Nachricht | Klönne: Jugendbewegung in der deutschen Geschichte, Erfurt 2013

" eignet sich vorzüglich für einen Einstieg in die Geschichte der Jugendbewegung(en) in Deutschland"

Passend zum einhundersten Jahrestag des Treffens deutscher Jugendbewegter auf dem Hohen Meißner 1913 erschien bei der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung ein handliches Bändchen, das der Bedeutung der Jugendbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgeht. In kurzen Kapiteln werden die unterschiedlichen Aspekte und Strömungen in lockerer, chronologischer Reihenfolge dargestellt. Es werden der Wandervogel und seine Entstehungsbedingungen im Kaiserreich, die
neoromantische Suche nach der blauen Blume und der »Realitätsschock« des Ersten Weltkrieges beschrieben.
Sodann folgt ein Einschub, der die Kategorien Jugend und Jugendbewegung begrifflich und historisch erläutert. Die »eigentliche« Jugendbewegung erhält hier eine sozial- und ideengeschichtliche Vorgeschichte seit dem »Sturm und Drang« im 18. Jahrhundert. Ein eigenes Kapitel erhält auch die Arbeiterjugendbewegung, die ab 1904 regional mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstand. »Im Unterschied zu den bürgerlichen Jugendbünden unterlagen die Arbeiterjugendgruppen von Beginn an einer strengen politischen Repression. Ein Höhepunkt dieser staatlichen  ›Gefahrenabwehr‹ war das preußische Vereinsgesetz von 1908, das zutreffend als ›Sozialistengesetz für die Jugend‹ bezeichnet wurde.«(S. 26)  Auch die Aufspaltungen während des Ersten Weltkrieges und die »Jenaer Arbeiterjugendkonferenz« unter Teilnahme von Karl Liebknecht werden dargestellt.

Die spätere geschichtsklitternde Vereinnahmung dieser Konferenz durch die kommunistische Geschichtsschreibung der DDR als Gründungsstunde des kommunistischen Jugendverbandes wird genauso erwähnt, wie die Karrieren der Meißnerfahrer Willi Münzenberg und Alfred Kurella in der Kommunistischen Jugendinternationale.
Auch die sozialdemokratische Jugendbewegung und ihr stilprägend jugendbewegter Arbeiterjugendtag 1920 in Weimar sowie die dortige  Gründungskonferenz der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) werden geschildert, ihr sozialgeschichtlicher Hintergrund, die Unterschiede in den Lebenslagen bürgerlicher und proletarischer Jugendlicher und die daraus resultierenden unterschiedlichen Ausprägungen der entsprechenden Strömungen der Jugendbewegung werden erläutert. Es folgt ein Kapitel
"Weibliche Erwartungen an die Jugendbewegung". Primär bürgerliche Mädchen waren bestrebt, die Geschlechterhierarchie aufzubrechen, die die deutsche Gesellschaft prägte, sie wollten gleichberechtigtere Formen des Umgangs finden.
Bei dieser Querschnittsbetrachtung geraten auch die deutsch-jüdischen Jugendbünde als dritte Strömung in den Blick: »In der bürgerlichen Jugendbewegung fanden Mädchen und junge Frauen außer dem Ziel einer eigenständigen ›Jugendkultur‹ keine männlich wie weiblich gleichermaßen gültigen Handlungsmuster, während diese in der Arbeiterjugendbewegung und bei deutsch-jüdischen Jugendbünden existierten. In den sozialistischen Jugendorganisationen bot die soziale ›Kampfgenossenschaft‹ von weiblicher und männlicher Jugend ein gemeinsames Ideal, in deutsch-jüdischen Bünden entwickelte sich Geschlechtergemeinschaft in der Abwehr des Antisemitismus und auch durch das gemeinsame Wiederentdecken jüdischer Kultur.« (S. 39)
breiten Raum nimmt die Verarbeitung des Kriegserlebnisses innerhalb der Jugendbewegung ein: Antimilitarismus (etwa bei Hans Paasche oder in der Arbeiterjugend) oder – wie in weiten Teilen der bürgerlichen Bünde – »Modernisierung« der Kriegsromantik etwa durch »völkische« Aufladung, quasireligiöse Mystifizierung des Todes vieler Tausend Wandervögel bei Langemarck als »Opfertod« und Faszination für militärisches Gehabe und Technik. »So wurde unter Rückgriff auf religiöse Symbolik, die Niederlage in einen Sieg, der Tod in eine mythische Lebendigkeit umgefälscht. Die ›heroische Weltanschauung‹ als jugendpädagogisches Leitbild breitete sich längst vor 1933 aus und reichte bis weit in die konfessionellen Jugendverbände, die Turnerjugend und politisch ungebundene Jugendorganisationen hinein.« (S. 47)
»Jugendbewegung und Nationalsozialismus« ist ein eigenes Kapitel. Klönne stellt sein Urteil an den Kapitelanfang: »Die Arbeiterjugendverbände waren 1933 Gegner des Nationalsozialismus; sofort nach Beginn des ›Dritten Reiches‹ wurden sie unterdrückt. Die deutsch-jüdischen Jugendbünde wurden
Opfer des NS-staatlichen Rassismus. Und die bürgerliche Jugendbewegung? Um eines vorwegzunehmen: Für die organisations- und machtpolitische Durchsetzung des ›Dritten Reiches‹ war die Jugendbewegung ohne Bedeutung; nicht die Jugendbünde waren es, auch nicht die bürgerlichen und nationalistischen, die Hitler in den Sattel verhalfen oder der NS-Staatlichkeit ihren festen Boden gaben. Aber ohne Zweifel gehörte zu weiten Teilen die bürgerliche Jugendbewegung zu jenen Strömungen in der deutschen Ideengeschichte, die Dispositionen bereitstellten, also Denkweisen, Leitbilder und Verhaltensformen, an die der Nationalsozialismus anknüpfen, die er für seine Zwecke stückeln, bearbeiten und verwenden konnte, was einen erheblichen Teil seiner ›idealistischen‹ Seite ausmachte.« (S. 55)
Nach der Befreiung Deutschlands war die Jugendbewegung jedoch – weder in Ost- noch in Westdeutschland – desavouiert und beendet, vielmehr entstanden sehr schnell, beeinflusst durch die Bestrebungen der jeweiligen Besatzungsmächte, neue Jugendorganisationen, die zunächst an die Formen der alten bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegung anknüpften. In den westlichen Besatzungszonen, durchaus mitgeprägt durch die jeweilige Besatzungsmacht, entstand ein pluralistisch aufgefächertes Spektrum unterschiedlicher Jugendorganisationen, das vielfach an die Weimarer Situation anknüpfte, »evangelische und katholische Jugendorganisationen; die sozialistische (an der SPD orientierte) Jugendorganisation ›Die Falken‹, Gewerkschaftsjugend, Sportjugendverbände; bündisch-pfadfinderische Organisationen ohne konfessionelle Bindung und die Naturfreundejugend«.
(S.64) Auch die FDJ in der sowjetischen Zone gehörte zunächst in diesen Kontext, wurde jedoch »bald von der kommunistischen Parteipolitik vereinnahmt«. (S. 64) Ein Unterschied zur Vorkriegsjugendbewegung wird betont: Durchaus zur Enttäuschung älterer Jugendbewegter, die nach 1945 gerne eine idealistisch gesonnene »neue Jugend« samt pathetischer »Sendung der Jugend« organisiert hätten, traf dies nirgends auf Widerhall. Erfolgreicher war jedoch der Versuch, der »Hitlerjugendgeneration« und der Jugend überhaupt eine wesentliche Mitverantwortung für den Nationalsozialismus zuzuschreiben. Eine Folge hiervon war, so Klönne, das späte Volljährigkeits- und Wahlrechtsalter von 21 Jahren. »Zwischen 1946 und 1948 fand in Deutschland so etwas wie eine publizistische Kampagne statt, eine öffentliche Warnung vor dem ›Gift der Blauen Blume‹«. (S.73) In der Notsituation jener Jahre in Ost und West waren sich die Repräsentanten von Politik, Kirchen und Sozialverbänden einig, dass Lagerfeuer und  Fahrtenromantik keine Berechtigung mehr hätten, die Jugendverbände müssten sich »der sozialen Realität der Jugend stellen«. Diese Vorgaben gingen jedoch an den Wünschen vieler Jugendlicher vorbei. »Die Trümmerjugend war an großartig daherkommenden jugendbewegten Deklarationen wenig interessiert, und sie drängte selbstverständlich nach Versorgung mit dem Nötigsten, mit Wohnplätzen, Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen, aber vielfach wollte sie auch das nachholen, was der reglementierte Staatsjugenddienst, die Kriegsjahre und die Kriegsfolgen ihr verwehrt hatten, nämlich ein unbeschwertes Leben in der freien Zeit mit der jugendlichen Gruppe, auf Fahrt oder im Jugendlager«.(S.74) Erst Mitte der 1950er Jahre verloren diese Formen für die Nachwachsenden an Attraktivität.

