Nachricht | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Gesellschaftstheorie - Europa Jindřich Filipec ist von uns gegangen

Nachruf auf den Philosophen und Sozialwissenschaftler von Jirí Loudin. Mit der Stiftung hat Filipec (1926-2013) zur deutsch-tschechischen Geschichte zusammengearbeitet.

Jindřich Filipec gehörte zu jener Generation linker Intellektueller, die ihre formenden Jahre in der bewegten Kriegs- und Nachkriegszeit verlebt haben. Die Erfahrung brutaler Unterdrückung und menschlicher Demütigung hat in ihnen eine starke Sensibilität gegenüber Unrecht, aber auch hinsichtlich neuer Hoffnung aufgebaut. Den Beginn ihres Lebens empfanden sie gleichzeitig als Beginn einer neuen Welt. Das Bestreben, eine bessere, mehr solidarische und sozial gerechtere Welt zu errichten, verband sich mit der intellektuellen Herausforderung, die tieferen Ursachen des durchlebten tiefen Falls des Menschen aufzudecken. 

Die Verbindung von Theorie und Praxis, des theoretischen und praktischen Lebens, bot zwar den jungen Leuten der Generation und Überzeugung, zu der Filipec gehörte und sich bekannte, die wertvolle Möglichkeit, sich an der Verwirklichung ihrer Ideale und theoretischen Konstrukte zu beteiligen, zog sie aber zugleich auf das tückische Terrain der Realpolitik und machte auch die Theorie selbst zum Politikum. Durch die Umwandlung von Ideen in Macht setzten sich die linken Intellektuellen schwierigen Dilemmata und Hinterhalten aus. Ihr Innenleben wurde zum Ort des Konfliktes von Loyalität und Zweifel, Selbstbestätigung und Selbstverwandlung, während ihre „äußerlichen“ Lebensbahnen eine nicht weniger dramatische Szenerie von Aufstiegen und Abstürzen bieten. Auf Perioden der Beteiligung an der Macht folgen nicht selten Jahre im Abseits und in Ungnade.

In ähnlichem Geist hat sich auch die berufliche Laufbahn von Jindřich Filipec vollzogen. Die Etappen, in denen er auf verschiedenen theoretischen Arbeitsplätzen leitende Funktionen ausübte, wurden von Jahren abgelöst, in denen er als ideologisch nicht ganz zuverlässig betrachtet wurde. Das gilt auch für sein Engagement im Institut für Philosophie und Soziologie der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften: Von dessen Gründung an und in den bedrückenden siebziger Jahren wirkt er dort in leitender Funktion in der Institutsleitung, aber auch dort ertappt ihn das wachsame Auge der Moskauer Ideologen, und er muss die leitende Position schließlich verlassen.  

Jindřich Filipec besaß durch sein Naturell, seine Erfahrung und sein Wissen die Wesenszüge der linken  Avantgarde der Vorkriegszeit. Er war eine vielseitige Persönlichkeit mit breitem Überblick über die europäische Bildung und Kultur, ein Kenner und Bekenner der Kunst: nicht nur rationale Analyse und Argumentation, sondern auch die Fähigkeit zu verfeinerter ästhetischer Wahrnehmung und Übermittlung, ein Mann von unbestreitbarem Esprit. In der theoretischen Arbeit schöpfte er vor allem aus dem Ideenreichtum und dem vollendeten Entwicklungsstand der deutschen und französischen Geisteswelt. Entsprechend aufgeklärt war auch sein Verständnis des Marxismus.

In den fünfziger Jahren promoviert Jindřich Filipec im Fach Philosophie – Ästhetik (Dissertation „Die sozialpolitischen Anschauungen von N. G. Tschernyschewskij“) und erwirbt den Titel Kandidat der philosophischen Wissenschaften (Dissertation „Zur Frage der Widersprüche zwischen Vorhaben und Folgen gesellschaftlicher Tätigkeit von Menschen“). In den sechziger und siebziger Jahren widmet er sich dann vor allem Analysen der Beziehung zwischen Mensch, Gesellschaft und Technik sowie kritischen Untersuchungen von Sozialtheorien, welche diese Grundfrage der modernen Gesellschaften reflektieren (Der Mensch im Zerrspiegel, 1963; Der Mensch und die moderne Zeit, 1966; Die Industriegesellschaft in der soziologischen Diskussion, 1967). In dieser Richtung entwickelt sich auch die Zusammenarbeit mit Radovan Richta: von der tragenden und international einflussreichen „Zivilisation am Scheideweg“ bis zu den anknüpfenden Arbeiten der siebziger Jahre (Die wissenschaftlich-technische Revolution und der Sozialismus, 1972; Mensch-Wissenschaft-Technik, 1975).  

