Knapp 60 Frauen aus zehn Ländern versammelten sich bei Quito in der ersten Juniwoche zum von der Rosa Luxemburg Stiftung organisierten Encuentro regional de feminismos y mujeres populares (3.-6. Juni 2013), einem lateinamerikanischen Austausch von Basisfeministinnen. In diesem Rahmen fand am 5. Juni ein internationales Forum zu den Themen Feminismus von unten, Wirtschaftsmodell und Extraktivismus in der Universität Andina Simón Bolívar statt.
Fünf Referentinnen gaben ihre ganz persönlichen Einschätzungen über die Situation der Frauen in ihren jeweiligen Ländern, feministische Widerstandsbewegungen und die aktuellen feministischen Strömungen ab.
Die argentinische Soziologin und Schriftstellerin Maristella Svampa, die außerdem der vom RLS-Andenbüro koordinierten Permanenten Arbeitsgruppe Alternativen zur Entwicklung angehört, machte in ihrem Beitrag deutlich, dass wir uns an einem bedeutsamen historischen Wendepunkt befinden. Im Zeitalter der commodities, das sich unter anderem durch ländliche Enteignungen und zahlreiche sozioökologische Konflikte auszeichnet, seien erstmals vor allem Frauen die Protagonistinnen der Rückeroberung von Gemeingütern. Entsprechend dem Bericht der CEPAL (der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und der Karibik) über die Situation der Frauen (2011-2012), haben immerhin 17 Länder der Region Sozial- und Transferprogramme in den Mittelpunkt ihrer Politiken gesetzt, die allesamt auf Frauen als Leistungsempfängerinnen ausgerichtet sind. Diese neuen Programme markieren laut Svampa zwar tatsächlich einen historischen Meilenstein in der regionalen Politik. Gleichzeitig schaffen sie statt einer echten Geschlechtergleichstellung aber auch soziale Bevormundung. Bedingung für den Erhalt von Transferleistungen ist zudem, dass die Frauen weiterhin die alleinige Verantwortung für die Gesundheit und Erziehung der Kinder tragen. Die ihnen auferlegte Rolle als allumfassende Pflege- und Haushaltskraft wird somit sogar zementiert und eine wesentliche Ursache für die Ungleichbehandlung der Geschlechter reproduziert. Im Ergebnis sind heute in Lateinamerika proportional mehr Frauen von Armut betroffen als früher, obwohl die Armutszahlen auf die Gesamtbevölkerung gerechnet in der Region zurückgegangen sind.
Mar Daza, Koordinatorin des Programms „Demokratie und globale Transformation“ in Peru, eröffnete ihren Vortrag über die politische Situation der peruanischen Frauen und ihre Widerstandsbewegungen mit den Worten der Theoretikerin Marisol de la Cadena: „Las mujeres son más indias“ („Die Frauen sind gesellschaftlich indianischer“). Daza spielte damit auf die Geschlechterhierarchien und ethnischen Ungleichheiten in Peru im Speziellen und im Andenraum im Allgemeinen an. Doch die Frauen haben gelernt sich zur Wehr zu setzen. Der Widerstand gegen das extraktivistische Entwicklungsmodell hat vorwiegend ein weibliches Gesicht – das der ländlichen Frauen und Bäuerinnen. Allerdings befinde sich der Extraktivismus durch den anhaltenden Bergbau weiterhin im Aufschwung, so Daza. In den letzten 10 Jahren Bergbau wurden allein in Peru 217 sozioökologische Konflikte registriert. In Cajamarca beispielsweise habe der moderne Bergbau patriarchale Dynamiken erwiesenermaßen verstärkt, mit der Folge, dass sich sexuelle Gewalt und Misshandlungen intensiviert haben. Auch Vertreibungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen durch verschmutzte Ökosysteme sowie vermehrte Lohn- und Hausarbeit betreffen Frauen, die traditionell mit der Pflege von Menschen und Natur betraut sind, stärker als Männer. Anerkennend bemerkte Daza, dass sich die Frauen in der Auseinandersetzung mit diesen Konflikten trotzdem zunehmend ihre Rechte im sozialen, politischen und familiären Raum erkämpfen.
