Nachricht | International / Transnational - Asien Kambodscha versinkt im Chaos

Die gewaltsam beendeten Streiks haben sich zu einem Kampf um die politische Macht ausgeweitet. Analyse von Manuel Palz (Büro Hanoi).

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Manuel Palz,

Am vergangenen Freitag (3.1.2014), ist es in der Hauptstadt Phnom Penh zu einem blutigen Zwischenfall gekommen, als die Militärpolizei das Feuer auf demonstrierende Textilarbeiter_innen eröffnete. Fünf Menschen sind dabei ums Leben gekommen und mindestens zwanzig weitere wurden teils schwer verletzt. Diese Gewalteskalation ist der traurige Höhepunkt der Proteste für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen der Textilarbeiter_innen und für den Rücktritt des autoritären Ministerpräsidenten Hun Sen. Sie sind fast schon eine logische Konsequenz aus dem Chaos, in dem das verarmte Königreich seit den fünften Wahlen zur Nationalversammlung in diesem Sommer zu versinken droht.

Hintergründe des Konflikts

Die Auseinandersetzungen begannen vor mehr als zwei Wochen mit einem Arbeitskampf der kambodschanischen Textilarbeiter_innen um eine Erhöhung ihres Mindestlohns. Textilprodukte sind Kambodschas Exportschlager und machen rund 85 Prozent des gesamten Exportvolumens des südostasiatischen Landes aus. Die Textilindustrie ist der größte formelle Arbeitssektor des Landes mit rund 400.000 Beschäftigten, davon gut 90 Prozent Frauen. Geschätzte 500,000 Angestellte arbeiten in der Zulieferungsindustrie. Die Forderung nach einer Anhebung des spärlichen, kaum zum Überleben ausreichenden Mindestlohns von 3.30 USD pro Tag, also 80 USD im  Monat, trifft einen wunden Punkt Kambodschas. Mit Bangladesch, Vietnam und neuerdings auch Myanmar gibt es große Konkurrenz im Kampf um billig produzierte Kleidung. Eine Anhebung des Mindestlohns in der Textilbranche auf 160 USD, so die Forderung der Demonstrant_innen, würde in den Augen der Investoren die Attraktivität des Standortes Kambodscha in Frage stellen. Ohne die Devisen aus diesen Branchen würden die Einnahmen fehlen, die das Land dringend benötigt, um notwendige Reformen zu finanzieren. Kambodschas Abhängigkeit von der Volksrepublik China, die Kambodscha immer wieder mit Investitionen und Krediten unterstützt, würde besorgniserregende Dimensionen erreichen. Dass China dem kleinen südostasiatischen Land nicht aus reiner Nächstenliebe finanziell unter die Arme greift, bedarf keiner weiteren Erklärung. Dass die kambodschanische Regierung, trotz anderslautender Versprechungen im Wahlkampf, nun aber nur eine Erhöhung von 15 USD im Monat beschloss, brachte das Fass zum Überlaufen. Die seit Sommer ohnehin aufgeheizte Stimmung und die jahrelang angestaute Wut über fehlende Perspektiven und ausbleibende Verbesserung des Lebensstandards, gerade für die größtenteils aus dem ländlichen Raum kommenden Näher_innen, entzündete sich und verursachte einen Flächenbrand im gesamten Königreich. Der Arbeitskampf ist mittlerweile zu einem Kampf um die politischen Geschicke des Landes geworden, das Ziel ist der Rücktritt von Ministerpräsident Hun Sen.

Bereits am Donnerstagabend eskalierte die Situation, als Sicherheitskräfte eine friedliche Demonstration durch die Ausübung von exzessiver Gewalt auflösten. Es wurde berichtet, dass die Militärpolizei und zivil gekleidete Sicherheitskräfte mit Eisenstangen, Schlagstöcken und Holzlatten auf die meist weiblichen Demonstrant_innen einschlugen. Dieser überflüssige Einsatz von Gewalt kam für die Betroffenen völlig unerwartet und macht deutlich, dass die Regierung um den seit 28 Jahren autoritär regierenden und seit Sommer hochumstrittenen Ministerpräsidenten Hun Sen bereit ist, ihre Macht mit allen Mitteln zu verteidigen. Bereits in der Vergangenheit fiel Hun Sen immer wieder dadurch auf, dass er Proteste gegen seine Amtsführung teils brutal zerschlagen ließ. Die Militärpolizei, eine durch chinesische Unterstützung hochgerüstete Armee, die loyal zum Ministerpräsidenten steht, ist landesweit für ihre unkonventionellen Methoden bekannt. Am Freitag kam es dann zu tödlichen Schüssen, als Demonstrant_innen eine der Hauptverkehrsadern Phnom Penhs blockierten. Die Polizei rückte mit schwerem Gerät an. Es flogen Steine, Molotowcocktails und Flaschen in Richtung der regierungstreuen Militärpolizei, die plötzlich das Feuer aus ihren AK-47 auf die Demonstrant_innen eröffnente. Die Militärpolizei verteidigt das harte Vorgehen, da man nur seine Pflicht erfülle und für Ruhe und Ordnung sorge. Die Bilder dieses „Bloody Fridays“ zeugen nicht gerade davon, dass ihr dies gelungen ist.