Klönne widerspricht auch der verbreiteten These, die Nachkriegsjugend sei »unpolitisch« gewesen, jugendliches politisches Bewusstsein und Engagement seien eigentlich erst infolge der 68er-Bewegungen entstanden. Gemeinsamer Nenner dieser früheren Jugend waren Ansätze einer eigenständigen Reflexion über den Nationalsozialismus und ein weit verbreiteter Antimilitarismus. Dieser sei von den Falken bis zur katholischen Jugend und selbst der FDJ als Grundstimmung deutlich wahrzunehmen gewesen. Erst die Intervention der jeweiligen Parteien habe die Jugendorganisationen »auf Linie« gebracht. Das Abschlusskapitel beschäftigt sich – naheliegend für eine Publikation der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung – mit der kommunistischen Dominanz und Verstaatlichung und der FDJ in der DDR.
Die zwar kurze aber differenzierte Darstellung, die in jedem Abschnitt mit Literaturempfehlungen zum Weiterlesen versehen ist, eignet sich vorzüglich für einen Einstieg in die Geschichte der Jugendbewegung(en) in Deutschland. Es ist sehr bedauerlich, dass sie nicht bis in die jüngere Zeit fortgesetzt wurde. Dies mag dem engen Rahmen einer Publikation für eine Landeszentrale geschuldet sein, ist jedoch unbefriedigend. Vielleicht besteht ja die Möglichkeit einer erweiterten Ausgabe anderswo.
Diese müsste sich sowohl mit der getrennten Geschichte bis 1989 als auch  der Entwicklung seither und in diesem Rahmen auch mit dem Entstehen eigener migrantischer Jugendverbände wie Amaro Drom (dem Jugendverband der Sinti und Roma), der türkischen DIDF-Jugend (Föderation demokratischer
Arbeitervereine) oder dem Bund der Alevitischen Jugendlichen beschäftigen.

Kay Schweigmann-Greve, Hannover

Der Text erschien zuerst in den neuen Mitteilungen des Archiv der Arbeiterjugend

Arno Klönne: Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte, Erfurt 2013 (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 107 Seiten, ISBN 978-3-943588-18-7, Preis: In Thüringen kostenlos. Sonst siehe http://www.lzt-thueringen.de/