Nachricht | Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog, München 2013

Über eine missglückte Abhandlung zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges

Jahrestage werfen ihre Bücher voraus. Derzeit tut das der 2014 bevorstehende 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Vorgestellt wurde dieser Tage in Berlin die Übersetzung eines Buches, von dem in der Reklame geschrieben wurde, es stelle infrage, „was bisher als Konsens unter Historikern galt, dass Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trägt.“ Sein Autor ist der australische, in England lebende und lehrende Historiker Christopher Clark, der u. a. mit einer Biographie Kaiser Wilhelms II. hervorgetreten war. Sein jüngstes Werk erschien im Original unter dem Titel The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. Den übernahm die deutsche Ausgabe. Mit Schlafwandlern, dem so genannten Somnambulismus, bekommt demnach zu tun, wer sich in diese Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges vertieft. Das sind, nach Auskunft von Neurologen, Menschen mit herabgesetztem Bewusstsein, bei deren Nachtwanderungen indessen aggressives Verhalten nur selten angetroffen wird. Von letzterem kann bei den Akteuren, die auf den Seiten des Buches vorgestellt werden, freilich die Rede nicht durchweg sein.

Clarks Buch ist schon nach seinen Erscheinen in London in der deutschen Presse begrüßt worden, so von dem in dieser Sache ausgewiesenen Historiker Gerd Krumeich, der bis zur seiner Emeritierung an der Universität Düsseldorf lehrte. Nach seiner Feststellung, „zu sehr ist doch hierzulande noch die von Fritz Fischer in den 1960er-Jahren verfochtene These lebendig, dass Deutschland aus verantwortungslosen Weltmachtambitionen diesen Krieg gezielt vorbereitet habe“, gelangt er zu dem vorsichtig formulierten Fazit: „Das wichtigste Gesamtergebnis dieser (Clarks) Untersuchung ... ist wohl, dass man tatsächlich Abschied nehmen kann von der so lange quasi sakrosankten These, dass in erster Linie die Weltmachtambitionen Deutschlands Europa in den Abgrund gestoßen hätten.“ (Die Süddeutsche,30.November2012)
Kürzlich stellte der Autor sein Buch in Berlin vor, wobei dem Gespräch dreier Historiker die Aussage vorangestellt wurde, Clark habe die Kriegsschuldfrage suspendiert. Das trifft es jedoch nicht. Er hat gefragt, ob es überhaupt nötig sei, die Frage nach der Kriegsschuld eines einzelnen oder mehrerer Staaten zu stellen, und vor Irrwegen gewarnt, die, würde ihr dennoch nachgegangen, beschritten werden. (S. 715)  Das erscheint selbst als ein solcher. Denn die Frage nach Verursachung, menschlicher kollektiver oder individueller Verantwortung oder Schuld wird nicht von Historiker als ein ihr fremdes Element in die Geschichte hineingetragen, ihr gleichsam als ein Etikett nur angeheftet. Menschen sind für den Verlauf historischer Prozesse selbst verantwortlich und können in ihnen vor allem, aber nicht nur an der Spitze von Staaten oder als deren Instrumente schuldig werden, was den  Historiker, nimmt er die Geschichte uneingeschränkt wahr, zu einem Verwandten des Staatsanwalts macht. (Das wird übrigens u. a. dadurch anerkannt, dass Geschichtsforscher in Gerichtsprozessen als Sachverständige auftraten.)  Und aktuell kann Clarks Standpunkt, der zwischen Geschichte und Politik keinen Graben sieht, als Nebelwand vor der Frage nach den am Krieg gegen Syrien direkt oder indirekt beteiligten Staaten funktionieren.

Nun bedeutet das Gesagte nicht, dass Clark nichts Neues zu bieten oder Alt- oder wenig Bekanntes nicht betrachtet hätte. Wie üblich hat er sich durch Berge von Akten gearbeitet und, da er ein Polyglott ist, das in Archiven in Moskau, London, Berlin, Rom und Belgrad getan. Was er mitteilt, bewegt sich zudem in der wohltuenden Erzähltradition britischer Geschichtsschreiber, die von akademischem Stuck unbelastet und dadurch nicht nur Fachleuten, sondern auch jedem Gedankenarbeit nicht scheuenden Laien zugänglich ist. Da wechselt die Schilderung dichtester Abfolgen politischer Geschehnisse mit Passagen, die beispielsweise berichten, wie an ihnen Unbeteiligte – Schriftsteller zumal - die Nachricht vom Kriegsbeginn aufnahmen, So werden dem Leser gleichsam Pausen zum Luftholen gelassen.

Die Personage im Buche Clarks, der übrigens bekannte, dass ihn das Warum weniger interessiert habe und er dem Wie des Weges in den Krieg nachgegangen sei, bilden gekrönte und ungekrönte Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Minister, Staatssekretäre und Diplomaten, Militärs, Militärattaches und insbesondere Generalstäbler. Die sortiert er quellengestützt zu den Falken oder den Tauben, zu Zweiflern, Schwankenden und sich aus allem Dafür und Dawider Heraushaltenden. Akribisch wird rekonstruiert, wer was gesehen, erkannt und gedacht, wem gesagt oder pflichtgemäß, vollständig oder partiell, gemeldet, wem ein anderes absichtsvoll verschwiegen, welche Entscheidung getroffen, welche vermieden hat. Erörtert wird selbst, was in dieser oder jener Lage besser oder zweckdienlicher hätte getan werden müssen. Das führt Clark, um die Verhaltensweisen der Akteure zu entschlüsseln, zu vielen anregenden individual- und gruppenpsychologischen Erwägungen. So entsteht ein Bild jener, die „Geschichte gemacht“ haben, doch tun sie das bekanntlich nicht aus „freien Stücken“ und auf die kommt die Rede kaum. So plätschert die Darstellung des Geschehens im Spiegel diplomatischer Papiere, Niederschriften von Sitzungen, Notizen nach offiziellen und privaten Gesprächen, Eintragungen in Tagebüchern, Aussagen in später gefertigten Erinnerungen dahin wie das Wasser im es wenig bewegenden Wind.