Opposition schließt sich den Protesten an

Bei den Protesten geht es nicht mehr ausschließlich um eine Erhöhung des Mindestlohnes in der Textilbranche. So beteiligt sich mittlerweile die Oppositionspartei zur Rettung der kambodschanischen Nation (PRKN) an den Protesten. Die Partei steht den meisten Gewerkschaften und Textilarbeiter_innen nahe und hat im Wahlkampf für den Fall eines Wahlsieges eine Erhöhung des Mindestlohnes auf 160 USD versprochen. Beobachter gehen davon aus, dass auch diese Erhöhung an sich nicht ausreichend wäre, dennoch findet die Forderung in der kambodschanischen Bevölkerung große Unterstützung. Aus den anfänglichen Arbeitsprotesten ist seit gut einer Woche ein Kampf um die politische Führung des Landes geworden. Bereits seit Sommer protestiert die Opposition gegen das Wahlergebnis zur Nationalversammlung. Die Opposition wirft der regierenden Kambodschanischen Volkspartei massiven Wahlbetrug vor. Nationale und internationale Beobachter_innen bestätigen diese These und untermauern den Anspruch der PRKN, die Mehrheit im Parlament inne zu haben und somit den Ministerpräsidenten zu stellen. 

Noch vor einem Jahr wäre ein solches Aufbegehren gegen Hun Sen in Kambodscha fast unvorstellbar gewesen, da die Angst vor Repressalien zu groß war. Doch der knappe Wahlausgang und die durchaus berechtigte Hoffnung auf einen Politikwechsel mobilisiert die Kambodschaner_innen, den Demonstrationen der Opposition schließen sich hunderttausende Menschen an. Das sind Bilder, die bisher einmalig in Kambodschas Geschichte sind. Hun Sen ist sich der Gefahr bewusst und so machen Gerüchte die Runde, dass er Strafbefehl gegen die Oppositionsführer erlassen hat. Diese ließen mittlerweile verlauten, dass sie sich an einem geschützten Ort befinden und die Proteste auch weiterhin aufrecht halten wollen. Auch wenn sie die letztlich mit ihrem eigenen Leben bezahlen sollten. 

Man muss die Wahlversprechen der Opposition jedoch auch kritisch betrachten. Es fehlt eine richtige Strategie, um die sozio-ökonomische Lage in Kambodscha dauerhaft zu verbessern. Das Konzept der PRKN scheint dahingehend aufzugehen, dass sie mit großzügigen Versprechungen und einer Portion Nationalismus die Massen auf ihre  Seite zieht. Kritiker_innen fügen zu Recht an, dass die Vorstellungen der Opposition kaum realisierbar seien, da es an finanziellen Spielräumen für die Projekte der Opposition fehlt und diese auch selbst nicht erklärt, wie sie den neuen politischen Kurs finanzieren möchte. 

Ein bisschen Normalität kehrt zurück

Knapp eine Woche nach den tödlichen Schüssen hat sich die Lage etwas beruhigt, ist jedoch weiterhin angespannt. Die Gewerkschaften haben die Arbeiter_innen dazu aufgerufen, zunächst wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Viele Näher_innen sind dem Aufruf gefolgt und so konnten die meisten Fabriken zu Wochenbeginn den Betrieb wieder aufnehmen. Den Millionenschaden für die Exportwirtschaft werden sie wohl schmerzlich verkraften müssen; auch die Streikenden müssen sich auf den Verlust ihres Lohnes einstellen, so die Ankündigung der Fabrikbesitzer_innen. Das kambodschanische Arbeitsrecht sieht keine Lohnfortzahlungen im Falle des Arbeitskampfes vor. 

Dass die Regierung den Fabrikbesitzer_innen den Rücken stärkt sorgt für weitere Verärgerung. So wurde etwa verkündet, dass die Gewerkschaften für den entstandenen Sachschaden an den Fabriken haftbar gemacht werden sollen. Das Arbeitsministerium  konnte sich lediglich zu einer Empfehlung durchringen, dass die Produzenten einen kleinen Teil des Lohnes auszahlen sollen, um etwas Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Bindend ist diese jedoch nicht. 

