Nachricht | Van der Walt / Schmidt: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus; Hamburg 2013

"Lucien van der Walt und Michael Schmidt ist ein Standardwerk zum Anarchismus und Syndikalismus gelungen"

Gerhard Hanloser hat in "analyse und kritik" 587 vom 15. Oktober unter dem Titel "Syndikalistische Orthodoxie" das Buch"Schwarze Flamme" rezensiert. Hanloser hat die Langfassung seines Textes zur Publikation zur Verfügung gestellt.

„Schwarze Flamme“ ist ein bereits 2009 auf Englisch erschienenes Werk der südafrikanischen Wissenschaftler und Aktivisten Lucien van der Walt und Michael Schmidt über „revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus“ und - es ist ein großer Wurf. Schon jetzt kann dieses Buch als Standardwerk zum Anarchismus gelten. „Schwarze Flamme“ hebt sich von anderen Veröffentlichungen zum Anarchismus auf vielfältige Weise ab: Es möchte in historischer Darstellung wie definitorischer Leistung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen; es bemüht sich um den längst überfälligen globalen Blick auf anarchistische und syndikalistische Bewegungen auf allen Kontinenten – und trägt hier Beachtliches und auch Anarchismus-kundigen Lesern Neues zusammen; und es verfolgt einen politischen Anspruch: in den Zeiten des Neoliberalismus betonen die beiden Autoren das emanzipatorische wie revolutionäre Potential des Anarchismus.

Dabei heben sie den solidarischen, kämpferischen Klassencharakter des Anarchismus hervor. Anarchismus sei unmittelbar verbunden mit der Arbeiterklasse und ihren Kämpfen gegen die kapitalistische Ausbeutung, so betonen sie. Und was bislang in jeder seriösen Darstellung zum Anarchismus, beispielsweise des libertären Marxisten Daniel Guerin, bereits festgehalten wurde, birgt heutzutage einiges an Diskussionsstoff und Provokationspotential. Denn der heutige meist jugendliche und subkulturell überwölbte Anarchismus stellt gerne einen bunten Gemischtwarenladen dar, in dem von Bindestrichanarchismen der Political-Correctness (wie „Anarcha-Feminismus“) über Veganismus bis zu Dekonstruktion und postmoderner Philosophie alles mögliche fröhliche Urstände feiern darf. Und trotz der Präsenz der syndikalistischen Organisationen, die in Deutschland beispielsweise von der FAU präsentiert werden, erscheinen Kategorien wie Klassenkampf, Arbeiterklasse, Streik und Ausbeutung bestenfalls als tolerierte, aber keinesfalls als konstitutive Elemente des historischen wie zeitgenössischen Anarchismus. Nicht so bei Lucien van der Walt und Michael Schmidt: definitorisch liegt für die beiden erst dann anarchistisches Denken wie Handeln vor, wenn es mit einer bestimmten Form des antikapitalistischen Kampfes verbunden ist: als Massenanarchismus meist in syndikalistischer Form, wobei die anarchistische Gewerkschaft sich nicht nur auf die Produktion bezieht, sondern eine zum Kapitalismus in Opposition stehende Gegen-Totalität neuer, freier und kollektiver Gesellschaftlichkeit darstellt. Dagegen grenzen sie den aufständischen Anarchismus ab, der in der terroristischen „direkten Aktion“ die Massen durch exemplarische Aktionen wachrütteln wollte. Doch im Kern läuft van der Walts/Schmidts Anarchismusdefinition auf Syndikalismus hinaus und auch erklärte Nicht-Anarchisten, die jedoch syndikalistische Politik verfolgten wie die US-amerikanische IWW oder der irische Gewerkschaftsaktivist James Connoly, werden der „broad anarchist tradition“ zugerechnet. So verengen die beiden Autoren den Anarchismus auf moderne Klassenkampftradition, wodurch ein anarchistischer Autor und Aktivist wie Gustav Landauer, bei dem sich romantischer, also voraufklärerischer Antikapitalismus und Gemeinschaftsvorstellungen jenseits des Industrialismus und Syndikalismus finden lassen, schlicht im Buch inexistent ist. Gleichzeitig öffnen sie die Anarchismusdefinition, die radikale Gewerkschaftskämpfe einschließt und aus Anarchismus eine respektable, moderne und bündnisfähige soziale antikapitalistische Bewegung macht, für die auch ein gelungener politischer Tageskampf nicht vom revolutionären Endziel getrennt sei. Die Sympathie wie politische Strategie der Autoren neigt deutlich diesem syndikalistischen Massenansatz zu, kann hier doch auch eine Klassenmacht entstehen, die den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, den die beiden Neoliberalismus nennen, frontal angreifen kann. Da der Neoliberalismus vor allem eine Auflösung von Klassenmacht bewirkte und einer kapitaldienlichen Form des Individualismus das Wort redet, betonen die beiden Autoren die Notwendigkeit einer Wiedergewinnung von Handlungsmacht der arbeitenden Klasse und zeigen den Anarchismus von seiner kollektiven, weniger von seiner individuell, subjektzentrierten Seite.