Schwerer wiegt indessen noch, dass Clark die Vorgeschichte des Weltkrieges 1911 mit Italiens Eroberung der libyschen Wüste beginnen lässt, wodurch die Morschheit des Osmanischen Reiches auch für die unterdrückten Balkanvölker ermutigend und folgenreich zutage getreten sei. Nun wird keine Weltkriegsforschung Platz und Rolle der altersschwächelnden Vielvölkergefängnisse und der ihren Bestand verteidigenden Machthaber in Wien nebst Budapest und Konstantinopel außer Acht lassen. Doch geschichtlicher Ausgangspunkt und Kern der sich entwickelnden Widersprüche und der aus ihnen hervor wachsenden Konflikte war nach 1871 die Entstehung eines neuen Staates im Zentrum Europas, der in raschem Tempo ökonomisch und militärisch eine Großmacht wurde, in der letzten Phase der Aufteilung der Welt aber nur wenig noch abbekam, Weltmacht dennoch werden wollte und auf diesem Wege auf sich verbündende äußere Kräfte stieß, die seine Ambitionen und Pläne einzuhegen oder zu durchkreuzen trachteten. Dieser Weg, wurde er nicht verlassen, musste früher oder später in einen Krieg münden.

Das bedeutet wiederum nicht, dass er alternativlos war. Clark wertet die Spuren jener aus, die den Krieg nicht und die jeweils eigenen Interessen mit anderen Mitteln verteidigen wollten und sich in Regierungsapparaten aller später Kriegführenden fanden. Nur sind manche seiner Unterscheidungen unscharf. Es geraten ihm zu viele Personen zu den mindestens zeitweilig Friedfertigen, denen es indessen einzig zu tun war, öffentlich nicht als Kriegstreiber und Kriegsschuldige – das Bemühen darum begann schon vor dem ersten Schuss und mit dem Blick auf die Ablehnung des Krieges durch Volksmassen überall – zu erscheinen.

Clarks Buch kann auch als Objekt einer Demonstration nützen, wohin Geschichtsanalyse minus Wirtschaftsgeschichte führt. Verwundert reibt sich der Leser die Augen, wenn er spät (S. 693) liest, dass eine Delegation der städtischen Finanziers den  britischen Premier am 31. Juli 1914 davor warnte, dass das Land in einen Krieg hineingezogen werde. Und wenn er auf der letzten Seite des Buches bemerkt findet, dass es Kräfte gab, die an Kriegsvorbereitung und Krieg verdienen  Ohne Erwähnung von Frankreichs Industriellen wird auf den Verkauf modernisierter Kanonen an Balkanstaaten verwiesen, deren Einsatz bis dahin unbekannte furchtbare Verwundungen hervorrief. Was über die wirtschaftlichen Eliten geschrieben wird, erscheint in Nebenbemerkungen und bleibt schlicht und dürftig. Gustav Krupp wird einzig im Zusammenhang einer Begegnung mit Wilhelm II. und da als Zeuge apostrophiert, weil ihm der Kaiser versicherte, er werde in der eben ausgebrochenen Krise nicht umfallen. Schließlich heißt es generalisierend, die Politiker hätten ihre verhängnisvollen Entscheidungen im Juli und August 1914 weniger unter dem Druck auch von „Industrie- und Finanzlobbygruppen“ getroffen, sondern unter dem ihrer Gegner in den eigenen Apparaten. So erscheint der schlíeßliche Eilmarsch in das Völkermorden als Resultat von Meinungskämpfen und Rivalitäten in Gremien, Zirkeln und Cliquen von Politikern und Militärs. Vor allem aber haben im Fokus der Analyse nicht die letzten unwiderruflichen Entschlüsse über Krieg und Frieden zu stehen, die noch stets Politiker und Militärs trafen, sondern die strategischen Vorstellungen und der in den Eliten vorherrschende Geist, in den ökonomischen wie in den so genannten geistigen.

Schade, dass Clark, der seine Lektüre auf 36 Buchseiten ausweist, das Vorliegende durchmusternd, nicht auf die dreibändige Geschichte „Deutschland im Ersten Weltkrieg“, deren Band 1 1968 erschien, gestoßen ist, die Fritz Klein mit den Bandredakteuren Joachim Petzold und Willibald Gutsche und weiteren Mitstreitern verfasst hat, eines der wenigen Werke aus DDR-Zeit, das nach 1990 eine Wiederauflage erfuhr.

Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 895 S, 39,99 EUR

Manuskript des Textes, der am 2. November 2013 in der tageszeitung neues deutschland erschien. Wir danken Kurt Pätzold herzlich für die Überlassung seines Textes. Weitere Rezension des Buches von Clark hier.