In den kommenden Tagen möchten die Gewerkschaften ihre weitere Strategie besprechen. So lange sollen die Streiks ausgesetzt werden. Es gilt eine weitere Eskalation der Gewalt zu vermeiden und ein wenig Normalität wieder herzustellen. Außerdem können sich viele Arbeitnehmer_innen keinen weiteren Lohnausfall leisten, da auch ihre Familien in den ärmlichen ländlichen Gegenden Kambodschas von dem spärlichen Einkommen abhängig sind. Die Opposition hat ebenfalls angekündigt, die Demonstrationen für einen Machtwechsel alsbald wieder aufzunehmen, sobald sich die Lage etwas beruhigt hat. Vorübergehend sind die Protestlager der Opposition geräumt. 

Wie geht es weiter in Kambodscha?

Die Konsequenzen des Konflikts sind bisher noch nicht abzusehen. Fakt ist jedoch, dass der Stuhl des „ewigen Sen“ wackelt. Dass es zu einem geräuschlosen Machtwechsel in Kambodscha kommen könnte, darf zu Recht bezweifelt werden. Man erinnere sich nur an die Worte Hun Sens im Wahlkampf, als er ankündigte auch noch mit 90 Jahren regieren zu wollen. Die beiden politischen Lager um Sen und Sam Rainsy, dem Spitzenkandidaten der oppositionellen PRKN, sind einfach zu sehr verfeindet, als dass sie sich auf einen friedlichen Neuanfang einigen könnten, auch wenn Kambodschas Politiker_innen dann vielleicht erstmals im wahren Interesse der Nation handeln würden. Außerdem darf nicht verschwiegen werden, dass die Opposition im Wahlkampf besonders durch nationalistische Töne auffiel, die sich gezielt auf Kambodschaner_innen vietnamesischer Herkunft richteten. Einige der Oppositionsanhänger_innen ließen sich gar zu Gewalt gegen diese traditionell Hun Sen nahestehende Gemeinschaft hinreißen. Ein Ministerpräsident Rainsy könnte die angespannte Lage zwischen beiden Ländern deutlich verschärfen – vietnamesische Unternehmen dringen teils illegal in Kambodschas Nordosten ein um dort Holz abzubauen oder Kautschukplantagen anzulegen. 

Ob die Forderungen der Gewerkschaften und der Textilarbeiter_innen letztlich Gehör finden, liegt nicht einmal so sehr in den Händen der kambodschanischen Regierung. Sie kann zwar eine Erhöhung des Mindestlohnes beschließen, letztlich muss sie aber auch für die erfolgreiche Implementierung sorgen. Es ist kein Geheimnis, dass Fabrikbesitzer_innen Polizei und Behörden bestechen, um Vorschriften oder Gesetze unproblematisch zu umgehen. Nicht von ungefähr wird Kambodscha von Transparency International auf Rang 17 der korruptesten Länder der Welt gelistet. Die Regierung müsste also dafür sorgen, dass Angestellte im öffentlichen Dienst ihren Pflichten nachkommen. Da aber auch das Salär dieser Gruppe im Vergleich zu den Lebensunterhaltskosten nicht ausreichend ist, sind diese auf die illegalen „Einnahmen“ angewiesen - ein Problem, das Kambodscha unbedingt in den Griff bekommen muss. Schon jetzt ist das Vertrauen der Bevölkerung in Polizei und Behörden fast auf dem Nullpunkt.

Weit größeren Einfluss auf die Situation in dem Land haben die großen Konzerne, die in Kambodscha ihre Produkte zu Dumpinglöhnen herstellen lassen und im Westen mit großen Profiten verkaufen. Unter den größten Produzenten finden sich die Sportartikelhersteller Nike, Asics, sowie die deutschen Unternehmen Adidas und Puma. Außerdem produzieren Kleidungsketten wie das schwedische Modehaus H&M in Kambodscha und auch Topdesigner von Calvin Klein über Tommy Hilfiger lassen ihre Produkte dort herstellen. Sie alle haben die Möglichkeit, die lokalen Fabrikbesitzer_innen dahingehend zu unterstützen, dass die Näher_innen angemessen bezahlt werden. Dies mag zwar die Gewinnspanne der Unternehmen reduzieren, aber die Lebenssituationen Hunderttausender verbessern.

Letztlich sind wir selbst es, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der kambodschanischen Textilarbeiter_innen nachhaltig verbessern können, wenn wir beim Einkauf hinterfragen, ob der Preis eines Kleidungsstücks nicht vielleicht zu billig ist. Besonders bei einschlägigen Produktionsstandorten sollte man sich die jüngsten Bilder einstürzender Fabrikgebäude, streikender Näher_innen und blutender Demonstranten in Erinnerung rufen. Geiz ist nicht immer geil und die Globalisierung hat ihre Schattenseiten. Für die billigen Produkte in unseren Regalen werden anderenorts Menschen systematisch ausgebeutet.