Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte »Geschichte sollte in der Linken eine größere Rolle spielen«

Ein Interview mit Florian Wilde

Erst kriegsbegeisterte Massen, dann Tod und Verderben. Diese Bilder kennt man vom Ersten Weltkrieg. Zum kommenden Gedenkjahr schildert der Historiker Florian Wilde, woran zu wenig erinnert wird

Florian, im kommenden August jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Schon jetzt ist absehbar, dass das Jubiläum zum medialen Großereignis wird. Warum ist die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« noch heute relevant?
Der Erste Weltkrieg ist nicht nur die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er ist auch der Ausgangspunkt der bis heute andauernden Spaltung der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung in, grob gesagt, einen radikalen und einen reformistischen Flügel. Die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 schockierte die revolutionären Linken, die ja Teil der Sozialdemokratie waren. Noch am Abend desselben Tages versammelten sie sich in der Wohnung Rosa Luxemburgs und konstituierten sich als eigenständiges Netzwerk. Insofern war der Beginn des Kriegs auch die Geburtsstunde des Spartakusbundes, aus dem später die Kommunistische Partei Deutschlands hervorging, also eine Vorläuferorganisation der LINKEN.

Die kritische Beschäftigung mit den damaligen Ereignissen kann für DIE LINKE heute eine wichtige, identitätsstiftende Funktion haben. Zumal damit viele Aspekte verbunden sind, die auch heute noch Relevanz haben: Etwa der enge Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg oder die Ursachen für den Verrat der SPD. Programmatisch stand die Sozialdemokratie mit ihrem Erfurter Parteiprogramm weit links und hatte Kriegsbeteiligungen immer entschieden abgelehnt. Allerdings war es ihr nicht gelungen, eine mit ihrer radikalen Programmatik korrespondierende Praxis zu entwickeln. Im Fokus standen stattdessen Wahlkämpfe und die parlamentarische Tätigkeit. Dieser Fokus führte zu einer allmählichen Anpassung der Partei und ihrer Integration in das System. Im Jahr 1914 wurde sie schließlich vor die Wahl gestellt: Entweder sie stimmt dem Krieg zu und erhält dafür die Anerkennung der Eliten und das Versprechen auf mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten, oder sie bleibt ihren Überzeugungen treu und wird ausgegrenzt und isoliert. Sie entschied sie sich leider gegen ihr Programm. Auch DIE LINKE könnte in der Zukunft vor ähnliche Entscheidungen stehen.

Du bist Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN. Was wird die Partei anlässlich des Jahrestages machen?
Das Thema wird im kommenden Jahr immer wieder eine Rolle spielen, beginnend am 12. Januar beim politischen Jahresauftakt der LINKEN zusammen mit der Europäischen Linkspartei (EL) in der Volksbühne in Berlin. Auch im Europawahlkampf soll der Weltkrieg thematisiert werden. Die EL wird im Juni in Sarajewo und im August in Straßburg internationale Antikriegskonferenzen veranstalten. Auch die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung plant einiges, etwa eine große Konferenz zum Zusammenhang von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus. Leider fehlt der Partei noch ein Leuchtturmprojekt, mit dem sie die SPD auch geschichtspolitisch öffentlichkeitswirksam angreifen könnte. Gleichzeitig sehe ich viel Potenzial für Veranstaltungen in den Basisgliederungen der LINKEN.

Und letztendlich ist das nur ein Anfang. Es stehen ja noch weitere 100. Jubiläen an...
In der Tat! Aus der Erfahrung mit dem Horror des Weltkrieges resultierten die Russische Revolution im Jahr 1917 und die Novemberrevolution 1918. Diese wiederum war der Auftakt zu einer bis 1923 andauernden revolutionären Krise in Deutschland, in die auch die Gründung der KPD und die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts fielen. Diese Jahrestage bieten nicht nur das Potenzial zu linker Identitätsbildung, sondern auch zur Diskussion grundsätzlicher Fragen. Geschichtspolitik sollte in den nächsten Jahren in der Linken eine größere Rolle spielen.

(Das Interview führte Marcel Bois.)

Zur Person:
Florian Wilde ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und arbeitet in ihrer Historischen Kommission mit. Er promovierte über den vergessenen Spartakusbund-Gründer und KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer.

Quelle: www.marx21.de