Nachricht | Asien - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Arbeit / Gewerkschaften China boomt, baut und bewegt viele Leute – mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für die Wanderarbeiter

Bericht von Thomas Engel über einen Austausch mit chinesischen ExpertInnen des Arbeitsschutzes und WissenschaftlerInnen in Peking

Das jährliche Wirtschaftswachstum von China liegt seit 2001 bei durchschnittlich 10%. Ein Teil der Dynamik erklärt sich aus der Bedeutung der Baubranche. Man sieht sie in Peking überall: moderne Hochhäuser als Ergebnisse der regen Bautätigkeit der letzten Jahre. Der Boom geht weiter, es wird mehr gebaut und es kommen immer mehr Leute in Chinas urbane Zentren. Vor 10 Jahren lebten in Peking noch etwa 15 Millionen, jetzt schätzt man die Zahl auf über 20 Millionen. Etwa die Hälfte der Chinesen lebt inzwischen in Städten, darunter viele Wanderarbeiter, die hier ein Auskommen suchen.

Die Wanderarbeiter sind es auch, die überwiegend auf den Baustellen arbeiten. Sie sind oft nur für einige Wochen im Einsatz, schlafen in Wohncontainern direkt neben dem entstehenden Hochhauskomplex und ziehen anschließend weiter zum nächsten Bau. Bei einem Besuch in Peking konnten sich zwei deutsche Experten, Gerd Citrich, Leiter des Arbeitsschutzes für die Industriegewerkschaft Bau-Agrar-Umwelt und Thomas Engel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, direkt vor Ort umsehen. Ihr Augenmerk richtete sich auf die Arbeitssituation und Lebensumstände der Wanderarbeiter.

 

Sicherheitsmängel und Arbeitsschutzprobleme

Prof. Zhao Wei von der Beijing Normal University und das Pekinger Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung hatten am 12. und 13.12.2013 zu einem zweitägigen Workshop zum Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz auf Baustellen eingeladen. Unter den Gästen befanden sich auch ForscherInnen, Fachleute und Aktivisten aus anderen Boom- und Bauregionen des Landes. Es kam zu einer intensiven Problemanalyse und zu einem offenen Erfahrungsaustausch über betriebliche Handlungsansätze sowie politische Gestaltungserfordernisse.

In der Problembeschreibung waren sich alle weitgehend einig: Die großen Sicherheitsdefizite und hohen Unfallraten resultieren insbesondere aus der Beschäftigung von gering qualifizierten Wanderarbeitern. Ihnen kommen zu wenige Unterweisungen zu. Ihre raschen Wechsel auf die nächste Baustelle verhindern eine systematische Beteiligung von Beschäftigten. Überlange Arbeitszeiten und ein hohes Arbeitspensum ermüden und erschweren den vorausschauenden Umgang mit Unfallgefahren. Staatliche und betriebliche Kontrollen zur Einhaltung der bestehenden Standards finden viel zu selten statt. Viele Beschäftigte haben keinen Arbeitsvertrag. Sie befinden sich in hoher Abhängigkeit und sind bestrebt möglichst viel Geld zu verdienen, um einen großen Anteil davon in die Heimatregionen zu schicken.

Die Schutzausrüstung müssen die Arbeiter selbst besorgen. Um Geld zu sparen, verzichten sie teilweise darauf. Eine Szene bei der Baustellenbesichtigung lässt die Prioritäten erahnen: Selbst wenn in der Mittagspause die fliegenden Händler auf dem Bauplatz eintreffen und –neben gesundem Essen aus kleinen Garküchen – ordentliche Arbeitsschutzschuhe, Warnwesten und Handschuhe anbieten, gibt es wenig Interesse. Ein Arbeiter schützte sich mit einem um den Kopf gewickelten Schal, statt einen der gelben Helme zu benutzen.

Der Austausch zwischen Management und einfachen Arbeitern beschränkt sich auf die wesentlichen Arbeitsanweisungen. Der Workshop gab zudem Einblick in auf Baustellen geführte Interviews: Viele Beschäftigte beschrieben, dass sie kein Exemplar eines schriftlichen Arbeitsvertrags besitzen. Verbindliche Unterweisungen werden auf wenige Minuten verkürzt, den Nachweis unterschreiben sie für eine Stunde. In ihren Befragungen stellten die ForscherInnen fest, dass die WanderarbeiterInnen ratlos auf die Frage nach Berufskrankheiten reagierten oder vermuteten, damit werde vom Management der Mangel an Arbeitsmotivation unterstellt.

