Schweigt, Ihr Theologen! rief Ende des 16. Jahrhunderts der italienische Jurist Alberico Gentili als es um die Frage des Krieges gegen die Türken ging. Die Mehrheit der Theologen jener Zeit befürwortete ihn mit Verve, denn es sei ja ein „gerechter Krieg“. Nun hat sich wieder ein Prediger zu Krieg und Frieden gemeldet und das Hohelied auf die Verteidigung der „gerechten Sache“ gesungen. Er tat es nicht von einer Kanzel und nicht als Pastor. Es geschah zu München auf einer privaten Sicherheitstagung und er sprach als der Präsident Deutschlands. Es sei die Zeit gekommen, dass sich Deutschland der Welt zuwende – war es doch in den letzten Jahren völlig im selbstvergessenen Winterschlaf. Er raunte von Verwerfungen unserer Zeit, vernetzter Welt, Terrorismus, und neuen Weltmächten, ja und von Afrika, was in den letzten Tagen ins Visier auch anderer Politiker geraten ist. Und um Interessen ging es: um „Kerninteressen“, um „wichtigste“ und um „eigene Interessen“. Handeln und nicht Zurückhaltung sei das Gebot der Stunde: „früher, entschiedener und substantieller“. Letzteres konkretisierte er: der Einsatz des Militärs. Sicherlich: als ultimo ratio und nur mit Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates, wie beim Kosovo-Krieg schon einmal mit Erfolg durchgespielt. Damals hatte ein gewisser Joseph Fischer, ehemaliger katholischer Messdiener, seine „historische Rolle“ gespielt und das Undenkbare möglich gemacht: Dass deutsche Flugzeuge wieder Belgrad bombardieren. Jetzt ist an dem ehemaligen protestantischen Pfarrer Gauck, die Deutschland die bisher nur angelehnte Tür zur globalen Interventionsmacht ganz aufzustoßen.
Gewiss kann man in der Rede Vieles lesen, was bekannt ist und Manchem kann man auch zustimmen: Deutschland zukunftsfähig machen, sich für friedliche Lösungen weltweit engagieren, mehr über internationale Politik an unseren Hochschulen diskutieren. Was sollte man dagegen einwenden? Man könnte der Rede ankreiden, dass sie für Außenpolitiker wenig Substantielles oder gar Neues bietet. So hätte ja der Bundespräsident beim Waffenexport oder bei Konflikten, wie dem in der Ukraine, konkrete Schritte anmahnen können. Von all dem nichts. Dagegen sind Geschichtsvergessenheit und moralische Hybris mit Händen zu greifen. Das Jahr 1914 wird völlig verdrängt und gegen eine vermeintliche Instrumentalisierung der deutschen Schuld für den 2. Weltkrieg polemisiert Gauck – vier Tage nach der Rede von Daniil Granin im Bundestag über die Verbrechen der Deutschen in Leningrad.
Erschrecken lässt der Subtext dieser Rede. Texte verbergen oft Entscheidendes und deshalb, so Walter Benjamin, gilt es jenes herauszulesen, was „zwischen den Zeilen“ verborgen ist. Das ist bei dieser Rede so schwer nicht. Bereits dem ausgesuchten Publikum im „Bayrischen Hof“, das nur die wohlgesetzten Worte hörte, ergossen sich gewiss große Mengen an Adrenalin in die Adern. Das konservative Lager hatte sofort begriffen, was diese Worte Gaucks bedeuten. Der Jubel war entsprechend, sei es in der Welt oder in der FAZ: eine Rede, die „in all ihrer Klarheit“ herausragend und erinnerungswürdig sei; es sei eine eine „geistige Wende“, denn es würden die Dinge ausgesprochen – „und politisch gerechtfertigt“.
Aber auch die politische Linke verstand die Botschaft und reagierte. Alexander Neu verweist auf die Mehrheit der Deutschen, die ein militärisches Engagement ablehne und sieht die Gefahr der Militarisierung der deutschen Gesellschaft. Sicherlich besteht diese Gefahr, wenn nun in der „Zivilgesellschaft“ über militärische Interventionen palavert wird und somit der kriegsmüde deutsche Michel fit für globale Einsätze gemacht werden soll. An den Universitäten laufen ja bereits die Programme, und dies mit Erfolg! Dem berechtigten „Empört Euch!“ auf diese Rede muss jedoch unser Gegenentwurf zur Rolle Deutschlands in der Welt folgen. Die Linke sollte diese Gelegenheit beim Schopfe packen und ihre außenpolitische Agenda in der Öffentlichkeit breit diskutieren, und somit dieses Land in einer multipolaren und weiterhin instabilen Welt tatsächlich zukunftsfähig machen. Noch ist die Mehrheit der Deutschen für unsere Argumente offen. Noch.