Nach monatelangen Protestaktionen, die zuletzt zu blutigen Auseinandersetzungen mit vielen Toten geführt hatten, ist es am 21./22. Februar in Kiew zu einem Umsturz gekommen. Zuvor hatten Unterhändler der EU, darunter Bundesaußenminister Steinmeier, versucht, zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln und einen geordneten Machtwechsel zu vereinbaren. Die Tinte unter der Vereinbarung zur politischen Regulierung der Staatskrise in der Ukraine war aber noch nicht trocken, da begannen die bisherigen Machtstrukturen in der Ukraine zu zerfallen. Immer mehr Mandatsträger der Partei der Regionen in der Werchowna Rada und in den Gebietsverwaltungen verließen die Fraktionen bzw. die Partei. Einheiten der Polizei- und Sicherheitsorgane verweigerten den Gebrauch von Schusswaffen gegen Demonstranten und ganze Dienstbereiche stellten sich auf die Seite der Regierungsgegner. Bereits am Freitagabend war die Machtbasis von Präsident Janukowitsch in Kiew und in den zentralen und westlichen Gebieten der Ukraine zerbrochen. Fluchtartig verließen er und viele Regierungsmitglieder Kiew.
Die bisherige Opposition nutzte das entstandene Machtvakuum und begann unverzüglich mit der lange vorbereiteten Machtübernahme, die von einer neuen Parlamentsmehrheit (auch mit den Stimmen der KPU-Abgeordneten) mit zahlreichen Gesetzen, Personalentscheidungen und der schließlich der verkündeten Absetzung von Präsident Janukowitsch bereits am Wochenende auch formal vollzogen wurde. Durch die Entwicklungen am Wochenende konnte die reale Gefahr eines Bürgerkrieges mit unabsehbaren Folgen für die Ukraine und die gesamte Region zunächst abgewendet werden. Allerdings ist die Gefahr längst noch nicht endgültig gebannt. Wie der zurückhaltende Empfang der frei gelassenen Julia Timoschenko auf dem Maidan zeigte, misstrauen große Teile der Protestbewegung auch den neuen Funktionsträgern aus den Reihen der bisherigen Opposition. Vor allem lehnen es die gewaltbereiten, nationalistischen Gruppierungen des sog Rechten Sektors ab, ihre Positionen freiwillig zu räumen und fordern ein weitgehendes Mitsprache- und Kontrollrecht bei der Schaffung der neuen Machtstrukturen. Es muss sich erst noch zeigen, ob die Führungen der bisherigen parlamentarischen Opposition in der Lage und Willens sind, den militant-nationalistischen Flügel der Protestbewegung von einer direkten Machtbeteiligung fern zu halten. In den bisherigen Auseinandersetzungen gab es jedenfalls keine klare Abgrenzung von den militanten Gruppierungen. Im Gegenteil, durch die Zusammenarbeit mit der national-konservativen "Swoboda-Partei" nahmen Parlamentsopposition und ihre westlichen Ratgeber das Mitwirken militanter, gewaltbereiter Kräfte billigend in Kauf. Schon jetzt zeigt sich, dass aber ohne Isolierung dieser Gruppierungen, einschließlich ihrer Entwaffnung, eine wirkliche Stabilisierung der Lage kaum möglich sein wird.
Mit dem am Wochenende vollzogenen Machtwechsel in Kiew, der allerdings noch einer gesamtnationalen Legitimation bedarf und längst nicht vollendet ist, wurde ein Prozess zur grundlegenden Neuorientierung der Innen- und Außenpolitik der Ukraine eingeleitet, der zu einer Neubestimmung des Platzes der Ukraine im europäischen Staatengefüge mit weitreichenden Folgen für das regionale und europäische Kräfteverhältnis führen kann. Anders als 2004/2005, als mit der so genannten Orangenen Revolution schon einmal der Versuch zu dieser grundlegenden Neuausrichtung der ukrainischen Politik unternommen worden war, werden die Träger der jetzigen Veränderungen – massiv unterstützt von Seiten der USA und der EU – bemüht sein, mit allen Mitteln ein erneutes Scheitern des Machtwechsels zu verhindern. Wichtigstes Instrument dafür wird die vertragliche Einbindung in die EU durch eine schnellstmögliche Unterzeichnung der vorbereiteten Assoziierungsabkommen sein. Nicht auszuschließen ist aber auch ein neuer Anlauf für einen Beitritt der Ukraine zu NATO, der sich wesentlich schneller (und kostengünstiger) vollziehen ließe.
Mit dem Machtwechsel in der Ukraine hat der Westen ein wichtiges strategisches Ziel erreicht, den Beitritt der Ukraine zur von Russland dominierten Zollunion und zur geplanten Euroasiatischen Union dauerhaft zu verhindern. Das vom russischen Präsidenten Putin initiierte Projekt eines eurasischen Integrationsraumes als gleichberechtigtem Handels- und Wirtschaftspartner der EU dürfte ohne die Mitgliedschaft der Ukraine kaum zum Tragen kommen. Die russische Politik gegenüber der Ukraine und im postsowjetischen Raum insgesamt hat somit einen deutlichen Rückschlag erfahren. Die weitere Entwicklung wird wesentlich davon bestimmt sein, wie und ob es Russland gelingt, seine Politik den neuen Realitäten anzupassen, auf politischen und wirtschaftlichen Druck gegenüber der Ukraine zu verzichten und nach neuen, gleichberechtigten Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit der Ukraine zu suchen. Dabei kann Russland auf die vielfältigen wirtschaftlichen Bindungen der Ukraine setzen, die auch künftig existenziell für die ukrainische Wirtschaft bleiben. Einen "völligen Bruch mit Moskau" kann sich jede neue ukrainische Führung allein aus ökonomischen Gründen nicht leisten, zumal nicht klar ist, zu welchen finanziellen Hilfen die EU und die USA bereit sind, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Klar ist nur, dass die Sicherung des Machtwechsels in Kiew für den Westen mit hohen Kosten verbunden sein wird, die sicherlich zu einem großen Teil von Deutschland zu tragen sein werden. Unklar bleibt auch noch, ob und wie die ostukrainischen Gebiete künftig mit ihren speziellen Bindungen zu Russland umgehen werden. Wenn auch Abspaltungsbestrebungen nicht zu unterschätzen sind, so erscheint es aber wahrscheinlicher, dass die ostukrainischen Gebiete künftig autonomer ihre Politik und Wirtschaft gestalten werden.
Das Ringen um den Platz der Ukraine in der europäischen Staatengemeinschaft ist mit den dramatischen Ereignissen vom Wochenende weder innen- noch außenpolitisch beendet, wenn sich auch die Rahmenbedingungen zugunsten der EU und des Westens verändert haben. Es wird sich nunmehr sehr rasch zeigen müssen, ob hinter den vielfachen Erklärungen westlicher Politiker, darunter auch Bundesaußenminister Steinmeier, man müsse besser als in der Vergangenheit die historisch gewachsenen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland beachten und die Interessen Russlands berücksichtigen, mehr als nur taktische Überlegungen stehen. Für die Ukraine und die gesamte Region wird es nur eine dauerhafte Stabilität geben, wenn ein Weg gefunden wird, die Einbindung der Ukraine in die europäischen Integrationsstrukturen mit einer gleichzeitigen Partnerschaft zu Russland zu verbinden.
Manfred Schünemann ist Vizepräsident des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht e.V., Berlin und Mitglied des Gesprächskreises Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung.