Slowenien galt lange Jahre als Musterland der Transformation und Paradebeispiel einer gelungenen EU-Integration. Doch der Wind hat sich gedreht und weht jetzt scharf ins Gesicht.
Derzeit leben knapp 400.000 SlowenIinnen in Armut oder mit der Gefahr sozialer Ausgrenzung. Das ist in diesem kleinen Land fast ein Fünftel der Bevölkerung. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Korruption unter den Regierenden ebenso und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst. Im November letzten Jahres begannen die Proteste zunächst in Maribor, wo 10.000 Menschen auf die Straße gingen und den Rücktritt des Bürgermeisters forderten.
Inzwischen hat Slowenien eine neue Mitte-Links-Regierung. Was bis vor kurzem für ein postsozialistisches Land noch völlig indiskutabel war, scheint jetzt möglich. Mehr als 66 Prozent der Menschen unterstützen eine graduelle, jedoch tiefgehende soziale Änderung der Gesellschaft, während mehr als ein Drittel eine revolutionäre Veränderung befürworten. In anderen Worten, die Menschen reden über eine Transition in Richtung demokratischer Sozialismus.
Im März gab es eine Neuauflage des Kapitals von Karl Marx. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte eine Veranstaltung, die dies zum Anlass nahm, den demokratischen Sozialismus neu zu diskutieren. Alle größeren Tageszeitungen und das öffentlich rechtliche Fernsehen berichteten darüber. Das so oft als Heilmittel gepriesene Transitionsmodell – vom Sozialismus zur kapitalistischen Marktwirtschaft - scheint gerade als Bumerang zurückzufliegen. Im Interview erläutert Gal Kirn die Hintergründe.
Slowenien ist nicht länger Musterbeispiel der EU-Integration. Wie kam es dazu und den damit verbundenen Protesten?
Kirn: Dieser Erfolgsfall wurde in den letzten Monaten dekonstruiert. Es ist wichtig zu betonen, dass die Transition zur freien Marktwirtschaft und repräsentativen Demokratie graduell ablief. Es stimmt auch, dass hinter der Transformation des sozialen Reichtums zum Staat hin zunächst ein „Keynesianisches Modell“ stand (von der Sozialisierung zur Etatisierung). Erst später, bedingt durch internes Wissen und Machtkämpfe, bildeten und organisierten sich Profiteure und einflussreiche Gruppen einheimischen Kapitals. Wie auch immer, der ideologische Konsens über eine soziale Partnerschaft und die Bewahrung des Wohlfahrtstaates wurde bereits vor dem EU-Beitritt radikal unterminiert. Insbesondere in den Jahren nach dem slowenischen EU-Beitritt 2004 setzten neoliberale Reformen und eine verstärkte Privatisierungswelle ein: zu den wichtigsten Zielen zählten das Gesundheitssystem, das Rentensystem, das Bildungssystem, die soziale Fürsorge und eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. In einigen historischen Momenten (wie beim Versuch, eine Steuer-Flat nach baltischem Modell einzuführen) waren die Gewerkschaften darin erfolgreich, neoliberale Reformen zu stoppen. In den vergangenen Jahren, bedingt durch die sich ausbreitende ökonomische Krise und eine striktere monetäre und fiskale Kontrolle seitens der EU (Austeritätspolitik), stagniert die slowenische Wirtschaft, was zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit (nach Angaben von Eurostat gegenwärtig 13 Prozent) führte. Sowohl das Mitte-Links als auch das Mitte-Rechts-Lager führten ein Bündel ähnlich gelagerter ökonomischer Maßnahmen durch, welche die arbeitende Bevölkerung an den Rand drängten und die Macht der Gewerkschaften einzugrenzen suchten, die sich seitdem in einer lediglich verteidigenden Position befinden. Die schwierige wirtschaftliche Situation, in der die Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen, wird ergänzt durch große Korruptionsskandale der maßgeblichen politischen Personen. Das zusammen ist der hauptsächliche Grund dafür, dass die Menschen auf die Straßen gehen.
Wie würdest Du die politische Zielsetzung der Proteste beschreiben? Sie begannen ja zunächst als Ausdruck einer allgemeinen Politik- und Parteienverdrossenheit.
