Gemessen am Pensum der Veröffentlichungen ist Helge Döhring, Mitbegründer des Bremer „Instituts für Syndikalismusforschung“, der derzeit produktivste Forscher über die (anarcho-)syndikalistische Bewegung in Deutschland. In zwei neuen Publikationen – fast zeitgleich erschienen – widmet er sich deren Rolle während des Ersten Weltkrieges und im Widerstand gegen die Nationalsozialisten.
Ausgangspunkt von Syndikalismus in Deutschland 1914-1918 ist die These, dass es schon vor dem Ersten Weltkrieg „sehr wohl warnende und engagierte Stimmen gab“ (S.17), die nicht nur auf die Gefahren eines Krieges hinwiesen, sondern vor allem auch auf die sich dann tatsächlich im „Burgfrieden“ zeigende Mentalität der (deutschen) Sozialdemokratie und den eng mit dieser verzahnten Zentralgewerkschaften. Diese Stimmen – organisiert in der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG), aus der sich dann nach dem Ersten Weltkrieg die anarchosyndikalistische FAUD entwickelte – hätten seit Ende des 19.Jhr. eine radikale Alternative zur etablierten Gewerkschafts- und Parteipolitik dargestellt.
Döhring geht es so zuallererst darum, dem Vergessen dieser Alternative entgegenzuwirken, da gemeinhin auch in der Forschung diese „ausgeblendet“ werde, obwohl die „Lokalisten“, wie sie auch genannt wurden, in den „zeitgenössischen Debatten der Sozialdemokratie eine große Rolle“ gespielt hätten (S.18).
Noch einem anderen Vergessen stellt sich Döhring entgegen – und damit kommen wir zum eigentlichen Thema des Buches, dass nämlich „die lokalorganisierten Gewerkschaftler der Arbeiterbewegung aus ihrem Selbstverständnis und aus ihrer Praxis heraus die erste und zunächst einzige proletarische Bewegung, fest organisierter Kriegsgegner auf Reichsebene“ gewesen wären, „die als Teil der Arbeiterbewegung seit Kriegsbeginn entsprechend vom Herrschaftsapparat bekämpft wurden.“ (S.19f.) So zeige sich: „Als Liebknecht 1916 verhaftet wurde, saßen dort bereits Dutzende syndikalistische Funktionäre!“ (S.20)
Auf rund 100 Seiten skizziert Döhring anschaulich die Geschichte dieser „anderen“ Gewerkschaftsbewegung, ihr Selbstverständnis, ihr Wirken und die Debatten und Auseinandersetzungen rund um ihre Organisation. Abschließend, und dies ist – wie auch schon in Döhrings Buch zur Streikdebatte (Helge Döhring: Generalstreik. Edition AV, 2009) – als besonders gelungen hervorzuheben, finden sich (gut 50 Seiten) von Döhring zusammengetragene Quellen aus den Reihen der deutschen Anarchosyndikalisten, vornehmlich der FAUD-Zeitschrift „Der Syndikalist“, welche sich mit dem Ersten Weltkrieg und auch der Rolle der sozialdemokratischen Bewegung, bzw. Gewerkschaften in diesem beschäftigen. Dass dabei u.a. auch Stimmen zu Wort kommen, die auf das Versagen der französischen Syndikalisten zu sprechen kommen, gibt nötige Hinweise darauf, dass auch im revolutionär syndikalistischen „Lager“ nicht alles heiter Sonnenschein war und zeigt, dass Döhring hier kein unkritisches Propagandabändchen vorgelegt hat.
Wenngleich auch während des Ersten Weltkrieges der Anarchosyndikalismus keineswegs auch nur annährend als eine Massenbewegung verstanden werden kann, und führende Köpfe über dem Untertanengeist der deutschen Arbeiter verzweifelten, wuchs der revolutionäre Syndikalismus im Gefolge von Weltkrieg und Novemberrevolution zumindest zeitweise sprunghaft an. Dieser Höhenflug zu Anfang der 1920er Jahre war aber schon wieder vorbei, als sich die Entwicklung hin zur Durchsetzung des Nationalsozialismus neigte. „Als die Nazibewegung zu Beginn der 1930er Jahren ihren steilen Aufschwung nahm, stand die syndikalistische Bewegung“, so Döhring, „dieser bereits machtlos gegenüber, während es ihr während des Kapp-Putsches im Jahre 1920 zusammen mit anderen revolutionären Organisationen noch gelang, das Ruhrgebiet als Industriezentrum von den reaktionären Truppen zu befreien.“ (S.22) Die FAUD sei schon zuvor „von wenigen lokalen Ausnahmen abgesehen, von einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung auf eine Vernetzung ideengemeinschaftlicher Gruppen“ zusammengeschrumpft (S.156). Dieser Niedergang zeigt sich in Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945 auf beklemmende Weise, da sich Döhring recht intensiv mit einer gerade mal einer guten Handvoll Personen beschäftigt, oder vielmehr, beschäftigen kann. Umso größer der Respekt, der diesen Wenigen entgegen gebracht werden sollte. Döhring meint sogar: „Der Anarcho-Syndikalismus als Widerstandsform in Deutschland hat trotz seiner Marginalität einige Vorzüge zu bieten gehabt (…). Eine Besonderheit lag darin, dass die überregional angelegten Strukturen relativ lange erhalten blieben bzw. vor dem Zugriff der Gestapo geschützt werden konnten. Die anarcho-syndikalistische Fluchthilfeorganisation blieb bis 1937 intakt!“ (S.8) Wie dies möglich war, wird wie folgt erklärt: „Im Allgemeinen lässt sich (…) sagen, dass sich die Anarcho-Syndikalisten frühzeitig und gut vorbereitet auf die Illegalität umstellten, wenngleich sie in einzelnen Fällen die Dimension und die Dynamik des Nazifaschismus leicht unterschätzten. Dass die Regierung Hitler innerhalb weniger Monate oder Jahre ‚abgewirtschaftet’ haben würde, wie es sozialdemokratische oder kommunistische Führungen prognostizierten, nahmen hingegen nur wenige Anarcho-Syndikalisten an.“ (S.27) Gerade die Marginalität der FAUD habe sich so auch vorteilhaft ausgewirkt: „Die anarcho-syndikalistischen Gruppen zeichneten sich dadurch aus, dass sie gegenüber verdeckten Ermittlern der Polizei sehr resistent waren. Das lag daran, dass die Mitglieder sich aus den gewachsenen und gefestigten Strukturen der Zeit vor 1933 zusammensetzten. Die FAUD hatte bis zum Ende ihrer illegalen Tätigkeiten einen eigenen Organisationsapparat. Bündnisse mit kommunistischen und anderen sozialistischen Gruppen ging sie nur in wohlüberlegter und distanzierter Form ein. So blieben die Anarcho-Syndikalisten weitgehend unter sich. Nach 1933 reorganisierten sie sich lediglich auf eigener Basis, weitgehend ohne weitere Mitstreiter für den Widerstand zu werben und einzubinden. Ein weiterer Grund lag darin, dass die anarcho-syndikalistischen Ortsvereine schon vor 1933 vergleichsweise wenig mit Polizeispitzeln durchsetzt gewesen waren, im Gegensatz beispielsweise zu den Verbänden der KPD. Die Tatsache, dass die FAUD gewerkschaftlich und politisch wenig bedeutend gewesen ist, spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle, wie der Verfolgungswille der Polizei und der Strafgerichte nach 1933 beweisen.“ (S.77)
Beide Bücher sind sehr hilfreich um einen Einblick in die betreffenden Themenfelder zu bekommen. Sie vermitteln anschaulich Aspekte der Historie jener Bewegung, der sich Döhring mit großer Sympathie nähert und die im geschichtlichen Bewusstsein stark zu machen, er sich offenkundig – und wie ich meine zu Recht – vorgenommen hat. Auch steckt erkennbar viel Arbeit und Mühe in den Büchern und man kann sich nur darüber freuen, hier einen Autor vor sich zu haben, der eine gewisse Freude an enzyklopädischer Auflistung zu haben scheint. Nicht immer eine einfache Lektüre, hat ein solches Vorgehen dafür den Vorteil, dass eine große Menge an Informationen zu Personen und Organisationen übersichtlich und griffig zugänglich gemacht werden. Inwieweit die an anderer Stelle gemachten Einwände gegen manche Aspekte von Döhrings Ausführungen (siehe Hartmut Rübner in „Graswurzelrevolution“ Nr.381, Sept.2013) stichhaltig sind, bin ich aus dem Stand heraus nicht in der Lage zu beurteilen. Zu diskutieren gibt es jedenfalls immer und es wäre schön, wenn sich nun auch eine breitere anarchistische Forschung in Deutschland herausbilden würde, um fundierte und damit auch zwangsläufig kontroverse Diskussionen führen zu können. Hierzu trägt Döhring und mit ihm das „Institut für Syndikalismusforschung“ bei. Sollten solche Diskussionen dann auch noch auf der Grundlage gegenseitigen Respekts möglich sein, könnte der Anarchismus, zumindest im Bereich der historischen Forschungsgemeinde – aber hoffentlich nicht nur in dieser –, wieder an Aufmerksamkeit gewinnen.
Philippe Kellermann
Helge Döhring: Syndikalismus in Deutschland 1914-1918 – „Im Herzen der Bestie“. AnarchistInnen und SyndikalistInnen und der Erste Weltkrieg. Kapital braucht Kriege – wir nicht! Band 2. Verlag Edition AV, 2013. 230 Seiten, 17,00 €
Helge Döhring: Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013, 191 Seiten, 22,80 €