Mehr noch: einen bestimmten Strang des Anarchismus müssen sie dabei als höchst störend empfinden, denn kann man mit William Godwin und Max Stirner, die in landläufigen Anarchismusdefinitionen oft zu Stammvätern des Anarchismus erhoben werden, den kapitalaffinen Individualismus bekämpfen? Stirner, so wissen nicht nur anarchismuskritische Marxisten, war im Vormärz der Radikalindividualist unter den Junghegelianern und der Aufklärungsdenker Godwin begründete seine antietatsistische Haltung strikt utilitaristisch. Van der Walt und Schmidt bieten nun eine definitorische Herleitung, die den an und für sich sozialistischen Anarchismus stark an Bakunin und Kropotkin als entscheidende Vordenker und Schlüsselfiguren bindet. Sie streiten gegen eine simple Anarchismusdefinition, in der lediglich das Antistaatliche hervorgehoben wird und auch Wirtschaftsliberale plötzlich ihren Platz finden; bereits deren philosophische Väter, Godwin und Stirner, würden jenseits der anarchistischen Tradition stehen, die immer kollektiv, kommunistisch und arbeiterbewegungsbasiert war:

„Anstelle des Kapitalismus und einer zentralisierten staatlichen Kontrolle bevorzugen die Anarchisten eine nichtstaatliche, auf Selbstverwaltung beruhende Planwirtschaft, in der die Produktionsmittel von der Arbeiterklasse und Bauernschaft kontrolliert werden, die Klassenteilung abgeschafft ist und die Güterverteilung sich auf Bedarfsgrundlage vollzieht.“ Damit können die beiden Autoren auch den Stellenwert einer weitere zentrale Figur des Anarchismus relativieren:  Proudhon, der eher eine Ideologie für kleine unabhängige Bauern und Handwerker vertrat, wird zwar als ein die freie Föderation befürwortender Vorläufer des Anarchismus angesehen, doch mit Bakunin kritisiert als ein „Idealist“, dem ein Verständnis der Funktionsweise der modernen kapitalistischen Gesellschaft fehle. Stattdessen habe sich die auf Bakunin und Kropotkin gründende anarchistische Tradition die „marxistische Wirtschaftslehre“ kritisch angeeignet, unter Verwerfung der Marxschen Geschichtstheorie und deren Fortschrittsideologie, die ganze Völker zu Geschichtslosen erklärte und jenseits der Dialektik von notwendiger staatlicher Formung von Gesellschaften im Dienste der Produktivkraftentfaltung. Auch wenn hier richtige Kritikpunkte an Marx und dem Marxismus benannt sind, so gestaltet sich die Präsentation des Marxismus durch die Autoren durchaus kritikwürdig. Marx habe ein immer gültiges, also auch im Post-Kapitalismus bestehendes „Wertgesetz“ als seine wissenschaftliche Erkenntnis präsentiert und die „Verteilung von Konsumgütern im Sozialismus mittels des Erwerbs durch Geld – also mittels Märkten“ favorisiert. Kein Wunder, dass Stalin in diesem Zusammenhang durch keinen Satz von Marx getrennt ist, und das von Autoren, die fein säuberlich die anarchistische Tradition definitorisch auf Linie bringen wollen, aber offensichtlich nicht erkennen, dass Marx vor allem eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise formulierte und für keine „Wirtschaftlehre“ steht. Doch vor diesem Bild erscheint vor allem Kropotkin mit seiner Betonung des gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der Bedürfnisorientierung, sowie die anarchistische Kritik des Lohnsystems als tiefer gehende Sozialkritik des Kapitalismus. Dem kann man guten Gewissens widersprechen, schließlich hatte auch Marx den Kommunismus als ein Bedürfnissystem definiert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Und auch in Bezug auf die Klassenbestimmung, die den beiden Autoren so wichtig ist, hinkt Bakunins Volksbegrifflichkeit den Klassenbestimmungen von Marx und Engels definitorisch wie politisch-praktisch hinterher. Wobei, das muss immer zugestanden werden, der Anarchismus Klassensegmente, die der real existierende Marxismus pejorativ abgewertet, organisatorisch ausgegrenzt und in seinen autoritären Industrialisierungsbemühungen zuweilen blutig bekämpft hat (Lumpenproletarier, Landarbeiter), vertreten und ihren Ansprüchen Rechnung tragen wollte. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich auch ein Endkapitel zu der Arbeiter- und Bauernfrage durchaus spannend, in dem die Autoren nochmals die moderne, mit der Arbeiterbewegung verbundene Tradition des Anarchismus betonen, Historikern wie Eric Hobsbawm deutlich widersprechen, die den Anarchismus als primitive, vormoderne, bäuerliche Bewegung kennzeichnen, aber auch darstellen, dass in manchen Regionen auch große bäuerlich-anarchistische Massenbewegungen entstanden wie die ukrainische Machno-Bewegung zur Russischen Revolution oder die Bewegung Sandinos in Nicaragua in den 20er und 30er Jahren, die sich durch eine Mischung von Nationalismus, Antiimperialismus und Anarchismus auszeichnete – und für die Autoren ebenfalls der broad anarchist tradition zuzurechnen ist. Gleichwohl betonen die Autoren, dass der Anarchismus den Nationalismus und ein marxistisches, antikoloniales Zwei-Stufen-Modell erst nationaler, dann sozialer Befreiung stets ablehnte. Der Problematik, dass es besonders im mexikanischen Syndikalismus um 1910 eine Abwertung und negative Haltung gegenüber der bäuerlichen Bewegungen um Zapata gab, die an die Frontstellung der russischen Revolution (bolschewistische Städte gegen bäuerliche Dörfer) erinnert, gehen die Autoren nicht nach, im großen und ganzen werden Problematiken des Anarchismus und Syndikalismus schlicht umschifft und durch definitorische Festlegungen gemieden. Dass der Anarchismus per se internationalistisch, antirassistisch, antihierarchisch und gegen die Unterdrückung von Frauen war, mag stimmen, eine genauere sozialhistorische und biographische Untersuchung würde sicherlich ein kritischeres Urteil ergeben.

Das Buch markiert dennoch einen gewissen Diskussionsstand, es tritt kritisch und streitlustig, manchmal auch redundant-rechthaberisch auf (eine Habitusform die man bislang eher aus marxistischen Debatten, als aus anarchistischen kennt), aber an ihm sollte der Anarchist, die Anarchistin des 21. Jahrhunderts nicht mehr vorbeikommen.

 

Lucien van der Walt, Michael Schmidt: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus; Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Andreas Förster und Holger Marcks, Edition Nautilus Hamburg, 2013,  560 Seiten, 39,90 EUR