Nachricht | Europa - Arbeit / Gewerkschaften - Ungleichheit / Soziale Kämpfe Die Sotschi-Spiele: Hot. Cool. Yours?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion sollte die Gesellschaft zu spüren bekommen, dass sie wieder zu Großem fähig ist. Was ist dabei herausgekommen?

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Arbeiter warten nach Schichtende in Krasnaja Poljana auf den Bus. (17.10.2013)

Er wollte das Land aufrütteln, vertraute Putin im vorolympischen Sotschi einem internationalen Journalistenteam an. Nach Jahren des bedrückenden Pessimismus, erzeugt durch den Zerfall der Sowjetunion und die blutigen Ereignisse im Kaukasus, sollte die Gesellschaft zu spüren bekommen, dass sie wieder zu Großem fähig ist, und das nicht nur im Militärischen. Was ist dabei herausgekommen?

Mit unbestrittenen Vorteilen für die infrastrukturelle Entwicklung der südlichen Kuban-Region, einer teils echten, teils imitierten Sportbegeisterung und einem statistisch belegten Aufschwung von Massensport  konkurriert im öffentlichen und medialen Sotschi-Bild das Kritische und Negative. Der Katalog reicht von Unsicherheiten bei der weiteren Verwendung der Sportanlagen, Alltagschaos für die EinwohnerInnen bis zum absoluten Kosten-Rekord mit starkem Korruptionsgeruch. Der verantwortliche Olympia-Bauherr, Vize-Bauminister Jurij Rejljan kontert die Kritik mit einem Witz: «Aus jeder Situation gebe es zwei Auswege, aber die Russen suchten nach einem dritten, weil sie von den beiden ersten keine Ahnung haben.»

Ein solches Projekt habe es seit Stalin nicht gegeben, so Rejljan weiter. Doch der Vergleich mit den ersten und letzten «sowjetischen» Olympischen Spiele 1980 – durch den Westen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges boykottiert – liegt auf der Hand. Der Maskottchentest drängt sich nicht nur dem Gros der russischen BürgerInnen auf: «Im Vergleich zu Mischa-1980 ist Mischka-2014 weniger idealistisch unterwegs… Seine Augen und Ohren sind klein, er hört und sieht also schlecht. Die Arme hängen schlaff herab. Er schaut zwar freundlich, trägt aber einen Schal, als würde er sich leicht erkälten. Ein Eisbär, der sich erkältet! Mischa-1980 hingegen – große Augen und Ohren, stolzgeschwellte Brust, die olympischen Ringe trägt er als Gürtel wie ein Ringer», schreibt Daniel Wechlin im NZZ-Olympiablog.

Die meisten Russen, die Nachrichten aus dem Ausland verfolgen, finden die Sotschi-Kritik aus dem Westen übertrieben, meinte  Matthias Schepp in seiner lesenswerten Spiegel-Serie «Eine olympische Winterreise». Für so manchen Oppositionellen sind die Spiele ein «Symbol des gegenwärtigen russischen Skandals»  (Michail Deljagin), doch auch ihm wird  mulmig, wenn professionelle Korruptionskämpfer wie Alexej Navalny ans Mikrofon treten oder passionierte Russland-Kritiker wie Grünen-Politiker Volker Beck das westliche Sotschi-Bild mit Boykottforderungen zu prägen versuchen. Wir sollten alle lernen, rechtfertigt sich Jurij Rejljan, in Anspielung auf ein weiteres Jahrhundertvorhaben: Die Fußball-WM in elf russischen Städten 2018. Es wäre gut, sollte dieses Bekenntnis auch einen wenig diskutierten aber zunehmend wichtigen Aspekt einschließen: Die Rechte der ArbeitsmigrantInnnen, die massiv beim Bau von Sport- und Infrastruktur beschäftigt sind.

MigrantInnen ohne legalen Status hätten Sotschi gebaut, meint Renat Karimov, Vorsitzende der «Gewerkschaft werktätiger MigrantInnen», während eines Gesprächs mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung  im seinem kleinen Moskauer Büro, wo täglich Dutzende Menschen Rat und Beistand suchen. Russland ist nach UNO-Angaben das zweitgrößte Zielland für Arbeitssuchende. Mit  geschätzten 11 Millionen MigrantInnen liegt es ganz vorn an der Weltspitze zwischen den USA und Deutschland. In Moskau befinden sich gegenwärtig etwa 2 Millionen EinwanderInnen, mehrheitlich aus dem postsowjetischen Raum. Etwa einen Zehntel davon sieht die offizielle Quote vor. Der graue Rest sei das größte Problem und diene, so Karimov, als Rammbock gegen die soziale Absicherung russischer ArbeitnehmerInnen. Vor einem Jahr versuchte man die Idee einer 60-Stunden-Woche für einheimische ArbeiterInnen salonfähig zu machen, während ein/e durchschnittliche ArbeitsmigrantIn jetzt schon 57 Stunden schuften muss.

Diese und viele andere harte Fakten gehen aus einer vom Moskauer Zentrum für soziale und Arbeitsrechte 2013 durchgeführten Studie hervor, die den Einfluss auswärtiger ArbeitnehmerInnen auf die Arbeitsrechte russischer BürgerInnen beschreiben sollte. In einem prekären Arbeitsverhältnis (einfacher gesagt ohne Arbeitsvertrag) befinden sich – so die Studie – 60 Prozent der MigrantInnen und 22 Prozent der Arbeitnehmenden mit russischem Pass. 18 Prozent der MigrantInnen und 8 Prozent der RussInnen arbeiten sieben Tage pro Woche. Der Stundenlohn beträgt im Schnitt 90 bzw. 132 Rubel (etwa 2 bzw. 3,5 Euro). Ausländische Frauen sind noch schlechter bezahlt: 77 Rubel pro Stunde. 20 Prozent der MigrantInnen und 13 Prozent der RussInnen gaben an, Zwangsarbeit erlebt zu haben.