Kirn: Ja natürlich, die Leute wurden aufgebracht durch die ungelöste Korruption und die Skandale führender Politiker und Wirtschaftsprofiteure, während die einfache Bevölkerung für die Krise zu zahlen hatte. Dieser Sinn für die Ungerechtigkeiten und die Suche nach menschlicher Würde, die Erkenntnis, dass man eine würdevolle Lebensperspektive verliert, war ein zentrales Gefühl hinter der Kritik gegen das gesamte politische Establishment. Inzwischen berühmte Slogans wie „Es ist genug!“, „Es ist vorbei mit euch, ihr seid fertig!“, „Ihr seid alle Betrüger!“, „Wir überlassen euch das Parlament, aber nicht die Straße!“ zirkulierten und wurden von den meisten Menschen unterstützt, während sich die Unterstützung für die Regierung auf einem historischen Tiefststand bewegte (12 Prozent). Das erste wichtige politische Ziel des Aufstands war die Ablösung der korrupten politischen Klasse. Teilweise wurde dieses Ziel schon erreicht: der Bürgermeister von Maribor trat im Dezember 2012 auf Druck der öffentlichen Meinung zurück, einige lokale Politiker folgten, während Ende Februar 2013 die Regierung von Janez Janša im Parlament abgewählt und durch eine Übergangsregierung ersetzt wurde mit dem Ziel, die slowenische Wirtschaft aus der Krise zu führen. Doch die Proteste halten an, da das Programm der Übergangsregierung keinerlei Unterschiede zur Vorgängerregierung aufweist. Das größte politische Ziel ist derzeit die Überwindung des gegenwärtigen politischen Establishments hin zur Entwicklung direktdemokratischer politischer Formen, die eine neue Legitimität und eine breitere Unterstützung für grundlegende Veränderungen bringen sollen. Das führt uns zum zweiten politischen Ziel des Aufstandes. Mehr als 66 Prozent der Menschen unterstützen eine graduelle, jedoch tiefgehende soziale Änderung der Gesellschaft, während mehr als ein Drittel eine revolutionäre Veränderung befürwortet. In anderen Worten, die Leute reden über eine Transition in Richtung demokratischer Sozialismus (das war noch vor ein paar Monaten unmöglich, wird nun aber in den Massenmedien diskutiert), zu einer realen sozialen und demokratischen Regulation, die soziale Mechanismen für eine intergenerationelle und klassenübergreifende Solidarität wieder einführt. Nüchtern betrachtet existieren natürlich viele Gruppen und viele Wege, wie diese soziale Änderung ausgestaltet sein sollte, und auch ein moralisierendes Argument kann nicht beiseitegeschoben werden. Wir benötigen mehr aufrichtige Politiker, die das Gesetz befolgen. Diese linksliberale moralisierende Kritik ist Teil der Proteste und spricht über das Gefühl, dass der historische Akt der Unabhängigkeit verraten worden sei. Es ist aber nicht die maßgebliche Tendenz.
Kannst Du uns über die hauptsächlichen Akteure und Akteurinnen der Proteste aufklären?
Kirn: Die politische Agenda ist nicht mehr länger vordefiniert oder durch die existierenden Institutionen und Parteien modelliert. Sie wird erarbeitet durch die Leute auf den Straßen und innerhalb zahlreicher öffentlicher Darbietungen, kulturellen Veranstaltungen und politischen Diskussionen - auf neuen öffentlichen Tribünen, in Komitees und Initiativen, die auf der Suche nach einer möglichst breiten demokratischen Plattform sind. Das sind zum Beispiel Protestival (Kulturarbeiter), das Komitee für direkte Demokratie, das Koordinations-Komitee für ein kulturelles Slowenien, die große Generalversammlung des All-Slowenischen Aufstandes, das Komitee für Gerechtigkeit und Solidarität in der Gesellschaft, die Frauen für eine andere Transition, der Frauen-Sozialarbeiter-Bund, die Roten Radikalen, Heute ist ein neuer Tag. Da sind aber auch noch andere, vorher schon existierende kulturelle und politische Gruppen, die zu Engagement und zivilem Ungehorsam aufgerufen haben und die alternative politisch-ökonomische Programme formuliert haben: Universitätsgewerkschaften, die Studentenorganisation „ISKRA“, die „Arbeiter- und Punker-Universität“, die Föderation der Anarchisten und die „TRS“ (Partei für nachhaltige Entwicklung). In Maribor gründen sie momentan neue kommunale direktdemokratische Komitees, die sich ausschließlich mit Lokalpolitik beschäftigen sollen, und der neue Bürgermeister kommt aus der Aufstandsbewegung. Es wird auch viel über eine Parteineugründung auf der Linken gesprochen, die die politische Agenda der Proteste vertreten soll. Auch viele Wochenzeitschriften (z.B. die Beilage „Revolt“ in „Sobotna Priloga“ [Samstags-Beilage], „Dnevnik“ [Tagesschau], „Mladina“ [Jugend]) und Tageszeitungen veröffentlichen kritische Beiträge, die ein neues Gefühl von Solidarität und Kritik kultivieren helfen.
Gibt es Anzeichen, dass die Situation in Slowenien auch auf die Nachbarstaaten übergreift?
Kirn: Das ist eine wichtige und strategische Frage. Es ist schon passiert, und in diesem Sinne sehe ich die Ereignisse in Slowenien lediglich als Mosaiksteinchen in den Kämpfen an der Peripherie der Europäischen Union: die bulgarische Bewegung für demokratische Veränderungen, die Volksbewegungen in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal, Italien – all diese Kämpfe bringen die Logik der strukturellen Ungleichheit in der EU ans Tageslicht: die Peripherie erhebt sich und trägt zur Wiedereinführung von direkter Demokratie und Sozialpolitik bei. Es gab auch schon ein paar Funken in Kroatien in den vergangenen Jahren. Zur Situation in anderen Gegenden kann ich aber nichts sagen. Unabhängig davon ist es jedoch wichtig, dass die Peripherie die Austeritäts-Falle verlässt und ihre politischen Forderungen direkt ans Zentrum richtet. Wie können die europäischen Institutionen demokratisiert werden? Wie kann das Finanzkapital, das in einem grenzfreien Europa unkontrolliert regiert, reguliert werden? Wie können die sozioökonomischen Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden gerechter gestaltet werden? Antworten darauf können nicht ausschließlich von den Aufständen an der Peripherie geliefert werden, aber es ist die Hauptfrage für jeden, der das Projekt eines geeinten Europas wiederbeleben möchte.
DAS GESPRÄCH FÜHRTE KRUNOSLAV STOJAKOVIC
GAL KIRN IST POLITISCHER PHILOSOPH UND AUTOR