Hendrik Wallat hat u.a. zwei Bücher zur linken Kritik an der russischen Revolution veröffentlicht. Philippe Kellermann sprach mit ihm über sein aktuelles.
Philippe Kellermann: Vor nicht allzu langer Zeit hast du ein Buch zur „linken Bolschewismuskritik“ veröffentlicht. Nun ist mit Oktoberrevolution oder Bolschewismus ein neues Werk von dir erschienen, das sich mit dem Linken Sozialrevolutionär Isaak Steinberg beschäftigt. Warum dieses Interesse am Bolschewismus?
Hendrik Wallat: Der Bolschewismus gehört zum Themenkomplex der gescheiterten Befreiung und der Dialektik der (Konter-)Revolution. Mein Interesse gilt ihm zwar auch als historischem Objekt, als Moment einer (missglückten) Geschichte, die unsere Gegenwart fundiert; darzustellen, dass diese Geschichte facettenreicher ist, als zumeist bekannt, ist eines meiner Anliegen. Primär fokussiere ich aber – ich bin kein Historiker – am Bolschewismus Probleme, die über seinen spezifischen historischen Kontext hinausgehen. Mit anderen Worten: Es geht mir um grundsätzliche Fragen der Emanzipation, die nicht nur politische, sondern ‚philosophische‘ und sozialtheoretische Dimensionen aufweisen. Im Grunde folge ich hiermit dem historischen Erfahrungskern der klassischen kritischen Theorie: der Erfahrung des Scheiterns der Revolution, die es weiterhin bzw. erneut zu reflektieren gilt. Isaak Steinberg war in diesem Kontext gleichsam ein Zufallstreffer.
Philippe Kellermann: Steinberg hast du ja schon in deinem Buch Staat oder Revolution neben Sozialdemokraten wie Luxemburg und Kautsky, Anarchisten wie Rudolf Rocker oder Rätekommunisten wie Rühle und Pannekoek vorgestellt und diskutiert. Was ist gerade das besonders interessante am Linken Sozialrevolutionär Isaak Steinberg?
Hendrik Wallat: Es sind mehrere Dinge, die mich an Steinberg faszinieren: Zum einen stand Steinberg im Zentrum der Oktoberrevolution – und zwar als eine realistische Alternative zu Lenin und seinen Genossen. Zum anderen hat Steinberg ein reichhaltiges und sehr reflektiertes Werk hinterlassen, welches seine sozialrevolutionäre Praxis theoretisch durchdringt. Da mich systematische Fragen (samt der Arbeit an theoretischen Texten) besonders interessieren, ist Steinbergs kaum erschlossenes Werk eine wahre Fundgrube zur Erschließung alternativer Theorie und Praxis radikaler Emanzipation. Im Übrigen ist der Lebenslauf von Steinberg insgesamt äußerst spannend, wirkte er doch in späteren Jahren an führender Stelle in der jüdischen Freiland-Liga. Diese ist heute genauso vergessen wie die sozialrevolutionäre Alternative in der Oktoberrevolution. Angesichts der politischen Bedeutung, die der Person Steinberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zukommt, ist es schon erstaunlich, dass er so in Vergessenheit geraten ist; auch dieses Faktum spricht einmal mehr Bände über den Verlauf der Geschichte der missglückten Befreiung.
Philippe Kellermann: Wie lässt sich diese „realistische Alternative“ beschreiben, für die Isaak Steinberg deiner Meinung nach im Kontext der Oktoberrevolution steht?
Hendrik Wallat: Zum einen waren Steinberg und seine Genossen bestrebt die Oktoberrevolution auf eine breite, plurale sozialistische Basis zu stellen, was alles andere als Wunschdenken war. Dieses Unternehmen, welches der rasanten Entwicklung einer staatsterroristischen Diktatur entgegengewirkt hätte, wurde allerdings explizit von Lenin torpediert, dessen aggressiver exklusiver Machtanspruch jede Verständigung ausschloss; dieser Kurs war auch unter den Bolschewiki stark umstritten, und führte fast zur Spaltung der Partei. Zum anderen – noch wichtiger – hatten die Linken Sozialrevolutionäre eine ‚Befreiungskonzeption‘, die auf die russischen Verhältnisse zugeschnitten war: Es ging ihnen nicht um eine proletarische Revolution, die unter den damaligen sozio-ökonomischen Bedingungen notwendig eine Minderheitenposition einnehmen musste. Sie intendierten vielmehr die Einheit von Bauern- und Arbeiterbefreiung. Nicht gegen, sondern mit dem Land sollte die Revolution gemacht werden. Es ist die breite Basis auf dem Land, die die Linken Sozialrevolutionäre gegenüber den Bolschewiki auszeichnete. Da die Bauern- und Agrarfrage letztlich der Angelpunkt der Revolution und ihres Scheiterns war, auf die die Bolschewiki ihre bekannten, desaströsen Antworten gaben, liegt im sozialrevolutionären Programm die eigentliche Alternative zur terroristischen und ineffizienten Kommando-Ökonomie des sich mit aller Gewalt durchsetzenden Staatskommunismus.
Philippe Kellermann: Kannst du noch etwas zum weiteren Lebenslauf Steinbergs sagen und inwiefern sich in diesem die Erfahrungen an die gescheiterte Revolution in Russland, sprich: die von den Bolschewiki usurpierte Revolution, niedergeschlagen hat?
Hendrik Wallat: Steinberg ging 1923 nach dem Bruch mit den Bolschewiki, der in das Frühjahr 1918 datiert, ins Exil nach Deutschland; sein ehemaliger Doktorvater und damaliger Reichsjustizminister Gustav Radbruch war ihm behilflich. Seine Berliner Jahre, in denen er in der Leitung der Auslandsorganisation der Linken Sozialrevolutionäre aktiv war, brachten ihn mit linksradikaler Prominenz wie Karl Korsch und Rudolf Rocker in engen Kontakt. Diese Episode ist ebenso wenig erforscht wie auch sein weiteres Leben. 1933 kam er von einer Auslandsreise nach England nicht mehr zurück. Von London aus agierte er weiter für die linken politischen Gefangenen in der Sowjetunion. Sein neuer politischer Wirkungsschwerpunkt wurde allerdings die jüdische Freiland-Liga, die einen sogenannten jüdischen Territorialismus vertrat und deren führender Kopf er bis zum Ende seines Lebens blieb. Das Anliegen des strenggläubigen Juden war es, Land für die vom Nationalsozialismus verfolgten europäischen Juden zu finden. Steinberg lehnte nicht die von der zionistischen Bewegung anvisierte jüdische Besiedlung Palästinas ab. Er wollte diese aber nicht auf Kosten der ansässigen arabischen Bevölkerung betreiben. Zudem erschien ihm dieses Projekt als viel zu klein, um die Rettung aller europäischen Juden zu bewerkstelligen. Der Gründung des Staates Israels stand er später kritisch gegenüber, da er in der mit ihr verbundenen Machtpolitik keine Lösung der Nöte des jüdischen Volkes sah. Vielmehr konstatierte er Parallelen zur Russischen Revolution: An die Stelle jüdischer Befreiung – mit großer Sympathie begegneter er der (sozialistischen) Kibbuzin-Bewegung – trat abermals die Staatsgewalt und ihre anti-emanzipatorische Dynamik. Steinberg blieb seinem aus jüdischer Religiösität und kantscher Moralphilosophie gespeistem Ideal der sozialrevolutionären Befreiung treu; dies dokumentiert etwa sein Spätwerk In the workshop of revolution (1953). Das Projekt einer Landsuche für die verfolgten Juden – insbesondere während des 2. Weltkrieges in Australien, danach in Surinam – war aber jenseits seines eigenen politischen ‚Bekenntnisses‘ situiert: Es war der mit höchster persönlicher Energie betriebene humane Versuch, das Schlimmste zu verhindern: die Juden vor dem Antisemitismus zu retten; er kannte dessen eliminatorische Gewalt nicht erst aus Deutschland, sondern schon von den ubiquitären Pogromen in Russland.
Philippe Kellermann: Dann danke ich dir für dieses Gespräch.
Hendrik Wallat: Bolschewismus oder Oktoberrevolution. Studien zu Leben und Werk Isaak N. Steinbergs. Edition Assemblage, 2013. 184 Seiten. 18 Euro.
Siehe auch:
Hendrik Wallat: Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik. Edition Assemblage, 2012.
Hendrik Wallat: „Die Weltreaktion ist auch Moskau!“ Rätekommunistische und anarchistische Kritik am Bolschewismus, in: Gruppe INEX (Hg.): Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus. Unrast Verlag, 2012. S.154-171.