Wissenschaft und Technik waren für Filipec – in Anknüpfung an den Emanzipationsappell des Aufklärungsprojektes – Bestandteile der weitreichenderen zivilisatorischen Umwandlungen, in denen sich der Mensch von verfremdenden sachlichen, sozialen und ideologischen Bindungen befreit und sich den Weg zu seiner Selbstverwirklichung bahnt. Im Potenzial der Technik sieht er ein Instrument zur Humanisierung des Lebens und zur Vermenschlichung der gesellschaftlichen Beziehungen. Jedwede Form von Szientismus oder technologischem Determinismus waren ihm jedoch fremd. Er war aufnahmefähig für die Erfahrung, dass die moderne Technik für den Menschen auch einen Zustand ständiger Bedrohung herbeiführt. Das ist ein Paradoxon der modernen Zeit. Aber gerade im Zustand einer Bedrohung, einer Krise, setzte er weiterhin Vertrauen in den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, in dessen Fähigkeit, eine menschlichere Variante des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu installieren, als sie der Kapitalismus bietet. Filipec richtete systematisch die Aufmerksamkeit auf die Problematik der Mittel und der Vermittlung, ohne die kein Ziel erreicht werden kann (er enthüllte die Geringschätzigkeit gegenüber den „Instrumenten“ als Falschheit), denen man jedoch auch leicht unterliegen und in deren Übermacht (der Technik, des Konsums, der Institutionen u. dgl.) geraten kann. Diesen Blickwinkel projiziert er auch in das Forschungsthema der Lebensweise, an dem er mit seiner Frau Blanka zusammengearbeitet hat (Die auseinanderlaufenden Lebenslinien, 1976). Eine bestimmte Lebensart und -kultur als Komplex von Werten, Aktivitäten und Beziehungen stellen eine beredte Aussage über die betreffende Gesellschaft dar. Erwähnung verdienen auch seine Verdienste um die tschechischen Ausgaben der Arbeiten von T. W. Adorno, J. Fourastié, G. Friedmann und J. Habermas.

In den neunziger Jahren publizierte Jindřich Filipec häufig im Ausland (Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich) und widmete sich Analysen der Umwandlungen der Werteorientierungen und der Lebensweise im Kontext der Transformation und der Postmoderne. Er stellte sich ihren egotischen und manipulativen Deformationen kritisch gegenüber. Seine hauptsächliche Botschaft bleibt humanistisch: die Stärkung der Stellung des Menschen als des einzigen mit Verstand und Vernunft begabten Wesens auf dieser Welt.  

Jindřich Filipec war eine originelle, befruchtende Persönlichkeit. Er gehörte zu den mitteleuropäischen Intellektuellen, die sich auf den Weg der Suche, der ideellen Herausforderungen und der Kämpfe einer unruhigen Zeit begeben haben. Es ist möglich, sich mehr voraussehbare und weniger irrationale Lebensumstände vorzustellen, aber kaum ein reicheres und intensiveres Leben.

Dr. phil. Jirí Loudin, Philosophisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.

 


Prof. Dr. Filipec ist der Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht unbekannt! 

Im Mai 2004 hat er auf der Tagung „Münchener Abkommen – Generalplan Ost – ‚Benes-Dekrete’. Ursachen für Flucht und Vertreibung in Osteuropa“, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Christlichen Friedenskonferenz gemeinsam in Berlin veranstaltet wurde, einen Vortrag zu dem Thema „Die ‚Benes-Dekrete’ – Zusammenhänge und Bedeutung“ gehalten. Der Vortrag wurde in ‚UTOPIE kreativ’, Heft 167 (September 2004) gedruckt. 

Nicht wenigen Wissenschaftlern der DDR ist Jindrich Filipec aus gemeinsamen Projekten oder Begegnungen auf  internationalen Konferenzen in lebendiger Erinnerung. 

Prof. Dr. Erich Hahn