 

Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften

Auf den Baustellen des sechsten Rings um Peking wurden die Besucher von Vertretern der  Nichtregierungsorganisation (NRO) YiZhuan YiWa (YZYW), die mit englischem Namen Migrant Worker‘s Community Center (MWCC) heißen, herum geführt. Liu Xiaohong und zwei weitere Mitarbeiterinnen hatten mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Beratungsnetzwerk für Wanderarbeiter auf dem Bau gegründet und so ein kleines Büro als „Kulturentwicklungs­zentrum für Wanderarbeiter“ im nahe liegenden Dorf eröffnet. Diese Anlaufstelle ist zugleich Second-Hand-Laden, Leihbibliothek und Veranstaltungsort. Die Arbeiter können sich über Schutzausrüstungen genauso informieren wie über ihre rechtlichen Möglichkeiten, gegen Verletzung von Sicherheitsbestimmungen vorzugehen. Diese Beratungsstrukturen sind auch deshalb entstanden, weil die Betriebsgewerkschaften bisher nicht ausreichend für die Wanderarbeiterbelange ansprechbar waren.

 

Partizipation als Schlüssel für eine Verbesserung der Arbeitsschutzsituation

Für Prof. Zhao Wei besteht der zentrale Lösungsansatz zur besseren Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten, Gewerkschaften, NRO, Sicherheitsmanagement und Sicherheitsbeauftragen in der Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten von Wanderarbeitern. Dazu bedarf es einer besseren Informations- und Unterweisungspraxis des Managements, aber auch der Möglichkeit für die Beschäftigten, einen Sicherheitsbeauftragten für jeden Arbeitsbereich wählen zu können. Ähnlich wie deutsche Betriebsräte sind diese mit gesetzlich garantierten Mitbestimmungs- und Kontrollrechten auszustatten, so die Idee. Entsprechende Modellversuche und Schulungsmaßnahmen möchte sie in einem kommenden Projekt testen.

Prof. Shi Xiuyin von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften stellte verschiedene Partizipationsformen vor, die bereits in China praktiziert werden. Thomas Engel von der Universität Jena berichtete von Erfahrungen mit verschiedenen Beteiligungsmodellen in Deutschland. Besonders interessiert wurde eine hybride Beteiligungsform nach Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen. Demnach wird den gewählten Betriebsräten garantiert, sachkundige Beschäftigte oder eigens eingesetzte Arbeitsgruppen von der Arbeit freistellen zu können. Grundlage dieses auf Zeit gewährten Zugriffs auf einzelne Arbeitnehmer ist eine Vereinbarung mit dem Management über ein Projekt. Für solche Projekte werden häufig erfolgreich Arbeits- und Gesundheitsschutzthemen umgesetzt.

Im Anschluss an die Darstellung der Arbeitsschutzsituation und den Partizipationsmöglich­keiten für Beschäftigte in Deutschland resümierte der am Workshop teilnehmende Leiter der besichtigten Baustelle nachdenklich: „Deutschland scheint viel sozialistischer als China zu sein!“. Die Projektmanagerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sun Wei ergänzte: „In China haben wir uns bisher stark am amerikanischen Modell orientiert. Da zählte immer nur der Markt. Jetzt sehen wir, dass es in Europa auch noch etwas anderes gibt. Vielleicht könnten wir einiges davon, wie den Arbeitsschutz, auch bei uns umsetzen.“

 

Weitere Zusammenarbeit geplant

Im Zuge des anhaltenden Booms der Baubranche und des Zuzugs von Wanderarbeitskräften wächst der Handlungsdruck. Im Einklang mit den neuen Parteitagsbeschlüssen gilt es auch Lösungen für die Arbeitsschutz- und Partizipationsprobleme der Beschäftigten zu finden. In einem Projekt sollen künftig modellhaft Umsetzungen gefunden und getestet werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und NRO gelegt. Aber auch Veränderungen im Verhältnis zwischen Management und Arbeitern werden erwartet und sollen in konstruktiver Weise gestaltet werden.

Die deutschen Experten stehen für einen kontinuierlichen Austausch mit den chinesischen KollegInnen zur Verfügung. Als Diskussions- und Kooperationspartner möchten sie konkrete Vorhaben unterstützen. Die Gestaltung der Zusammenarbeit wird in den kommenden Wochen geplant.



Weiterführender Link:
https://www.igbau.de/Wanderarbeiter_Sie_schuften_auf_Chinas_Baustellen.html