Der Trend der gegenwärtigen russischen Arbeitswelt ist offensichtlich: Arbeitnehmende werden durchgehend prekarisiert, indem sie aus dem Standardarbeitsverhältnis hinausgedrängt werden, egal ob mit oder ohne russischen Pass. Doch in der Regel sind russische ArbeiterInnen bereit, bei Rechtsverletzung zu klagen, während ArbeitsmigrantInnen von ihrer Schutzlosigkeit überzeugt sind und passiv bleiben. Dieser Faktor, so die Autoren der Studie, werde durch die Arbeitgeber als Druckmittel gegen die Kernbelegschaft gern ausgespielt.

Die arbeitsrechtlichen Missstände auf den Baustellen von Sotschi sind in den russischen Medien ausgiebig thematisiert worden. Lohnkürzungen und gar -verweigerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und rechtliche Defizite sind nunmehr Teil der olympischen Geschichte. Es gilt nun, Lehren für die Zukunft zu ziehen. Im Sommerloch 2013 unterschrieb Präsident Putin das Gesetz FZ-108 «über die  Vorbereitung der Fußball-WM 2018». Einige Punkte machen dieses technische Dokument zu einer Herausforderung für die Gewerkschaften, die seit Monaten dagegen mobil machen. Das Gesetz hebt einerseits selbst minimale Rechtsgarantien gegen ungeregelte Arbeit, Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit auf. Andererseits wird die Kontrolle des Staates über den Einsatz ausländischer Arbeitnehmender voll und ganz abgeschafft.

Man brauche auf den WM-Baustellen in zehn Städten Russlands von Moskau bis Kaliningrad für die kommenden fast fünf Jahre weder eine Arbeitserlaubnis vom Migrationsdienst noch die übliche Benachrichtigung von Arbeitsdiensten oder Steuerämtern über Anstellung oder Kündigungen von MigrantInnen. Diese werden mit den Arbeitgebern allein gelassen. Schätzungsweise dürften 75 bis 100 Tausend ArbeiterInnen beim Bau neuer WM-Stadien beschäftigt werden - und begeben sich dabei in ein Rechtsvakuum.

Die Konföderation der Arbeit Russlands (KTR), ein unabhängiger Gewerkschaftsverbund und RLS-Partner, befürchtet ein Anwachsen der mit Menschenhandel  und Arbeitszwang verbundenen Kriminalität auch in Bezug auf Minderjährige. Sklavenarbeit sei für den WM-Bau de facto legalisiert, der nationale Arbeitsmarkt werde ausgehöhlt, weitere Folgen seien der Abbau von Löhnen und arbeitsrechtlicher Garantien sowie ein Anstieg von Arbeitslosigkeit, so der KTR-Aktivist Alexander Lechtman. Das Gesetz müsse rückgängig gemacht und unter Mitspracherecht der Gewerkschaften neu erarbeitet werden. Eine ähnliche Situation war während der EM-Vorbereitung 2012 in der Ukraine zu beobachten, doch damals hatten alle Entscheidungsträger, auch die UEFA, ein Auge zugedrückt: die Show war wichtiger.

Die KTR setzte während der Beratungen der Trilateralen Kommission (Staat – Arbeitgeber – Gewerkschaften) Ende 2013 den Beschluss durch,  das Skandalgesetz neu zu fassen, ein gutes Signal für Zehntausende Beschäftigte beim Bau, bei der Stadtsanierung und den unzähligen Dienstleistungen während der WM selbst. Das Gesetz regelt den Status sämtlicher Beschäftigter aller Unternehmen, die als «FIFA-Contractors» anerkannt werden. Dazu zählen viele Bauunternehmer, Zulieferer, Dutzende FIFA-Sponsoren und -Lizenziaten sowie deren Töchter – Recruiting- und Leiharbeitsagenturen, Unternehmen in den Bereichen Sicherheit, Catering, Werbung etc.

Das Gespenst einer postolympischen Depression ist seit Monaten ein beliebtes Thema für Blogger und Analysten. «Gibt es ein Leben nach den Spielen?», fragt sich Anton Jelin, Kolumnist bei Gazeta.ru.  Wir hätten diese in einen sozialen Marker verwandelt, der das Leben zweiteilt: Vor und nach Sotschi.  Das Aufwachen nach dem Karneval ist nicht einfach, aber unumgänglich. Die Diskussion um das «Sklavenarbeit»-Gesetz zeigt, dass das sportliche Mega-Event hier tatsächlich Einige wachgerüttelt oder auch durcheinandergebracht hat. Und das ist gut so. Ein Vizebürgermeister von Sotschi hat es auf den Punkt gebracht: «Die Welt (und wir) werden nicht nur die Sportler und das neue Gesicht der Stadt erblicken, sondern auch uns alle selbst, und zwar so wie wir sind.»  Diese neue soziale Optik und das gewandelte Selbstverständnis «der Russen» sind  Sotschis eigentliche innenpolitische und gesellschaftliche Leistung.

Vladimir Fomenko, stellvertretender Leiter des RLS-Büros Moskau

Dieser Text ist Teil eines Blickpunktes zu sportlichen Großereignissen in der RosaLux 1-2014. Das Heft erscheint Mitte März.