Die neue Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden ZEIT Geschichte enthält auf 116 Seiten Beiträge zu „Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um1900“, so auch der Untertitel des reichlich illustrierten Heftes (Inhaltsverzeichnis). Herausgeber Volker Ullrich hat u.a. mit Joachim Radkau, Ulrich Linse und Elisabeth Meyer-Renschhausen ausgewiesene AutorInnen versammelt. Die Jugendbewegten wollten seinerzeit weder die kalte, rationale, kapitalistische Moderne, noch das autoritäre, militaristische und spießige Kaiserreich. Sie waren weniger an einem sozialen oder ökonomischen Aufstieg (bislang die klassische bürgerliche Utopie) als vielmehr an einem einfachen Leben interessiert, das dann auch als authentischer erlebt wurde.
Radkau führt in das Thema ein, weitgehend basierend auf seiner These vom Kaiserreich als „nervösem Zeitalter“, also als dem Zeitraum, in dem Nervosität und damals darauf zurückgeführte Beschwerden und Krankheiten eine große Bedeutung bekommen. Die nachfolgende Infografik beleuchtet die gesellschaftlichen Megatrends dieser Zeit und ist eine eingehende Betrachtung wert. Sie zeigt, dass sich das Kaiserreich in einer technischen Boom-Phase befindet. So erhöht sich z.B. der Fleischkonsum von 1850 bis 1900 von 20 auf 45 Kilo pro Person und Jahr, und die Zahl der deutschen Städte mit mehr als 100000 EinwohnerInnen versechsfacht sich in den 40 Jahren nach 1871 auf 48.
Als konkrete Beispiele werden in den Artikeln dann der Kampf des Philosophen Theodor Lessing gegen den Großstadtlärm, das lebensreformerische Sanatorium auf dem Monte Verita im Tessin („Vollpension mit Gartenfron“), die Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt, die Freikörperkultur und der Wandervogel, die Reformpädagogik und der Vegetarismus und nicht zuletzt die Lebensphilosophie in all ihrer Widersprüchlichkeit vorgestellt. Ob die Lebensreform neutral oder eher links oder rechts war, ist dann das Thema eines Streitgespräches zwischen dem Historiker Ulrich Linse und der grünen Politikerin Antje Vollmer. Der linke Historiker Volker Weiß zeigt hingegen die Schnittmengen zwischen der Lebensreform und völkischen und anderen rassistischen Ansätzen auf. Alle Beiträge sind mit ein oder zwei weiterführenden Literaturhinweisen versehen.
Beeindruckend sind die beiden Fotostrecken zu Beginn und am Ende des Heftes. Die erste zeigt zeitgenössische Aufnahmen, links jeweils die normierte, geregelte, steife Normalgesellschaft, rechts Motive der Lebensreform. Die Unterschiede werden überdeutlich. Die zweite Fotostrecke zeigt links Bilder aus dem Milieu der Lebensreform, und jeweils rechts solche der Öko-Pax-Bewegung oder des heutigen Wellness-Kultes. Hier dominieren dann eher die Parallelen.
Eine Doppelseite mit Hinweisen zu Ausstellungen und weiteren Veröffentlichungen und eine weitere zu 10 Reformern, „deren Ideen uns bis heute“ begleiten, schließen das insgesamt angenehm zu lesende, inhaltsreiche und spannende Heft ab.
Bernd Hüttner
ZEIT Geschichte 2/2013: Jugendbewegung und Lebensreform, Hamburg 2013 (überall im Zeitschriften und Bahnhofsbuchhandel), 116 Seiten, 5,90 EUR
Weitere Hinweise zum Thema
Archiv der deutschen Jugendbewegung in Ludwigstein, 37214 Witzenhausen
Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Neue Folge (2004ff)
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