Den nächsten Beitrag lieferte Elisa Vega, die dem Publikum ihre zum Teil sehr persönlichen Erfahrungen als langjährige Aktivistin des indigenen Widerstands zuteil werden ließ. Sie leitet derzeit das Referat „Entpatriarchalisierung“ des Vizeministeriums für Dekolonisierung in Bolivien. Elisa betonte die Notwendigkeit, die Kämpfe der Frauen in Lateinamerika sichtbar zu machen und kritisierte die sozial gewachsenen Vorurteile gegenüber indigenen Frauen, denen sie selbst ausgesetzt war. Sie verwehrte sich entschieden sowohl gegen das stereotype Bild von den armen, ungebildeten, kinderreichen Indigenen als auch gegen die damit einher gehende allgemeine Geringschätzung gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen und ihren Lebensweisen. Zudem sprach Vega die Entwicklungsproblematik an. Ihrer Meinung nach gilt es über das vorherrschende Entwicklungsmodell intensiv aufzuklären und zu informieren, um diesem nicht anheim zu fallen. „Mit dem Extraktivismus sind wir in eine fatale Entwicklungsmentalität geraten. Ähnlich problematisch verhält es sich mit der Migration in die Städte. Die Konzepte des Guten Lebens und des Sumak Kawsay wurden durch diese Prozesse stark verfälscht“, so die bolivianische Aktivistin. Dennoch blickt sie optimistisch auf die derzeitige Lage, denn die indigenen Frauen in Bolivien bringen sich durchaus aktiv in der antipatriarchalen und antikolonialen Debatte ein, wenngleich sie sich selbst nicht explizit als Feministinnen bezeichnen.
Raquel Gutiérrez ist Professorin am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Puebla in Mexiko. In ihrem Vortrag erinnerte sie an den Feminismus der 70er Jahre, der das notwendige Bewusstsein Frau zu sein als Vorbedingung für feministische Reflexionen hervorhob. Zunächst sollten Frauen von sich und dem, was sie sind - nämlich ein soziales Geflecht jenseits des Staates – ausgehen, meinte Gutiérrez. Daher gehe es auch heute für Frauen darum, einen autonomen, weniger staatsorientierten Raum einzunehmen. Im Bereich des Politischen forderte sie, dass Frauen befähigt werden sollten, Entscheidungen über die Dinge, die sie betreffen, auch selbst fällen zu können. Mit anderen Worten: für eine echte Demokratisierung und der Wiedererlangung der reichhaltigen sozialen Strukturen von Frauen, seien Diskussionen über politische Gemeinschaften notwendig, in der die verschiedenen Lebensweisen respektiert werden und in der alte, machistische Paradigmen, die eine gefährlich dominante, ausgrenzende und unterdrückende Männlichkeit generieren, der Vergangenheit angehören. Dabei könne auf bestehende, erhaltenswerte Strukturen aufbauend, neue kommunitäre Formen der Politik erschaffen werden.
„Wir Basisfrauen befinden uns auf der Seite der Geschichte, auf der Frauen weiter verarmen“, merkte Alejandra Santillana von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito an. Sie sprach in ihrem Beitrag zum einen vom Feminismus von unten und damit über die Kämpfe der Frauen und Völker, die eine Selbstregierung und -verwaltung anstreben. Zum anderen fragte die Aktivistin, was Feminismus eigentlich genau bedeute, welches Ziel angestrebt werden müsse und welche AkteurInnen die politischen Subjekte darstellten. Zudem begreifen sich laut Santillana nicht alle organisierten Basisfrauen als Feministinnen. Dennoch sei es bedeutsam, darüber nachzudenken, „wie wir uns selbst verstehen und womit wir uns identifizieren können, damit wir das bewahren können, was uns verbindet“. Sie schlägt vor, Feminismus von unten als eine ethische und politische Vereinbarung zu betrachten, die das Leben jeder Einzelnen respektiert, die die Selbstwertschätzung von Frauen fördert und sie in ihren eigenen Räumen agieren lässt sowie bestehende Unterschiede anerkennt. Schließlich sei es wichtig, die kulturellen, politischen und organisationsspezifischen Diversitäten in ihren jeweiligen Kontexten zu verorten und dort auch zu festigen, resümierte Santillana.
Besonders spannend wurde dieses Forum durch die unterschiedlichen persönlichen und politischen Hintergründe der fünf Rednerinnen, wobei sich jede von ihnen auf ihre Weise für Frauenrechte und die Überwindung des kapitalistischen, extraktivistischen, patriarchalistischen Staates einsetzt. Feminismus, so kann aus diesem Abend einmal mehr geschlussfolgert werden, ist kein singuläres, fertiges oder einheitliches Konstrukt, sondern lebt eben gerade von der Heterogenität und Vielfalt der Ansichten, politischen Strömungen und Aktionsformen ihrer AkteurInnen.
Die Teilnehmerinnen des Treffens aus Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Perú, Argentinien, Paraguay, Costa Rica, Deutschland und Mexiko hatten bereits die vorhergehenden Tage intensiv genutzt, um sich stärker zu vernetzen und auszutauschen, die Arbeit ihrer Organisationen vorzustellen und natürlich über ihr Selbstverständnis von Feminismus bzw. die verschiedenen Formen von Feminismus zu debattieren.