Die Tatsache, dass zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit die Staaten Zentralasiens zumeist als polizeistaatlich gestützte Monolithen erscheinen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auf eine nur schmale gesellschaftliche Basis stützen können. Die Interessen von Mehrheitsgesellschaft und politischen Herrschaftsträgern klaffen zunehmend auseinander. Das ist der Akkumulation konfliktrelevanter Entwicklungsdefizite und Krisenmerkmale in den Jahren seit der Unabhängigkeit geschuldet. Vor allem sind das hohe sozioökonomische Ungerechtigkeit, starkes Auseinanderdriften von Arm und Reich, soziale Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, unterentwickelte soziale Sicherungssysteme, Korruption, Jugendarbeitslosigkeit, geringe Beschäftigungs- und Bildungsmöglichkeiten, unzureichender Zugang zu sozialen und kommunalen Netzwerken und Aktivitäten, politische Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, Zerbrechlichkeit der politischen Systeme. Obgleich infolgedessen von einer latenten Krise der politischen Regime gesprochen werden kann, haben die inneren Widersprüche noch nicht zur Herausbildung einer nachdrücklichen Oppositionskraft geführt.
Lange Zeit galt vielen im Westen Kasachstan als die zentralasiatische Erfolgsgeschichte: ein relativ umsichtig agierender Präsident, eine moderne Verwaltung, stabile wirtschaftliche Wachstumsraten, eine funktionierende Zivilgesellschaft. Spätestens seit den Ereignissen von Shanaozen im Dezember 2011 ist klar, dass ein zweiter Blick auf diese Erfolgsgeschichte zweifellos angebracht ist. Vordergründig als Arbeitskonflikt wahrgenommen, handelte es sich tatsächlich um eine äußerst komplexe Konfliktsituation, heraufbeschworen durch sozioökonomische Schieflagen, militanten Wirtschaftsseparatismus seitens regionaler Eliten, fehlende Möglichkeiten demokratischer Interessenartikulation. Offiziell 17 Menschen wurden bei den Protesten der Ölarbeiter in Shanaozen von Sicherheitskräften getötet. Teilen des politischen und wirtschaftlichen Establishments war durchaus an einer Eskalation der Ereignisse gelegen und das «System Nasarbajew» – bis dato Inbegriff politischer und sozialer Stabilität – erwies sich als zu starr und hierarchisch, um rechtzeitig und präventiv gegensteuern zu können. Die Politik versagte: Sie weigerte sich, die Legitimität des Anliegens der Streikenden anzuerkennen und im Arbeitskampf zu vermitteln und setzte zum Schluss auf Gewalt. Auf das Geschehen in Shanaozen reagierte Astana mit der Einschränkung bürgerlicher Rechte. Gleichzeitig wurden Schritte zur Flexibilisierung präsidialer Verwaltungsstrukturen eingeleitet, ein vorsichtiges Power Sharing im Rahmen des parlamentarischen Prozesses angeschoben sowie die Sozialgesetzgebung auf den Prüfstand gestellt.
Was damals passierte, könnte sich wiederholen – und nicht nur in Shanaozen, nicht nur in Kasachstan. Sozialer Sprengstoff bleibt genug, und das nicht nur im ölreichen Kasachstan. Sei es die rohstoffabhängige Exportwirtschaft, die anhaltende Deindustrialisierung, eine krisenhafte Landwirtschaft oder eine zunehmend polarisierende Staatsideologie. Die demokratische Partizipation zu beschränken wird nicht auf Dauer ohne Widerspruch bleiben.
Den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Kasachstan und den anderen Ländern der Region war am 12. April eine mehrstündige Diskussion mit mehr als 50 Teilnehmenden in der RLS Berlin gewidmet. Dafür konnten namhafte ReferentInnen gewonnen werden:
- Bolat Atabajew, bekannter kasachischer Regisseur und Autor,
- Andrej Tschebotarev vom Centre for Contemporary Research «Alternativa» in Almaty,
- Beate Eschment von den Zentralasien-Analysen und
- Arne C. Seifert, Botschafter a.D. und Zentralasienexperte.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Dagmar Enkelmann, der Vorstandsvorsitzenden der RLS und Vorsitzenden der Deutsch-Zentralasiatischen Parlamentariergruppe des Bundestages. Der Diskussion schloss sich eine Präsentation des Films Zhanaozen: The Unknown Tragedy von Julia Mazurova an.
Referat Osteuropa