Die Bundesregierung hat im Sommer die Initiative ergriffen. Auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel versammelten sich am 28. August die Regierungschefs der Staaten des westlichen Balkans in Berlin. Die Konferenz sollte dem stagnierenden Erweiterungsprozess der Europäischen Union in Südost Europa neuen Schwung verleihen. Für die kommenden Jahre ist eine Fortsetzung der Balkan-Gipfel geplant – 2015 in Wien, 2016 in Paris.
Das Engagement der Bundesregierung, die Lage auf dem Balkan wieder auf die Tagesordnung zu setzen, ist zu begrüßen. Denn unter dem Eindruck der internationalen Groß-Krisen in der Ukraine und in der arabischen Welt ist die schwierige Lage im Südosten Europas aus dem Blick geraten.
Mit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2008 hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage in den Ländern der Region teilweise dramatisch verschlechtert.
Kroatien beispielsweise befindet sich im sechsten Jahr einer weiter anhaltenden Rezession. Folgen der Wirtschaftskrise sind politische Instabilität. In Bulgarien mussten unter dem Eindruck von Massenprotesten innerhalb von 17 Monaten gleich zwei vorgezogene Neuwahlen stattfinden. Im Februar 2014 brachen in Bosnien-Herzegowina wütende Sozialproteste aus, die eine tiefgreifende Legitimationskrise aller politischen Optionen deutlich machten. In Mazedonien eskalieren Konflikte zwischen nationalistischen albanischen und mazedonischen Gruppen, die das Land an den Rand des Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte bringen.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf, eine positive Dynamik in Gang zu setzen.
Allerdings droht die Politik der Bundesregierung die Lage eher zu verschlechtern als zu verbessern. Denn Berlin setzt in Südost Europa zur Krisenüberwindung auf einen neoliberalen Crash-Kurs, der schon in Griechenland, Spanien und Portugal gescheitert ist.
Am deutlichsten zeigt sich das falsche Vorgehen derzeit in Serbien. Mit nachdrücklicher Unterstützung der Bundesregierung setzt die im März gewählte Regierung unter Premierminister Aleksandar Vučić ein Reformprogramm um, das als paradigmatisch für die ganze Region gelten kann.
Im Juli wurde ein neues Arbeitsgesetz durchgesetzt, das zu Lohnsenkungen führt, den Arbeitsmarkt flexibilisiert und Arbeitsverhältnisse dereguliert. In den kommenden Jahren sollen bis zu 100.000 Stellen im Öffentlichen Dienst abgebaut werden. Zum Beginn des Dezember werden die Löhne im Öffentlichen Dienst sowie die Renten gesenkt. Gleichzeitig beginnt die Regierung eine Privatisierungsoffensive. In den kommenden Monaten sollen über 500 Firmen privatisiert werden, darunter profitable Unternehmen wie die Telekom. Viele Unternehmen werden abgewickelt, weil sich keine Investoren finden. Arbeitsplatzverluste werden die Folgen sein.
Premierminister Vučić erklärt, die Durchsetzung der Reformen sei zwar "schlimmer als die Hölle", aber nur so könnten die dringend benötigten Auslandsinvestitionen angelockt werden. Nach zwei bis drei Jahren im Tal der Tränen könne Serbien fit für den internationalen Standortwettbewerb werden. Damit würde der EU-Integrationsprozess beschleunigt. Prosperität und Arbeitsplätze würden geschaffen. Doch daran sind Zweifel angebracht. Denn eine unmittelbare Folge der Reformen wird aufgrund der geplanten Entlassungen zunächst ein Anstieg der mit 25 Prozent ohnehin schon hohen Arbeitslosigkeit sein. In Folge der Kürzungspolitik und Lohnsenkungen wird die Binnennachfrage nachlassen. Die Rezession, die Serbien bereits in 2014 durchläuft, droht sich in 2015 zu vertiefen.
Eine Expansion des Billiglohnsektors kann vielleicht Investitionen einiger multinationalen Firmen anlocken, sie bringt aber weder den Beschäftigten noch dem Staatshaushalt nachhaltiges Einkommen. Kurz gesagt: Die Reformen drohen die wirtschaftlichen und sozialen Strukturprobleme zu verschärfen.
Problematisch ist auch die politische Seite der Reformen. Aleksandar Vučić war in den neunziger Jahren Generalsekretär der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS). Noch 2007 initiierte er Unterstützungskampagnen für mutmaßliche Kriegsverbrecher wie Ratko Mladić. Die 2008 aus der Erbmasse der SRS gegründete Serbische Fortschrittspartei (SNS) ist heute zwar der Motor der EU-Integrationspolitik Serbiens. Dafür wird Vučić regelmäßig in Brüssel und Berlin belobigt. Aber in der Innenpolitik zeigt sich der alte autoritäre Stil der Radikalen.
Bei der Durchsetzung des Arbeitsgesetzes wurden gegen den Widerstand der Gewerkschaften die Beteiligungsmechanismen des sozialen Dialogs umgangen. Zahlreiche Journalisten klagen über Einflussnahme der Regierung auf die Medien. Es ist zu befürchten, dass bei der Durchsetzung der unpopulären Kürzungsmaßnahmen zunehmend autoritäre Mittel eingesetzt werden. Im Falle des Scheiterns der derzeitigen Strategie, ist auch ein Rückfall in nationalistische Rhetorik ist nicht ausgeschlossen.
Serbien und der Westbalkan benötigen die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Aber autoritärer Neoliberalismus ist nicht das Rezept für eine positive gesellschaftliche Entwicklung in dieser noch immer durch die Verwüstungen der Kriege der Neunziger Jahre geprägten, verwundbaren Region.
Gefragt ist das Gegenteil: Gezielte und am Gemeinwohl orientierte Investitionsprogramme zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur und Unterstützung produktiver Kapazitäten in Industrie und Landwirtschaft, Stärkung der sozialen Daseinsvorsorge, der Bildungs- und Gesundheitssysteme sowie gesellschaftliche Demokratisierung durch die Unterstützung partizipativer Strukturen, sozialer Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen als auch eine kritische Kulturproduktion und Wissenschaft. Nur so kann eine nachhaltige soziale, ökologische und wirtschaftliche Entwicklung geschaffen werden, die das Fundament für Friedenssicherung und Überwindung des Nationalismus ist.
Boris Kanzleiter ist Leiter des RLS Büros in Belgrad.
Der Text erschien zunächst im Blog REVIEW 2014 - AUSSENPOLITIK WEITER DENKEN.