Hupen und Auspuffgeräusche dringen durch das offene Fenster, dazu ein Hauch angenehmen frischen Durchzuges, der die 30 Grad warme Luft aufwirbelt. Ich bekomme Kaffee und Kekse. „Nu, was willst du gern wissen?“ fragt mich die 91-jährige Eva Vater, die mir in ihrer bescheiden eingerichteten Wohnung im Zentrum Tel Avivs gegenüber sitzt. Ich weiß, Eva wurde 1922 in Riga geboren. Im Juni 1941 wurde sie mit einem der letzten Transporte der Roten Armee für junge Kommunist_innen aus der von den Deutschen besetzten Stadt evakuiert. Ihre zurückgebliebenen Eltern, Angehörige der jüdischen Minderheit in Lettland, wurden im Winter 1941 von den Nazis ermordet. Eva ließ sich zur selben Zeit in einem sowjetischen Armee-Ausbildungslager zur Krankenschwester ausbilden. Sie kämpfte bis zur Befreiung Rigas in der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht und rückte dann weiter mit der Armee vor. Bis zum Ende des Krieges blieb sie in der Sanitätsabteilung, ihr Bruder Juri fiel als Rotarmist an der Front auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Bereitwillig berichtet Eva mir aus ihrem bewegten Leben und wirkt dabei strukturiert, zielstrebig – und vor allem herzlich. Es ist ihre lebendige und oft bildhafte Art zu erzählen, die einen unweigerlich zuhören und eintauchen lässt. Was sich seit dem Krieg durch ihr Leben zieht und darin zur vielleicht größten Konstante geworden ist, so erzählt sie mir heute – ist das Schreiben. „Drei Jahre lang war ich Sanitäterin in verschiedenen Bataillonen“, erinnert sie sich, „und schon dort habe ich angefangen, für die Zeitung der Kompanie zu schreiben.“ Die lettische Division der Roten Armee hatte ihre eigene Zeitung, in der unter anderem über besondere Auszeichnungen und Verdienste im Krieg berichtet wurde. „Als der Krieg beendet war, hatte ich also schon viel aufgeschrieben.“ Nach dem Krieg kehrte Eva nach Lettland zurück. Sie entschloss sich, Ärztin zu werden und ging an die Universität. Auch dort habe sie wieder geschrieben, „über die Leute aus der Armee, wie sie den Krieg erlebt haben, wer verwundet, wer krank war und so weiter.“ Sie wurde Gynäkologin, eine 40 Jahre währende Lebensaufgabe. Daneben schrieb sie bis zu ihrem Renteneintritt 1992 bereits zwei Autobiografien. Ihr Sohn Juri, geboren 1955, hatte ein Jahr zuvor beschlossen, nach Israel auszuwandern: „Er fragte mich, 'kommst du mit?'. Aber ich wollte und konnte nicht, ich war doch nicht vorbereitet!“ Ebenso wenig habe sie trotz des herannahenden Ruhestands „still sitzen“ können: „Ich habe immer gearbeitet. Drei Jahre lang habe ich in der Armee nicht richtig geschlafen, vielleicht ein paar Stunden hier und da. Wie soll man da heute schlafen?“ Frisch pensioniert ging sie also zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Riga und fragte ihn: „Was soll ich machen, ich bin ohne Arbeit?“. Sie erhielt einen Auftrag: Herauszufinden, welche Letten, baltische Deutsche oder Belarussen im Krieg geholfen haben, Juden zu retten. Es gab bereits erste Anhaltspunkte von der jüdischen Gemeinde, denen Eva ein halbes Jahr lang nachging. Sieben Listen habe sie schriftlich festgehalten und veröffentlicht: „Ich dachte, das müssen alle wissen, Riga muss es wissen.“ Ihr Sohn, der stets ein großer Kritiker ihrer Arbeit gewesen sei, habe ihr dieses mal gesagt: „Mama, das ist das beste, was du jemals aufgeschrieben hast.“ Immer wieder habe er in der Zeit angerufen und gefragt, wann sie endlich nach Israel käme. Sie habe ihm stets entgegnet, noch zu tun zu haben. Ihr Schaffen fiel zusammen mit dem langsamen Wiederaufbau jüdischer Kultur in Lettland nach dem Kalten Krieg. Kaum war die erste Recherche abgeschlossen, stellte sie sich erneut die Frage: Was tue ich jetzt? Ihre nächste Aufgabe habe dann darin bestanden, jüdische Ärzte, Mediziner, Pharmazeuten, Krankenschwestern und Sanitäter aus Lettland ausfindig zu machen. Mit Erfolg: Hunderte Namen umfasste ihre Enzyklopädie, die sie mit einer von einer Freundin ausgeliehenen Schreibmaschine aufschrieb. Der Vorsitzende war von dem Umfang ihrer Ergebnisse zu überrascht, dass er sich für eine Veröffentlichung aussprach. Nur Geld hatten weder er, noch sie, noch die darum angefragte jüdische Gemeinde Rigas. Der Direktor des medizinischen Institutes war es schließlich, der ihr eine Zusage für eine finanzielle Unterstützung gab: „Niemand hat so viel für das lettische Volk getan wie die jüdischen Ärzte – das Buch wird herauskommen!“ Ihr sei bei alldem geradezu das Herz „herunter gefallen“. Erst nach Abschluss dieses Buches konnte sie sich sagen: „Jetzt habe ich das gemacht, was ich gemacht habe und jetzt fahre ich weg.“ Eva fuhr im Jahr 1997 nach Israel – und blieb.
