beeindruckend ist das Forumtheater „ARCOTS de Pikine“ unter der Leitung von Layty Fall. Die von Augusto Boal entwickelte Form des pädagogischen Theaters greift Interessenskonflikte, Unterdrückungssituationen etc. auf und stellt diese als Statuen mit menschlichen Körpern dar. Im Laufe des Theaters sollen Wünsche, (realistische)  Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten gespielt werden. Viele SchauspielerInnen  – so Layty Fall – nutzen dieses Theater, um eigene Erfahrungen und Gefühle zu verarbeiten. Viele Szenen beschäftigen sich mit den Themen Migration und Gewalt. Drei Schauspieler gaben folgende Statements:


Mamadou, 43 Jahre: „Ich komme aus einer armen Familie und habe alle möglichen Berufe ausgeübt, um Geld für meinen Lebensunterhalt zu verdienen: Mechaniker, Landarbeiter und eben auch Komödiant auf verschiedenen Festivitäten. 2006 wusste ich nicht mehr ein noch aus und erstand einen von 76 Plätzen in einer Piroge nach Gran Canaria. Über Einzelheiten der Überfahrt möchte ich nicht reden, nicht alle überlebten, und natürlich bin ich traumatisiert. Die meisten von uns mussten zurück  in den Senegal. Hier gibt es für Leute wie mich keine Psychologen, die helfen, die Erfahrungen zu verarbeiten. Durch die Schauspielerei im Statuentheater und die Diskussionen mit Leuten, die ein ähnliches Schicksal erfahren haben, hier in Pikine, komme ich mittlerweile ganz gut klar. Ich habe schauspielerisches Talent und kann damit zwei Frauen und vier Kinder ernähren. Aber ich möchte auch durch politisches Theater Jugendliche davor bewahren, sich illegal auf den Weg nach Europa aufzumachen.“


Amy, 23 Jahre: „Als Mädchen durfte ich nur vier Jahre eine Koranschule besuchen und musste dann ab einem Alter von 12 Jahren als „Femme de ménage“ (Haushaltshilfe) an verschiedenen Stellen arbeiten. Dabei habe ich viel Gewalt und Aggressionen erfahren müssen und dabei nicht einmal ein Einkommen gehabt, wovon es sich einigermaßen leben ließ. Ich habe zwei Kinder von einem Mann, der jetzt irgendwo in Italien ist. Ich habe längere Zeit keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Z. Zt. lebe ich bei der Familie einer Theaterfreundin, wir schlafen mit fünf Personen in einem Zimmer. Beim Theaterspiel kann ich meine derzeitige Situation klarer sehen und Hoffnung schöpfen. Wir bekommen immer mehr Auftrittsmöglichkeiten. Ich wünsche mir für die Zukunft einen Partner, einen Mann, der mich versteht und weiterhin Theater spielen lässt.“


Pape Ibou, 30 Jahre: „Ich komme aus einer armen Fischerfamilie in Thiaroye und konnte nur wenige Jahre die Koranschule besuchen. Ich musste früh erkennen, dass es sich vom Fischfang immer weniger leben lässt und habe mich dann als Mechaniker versucht. Wie viele Menschen probierte ich es danach mit dem Handel und machte eine kleine Boutique (Kiosk)auf, die aber nicht lief. Es gibt zu viele Menschen hier, die mit einer kleinen Boutique ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, und die Menschen hier in Thiaroye haben kein Geld, um viel zu kaufen. Einen Ausweg sah ich darin, nach Europa zu kommen und bin 2006 in Thiaroye sur Mer vom Strand mit einer Piroge losgefahren. 17 Menschen sind unterwegs gestorben, fast alle waren seekrank. Wir hatten zum Schluss vier Tage lang kein Essen, Trinken und Benzin mehr und sind irgendwann von einem Schiff aus Mauretanien aufgenommen und nach Marokko gebracht worden. Weil wir so schwach waren, wurden wir in ein Krankenhaus gebracht, wo wir keineswegs liebevoll und fürsorglich behandelt wurden. Nach kurzer Zeit mussten wir in den Senegal zurück. Durch das Theaterspielen habe ich mittlerweile große Hoffnung für meine Zukunft gewonnen. Ich kann durch die Gage von verschiedenen Aufführungen mittlerweile ein bescheidenes Leben führen und ich kann, was mir sehr wichtig ist, den Jugendlichen zeigen, dass der Weg mit der Piroge nach Europa meistens Tod und Elend bedeutet. Mittlerweile hat fast jede Familie in Thiaroye auf diese Weise, zwei, drei oder mehr Tote zu beklagen.“