In angrenzenden Raum sucht Eva ihre Arbeiten aus Regalen und Schränken heraus und gibt sie mir nacheinander in die Hand. An vielen Stellen fallen Überklebungen auf – es musste bereits einiges verbessert werden. Noch immer ergänzt Eva Lücken, auf die sie stößt und gestoßen wird: „Es kommen viele Menschen und sagen, 'dort ist ein Fehler, dort ist etwas nicht da, dort war etwas anders'. Aber es sind so viele Menschen, wie sollen da keine Fehler dabei sein? Dann ist eben jemand nicht 1926, sondern 1923 geboren. Die Hauptsache ist doch, er ist da!“ Für die Veröffentlichung einer Broschüre über etwa 5000 Jüdische Kämpferinnen in der Roten Armee hat sie 15 000 Shekel von ihrer Rente ausgelegt. Viele der 1000 Exemplare hat sie verschenkt oder an Gedenkorte und Museen verschickt, andere direkt verkauft und dabei zumindest einen Teil des Geldes nach und nach zurück bekommen. Auch über jüdische Ärzte hat sie recherchiert, zudem schreibt sie Gedichte. Einer ihrer jüngsten Texte sticht aus den Gedichten und Sammlungen heraus: Es handelt sich um einen fiktiven Text aus der Sicht eines lettischen Soldaten, der in der deutschen Armee gekämpft hat und einem Letten, der in der sowjetischen Armee gekämpft hat. Sie habe die Wahrheit „dazwischen“ gefunden: „Ich saß, und plötzlich hab ich es aufgeschrieben“. Der Text kritisiert deutlich den jährlich stattfindenden Gedenktag der Legionäre am 16. März, bei dem SS-Veteranen und ihre Anhänger durch die Straßen Rigas ziehen. Ein publizistisches Interesse an dem Text gab es jedoch weder bei deutschen, noch bei lettischen Medien. Eva zufolge liegt dies daran, dass ihre Wahrheit nicht erwünscht sei: „Man will nicht wissen, wie es war. Man will es so sagen, wie man will. Keiner liebt Wahrheit.“ Eva versteht ihre Arbeit als einen Beitrag, auf den zugreifen kann, wer es will: „Vielleicht werden die Zeiten nochmal anders. Denn das, was ich aufgeschrieben, wird immer Wahrheit sein, nach 10, nach 20 und nach 100 Jahren.“
Nach fast 15 Jahren in Israel kann sich Eva ein Leben in Lettland nicht mehr vorstellen: „Ich fuhr weg, weil ich dort nicht leben konnte. Die Aura war schon etwas ganz anderes, der Nationalismus und Antisemitismus.“ Probleme gäbe es im „schönen Land“ Israel natürlich auch: „Wir haben viele kluge Menschen und Genies, aber wenn sie alle zusammen kommen, dann machen sie viele Fehler.“ Aber wie könne es auch gut sein, in einem kapitalistischen Land? Trotzdem ist Eva der Meinung, Juden sollten in Israel leben und versuchen, Dinge besser zu machen. Und ihr Sohn Juri? Er lebt heute in den USA. Zu Menschen aus Lettland pflegt sie Kontakt, „zu denjenigen, die meine Freunde sind.“ Es werden jedes Jahr weniger, die noch leben. Manchmal wundere sie sich, warum sie eigentlich noch „hier geblieben“ sei, also bis heute lebe. Es ist das erste mal, dass ich vehement widerspreche und wiederum eine deutliche Antwort mit Blick auf meinen noch halb gefüllten Teller erhalte: „Nu iss auf!“ folgt einem Grinsen, dem ich mich anschließe.
Das Schreiben hat sie mit ihrem Umzug keineswegs aufgegeben. Momentan arbeitet sie an einem Buch über jüdische Professoren in Lettland. 400 Namen hat sie bereits recherchiert, darunter Ärzte, Chemiker, Mathematiker, Juristen, Literaten und technische Professoren. Wo es nicht mehr möglich ist, die Menschen selber ausfindig zu machen, kontaktiert sie die Kinder. Ein Freund aus Florida hilft bei der Übersetzung ins Lettische und Russische. Jetzt müsste man die Fehler überprüfen und bis März sei das Buch fertig. Bisher wird es eine kleine Publikation bleiben – für Freunde, Museen, Bibliotheken und diejenigen, die selbst ihre Biografie geschickt haben und ihre Kinder. „Wer es haben will, der wird es kaufen“, kommentiert Eva gelassen die kleine Auflage. Dabei steht sie neben einem Plakat für den Film „CECTPA“, in dem ihr Leben jüngst portraitiert wurde. Im Mai 2013 sah sie den Film zum ersten Mal in seiner endgültigen Fassung und war bei aller Freude darüber nicht vollends überzeugt: „Man sieht nicht, wie es wirklich war.“ Ein Film jedoch, der eine solche Biografie „angemessen“ darstellt erscheint mir nach den heutigen Eindrücken schwer vorstellbar. CECTPA wird in den kommenden Monaten in einigen kleineren Kinos in Deutschland zu sehen sein. Es handelt sich um eine der wenigen aufwendigen Würdigungen, die das Schaffen Eva Vaters erfahren hat – als eine zwischen den Stühlen aneckende Kämpferin und Chronistin.
Ab dem 30. Januar 2014 ist CECTPA täglich ab 19 Uhr im Berliner Kino Krokodil zu sehen. Am 31. Januar werden die Filmemacher_innen zum Publikumsgespräch anwesend sein.
Text: Johannes Spohr (Berlin, www.preposition.de)
Die Produktion des Filmes wurde von der Rosa Luxemburg Stiftung finanziell gefördert.