Aspekte, Meinungen

Einer der Hauptgründe für Flucht und Migration im Blickwinkel von Globalisierung ist die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Junge Menschen im Senegal wollen ihr Land auf dem gefährlichen Seeweg aufgrund von existenzieller Not und Perspektivlosigkeit verlassen. Die vorherrschenden gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen garantieren kein menschwürdiges (Über-) Leben, und sie hoffen, anderswo glücklichere Umstände und vor allem Arbeit mit einem gesicherten Einkommen zu finden – eigentlich das Menschenrecht auf Migration für sich umzusetzen.


Der 2012 neu gewählte Präsident Macky Sall kann seine Wahlversprechen auf Neuerung und Reformen für den Senegal kaum durchsetzen. Yayi Bayam Diouf will sich nicht in der offiziellen Politik, in einer der Parteien engagieren, weil aus ihrer Sicht die Politiker korrupt sind, sich auf Kosten der armen Bevölkerung bereichern und für die Menschen nichts tun. Durch ihren Verein COFLEC möchte sie aber zivilrechtlichen Druck auf staatliche Instanzen ausüben. Der Verein fordert eine Neuordnung des Schul- und Ausbildungssystems und ein Recht auf Bildung – vor allem auch für die Mädchen. Für die Jugendlichen sollten andere, würdigere Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden als schlecht bezahlte Tätigkeiten wie Straßenhändler, Müllsammler, Lastenträger oder Hausangestellte.


Weiterhin verlangt COFLEC die Überwachung der internationalen Meeres- und Fischereiabkommen und unterstützt die Fischerfamilen in ihrem vielfältigen alltäglichen Kampf um das Überleben. Besonders in der Nacht beobachten die BewohnerInnen in Thiaroye sur Mer, wie große, hochmodern ausgerüstete Schiffe die vereinbarten Abstände zum Strand überschreiten und den einheimischen Fischern ihre Existenz wegnehmen. Die Fischer mit ihren Frauen organisieren sich gegen das Fremdfischen vor ihrer Küste und fordern, dass sie in ihren traditionellen Orten des Fischfangs auch wieder besser davon leben können.


Professor Maguèye Kassé sprach das Recht eines jeden Menschen auf Selbstverwirklichung und Würde an. Junge Erwachsene, die keine positiven Sozialisationsinstanzen durchlaufen sind und keine sinnvolle Beschäftigung haben, können kaum konstruktive Wertevorstellungen und Perspektiven entwickeln. Desorientierung, Verwahrlosung und (sexuelle) Gewalt prägen das alltägliche Leben in Dakars Banlieues Pikine und Thiaroye. Und der Traum, nach Europa zu kommen, erweist sich immer mehr zu einer Illusion. Die Jugendlichen sehen die militärisch bestens ausgerüsteten Schiffe von Frontex, der europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen Europas, im Hafen von Dakar und vor der Küste. Sie erfahren, dass immer wieder Freunde auf dem Meeresweg  umgekommen sind und dass diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, dort keine Arbeit gefunden haben und von Abschiebungen in ihre Heimatländer bedroht sind. Es ist wichtig, dass Jugendliche die Ursachen für ihre Situation erkennen und sich selbst politisch und kulturell organisieren. Aber die bloße Sensibilisierung reicht nicht aus, es muss Widerstand und Druck entwickelt werden, damit die Regierung die Verantwortung für eine grundlegende Veränderung übernimmt. Es gilt, den Jugendlichen im Senegal nicht eine bessere Zukunft zu versprechen, sondern diese auch zu schaffen.


Ulla Rothe, im Januar 2013