Nachricht | Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus,

Tote Winkel der NS-Forschung

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Marcus Hawel,

Wer sich heute der Meistererzählung einer in der Bundesrepublik seit ihrem Anbeginn "erfolgreich praktizierten Demokratie" widersetzt, kann schnell zum Spielverderber abgestempelt werden. Immerhin schadet er dem "normalisierten" "Standort Deutschland", dessen symbolisches Kapital maßgeblich von seinem Ansehen in der Welt abhängt.
Aber etwas ist seltsam an dieser Meistererzählung. Sie passt nicht auf Anfang und Gegenwart der bundsrepublikanischen Geschichte. Sie verdeckt die alternativen Bestrebungen eines demokratischen, humanen Sozialismus, die es in der Adenauer-Ära gab, aber sich gegen den restaurativen und antikommunistischen Geist nicht durchzusetzen vermochten. Und sie ignoriert die gegenwärtige Krise der repräsentativen Demokratie, die - das könnte sich zeigen - viel mehr mit den restaurativen, fehlgeleiteten Anfängen zu tun hat, als bisher bewusst ist.
Schon deshalb wird die Meistererzählung vom "demokratischen Erfolgsmodell" von den herrschenden Eliten gegen Kritik verteidigt: Sie ist nützliches Vehikel für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft, d.h. den Abbau sozial- und rechtsstaatlicher Strukturen, ohne dabei der Hypothek nationalsozialistischer Vergangenheit ins Auge sehen zu müssen.
Dagegen schreiben dreizehn überwiegend junge Autoren in dem von Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann und Joachim Perels herausgegebenen Sammelband "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?" an und beleuchten die langen Schatten des Nationalsozialismus, in denen sich die Nachkriegsgesellschaft befand. Es sei nur zum Teil gelungen, die katastrophische Vergangenheit erfolgreich aufzuarbeiten. Die Autoren zeigen, dass eine Hypothek auf der politischen Kultur der Nachkriegsgesellschaft, auf den Handlungsbereichen von Politik, Öffentlichkeit, Justiz, Wissenschaft und Kultur, lastet, deren Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart aufzuspüren sind.
Zwar gebe es durchaus Formen einer angemessenen Aufarbeitung der NS-Herrschaft, die von den Autoren des Sammelbandes nicht angezweifelt werden. Aber ihnen geht es nunmehr um "weniger beachtete gesellschaftliche und politische Handlungsbereiche", die ins Blickfeld gerückt werden. Die jüngere Forschung über das postfaschistische Deutschland zeige, "dass die politische, ideologische und mentale Verwurzelung des nationalsozialistischen Regimes in der deutschen Gesellschaft sehr viel tief greifender war, als dies von der bisherigen Forschung erkannt wurde", schreiben die Herausgeber in der Einleitung.
Zunächst rückt Claudia Fröhlich in ihrem Aufsatz den von der Wissenschaft längst polemisch erst verkürzten und dann entsorgten Begriff der Restauration zurecht, indem sie an verschüttete Basistexte von Walter Dirks, Eugen Kogon, Hans-Werner Richter und Karl Jaspers erinnert und gegen die polemisierenden Kritiker des Restaurationsbegriffes, z.B. Werner Conze, in Stellung bringt. Daran wird deutlich, dass der Restaurationsbegriff zu Unrecht als widerlegt erscheint, weil seine analytische Relevanz nach wie vor von großer Tragweite ist. Jedenfalls ist der Restaurationsbegriff, wie ihn Walter Dirks bestimmt hat, kein politisch-agitatorischer Gegenbegriff zur Regierungspolitik von Konrad Adenauer gewesen, weil in ihm Modernisierung und Restauration überhaupt keinen Gegensatz darstellten. Dirks wies seinerzeit darauf hin, dass die Restauration niemals die alten Verhältnisse in Reinform wiederherstellen könne, sondern sich mit dem gewandelten Zeitgeist arrangieren müsse. Wiefern die Restauration ohne ihre Kritiker auf antidemokratische Verhältnisse hinausgelaufen wäre, ist allerdings eine offne Frage. Es gibt aber genügend Hinweise, dass jene, die Wert darauf legten, die normativen Ansprüche des Grundgesetzes zu realisieren und darum als Kritiker der Restauration in Erscheinung traten, maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sich die Bundesrepublik in keinen autoritären oder faschisierten Staat zurückverwandelte. Wenngleich eine humanitären und freiheitlichen Prinzipien verpflichtende Demokratie als unmittelbare Konsequenz aus dem Faschismus bisher ebenso nicht erstritten werden konnte.
Der gleichsam rehabilitierte Restaurationsbegriff ist für die nachstehenden Aufsätze das zentrale Paradigma. Die Randphänomene, die nunmehr ins Blickfeld der zwölf weiteren Autoren geraten, markieren ein neues Forschungsfeld für die Untermauerung der analytischen Relevanz der Restaurationsthese. Rainer Schuckart zeigt die personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik in der konservativen Staatsrechtslehre auf und fokussiert auf einen einflussreichen Theoretiker der NS-Diktatur, Ernst Forsthoff, der dann in der Bundesrepublik zu einem der führenden Staatsrechtler wurde.
Hervorhebenswert sind auch zwei Aufsätze, die sich mit dem gesellschaftlichen Umgang des Nationalsozialismus beschäftigen. Shida Kiani zeichnet die antisemitische "Schmierwelle" des Winters 1959/60 nach und rekonstruiert die Umstände. Sie zeigt auf, wie der in der Bevölkerung nach wie vor virulente Antisemitismus mit einer in den Anfangsjahren wirkungsvoll verhinderten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einherging und sich im Rahmen antikommunistischer Ressentiments auf unpolitische "Rowdys" verschob. Stephan A. Glienke setzt sich mit der Darstellung von Auschwitz im öffentlichen Raum anhand der schwierigen Umsetzungsgeschichte des ersten deutschen Ausstellungsprojekts zum Völkermord Anfang der 1960er Jahre "Die Vergangenheit mahnt" auseinander.
Von besonderer Brisanz ist auch der Umgang der Justiz mit der NS-Vergangenheit. Axel von der Ohe beschäftigt sich mit dem Scheitern der strafrechtlichen Aufarbeitung von Justizverbrechen im "Dritten Reich", insbesondere der Rolle des Bundesgerichtshofes. Andreas Mix vergleicht dagegen die Gerichtspraxis der BRD und der DDR anhand zweier Strafprozesse gegen Exzesstäter aus dem Warschauer Ghetto und problematisiert diesbezüglich die personelle Kontinuität von Nazi-Richtern, die in der Bundesrepublik sehr häufig zu milden Urteilen und Freisprüchen geführt hat.
Der Sammelband schließt ab mit zwei Beiträgen, die den Blick konsequent ideologiekritisch auf neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung richten. Joachim Perels analysiert "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly und kritisiert, dass bei ihm die Herrschaftsstruktur des "Dritten Reiches" verwässert werde. Zudem gehe Aly von einem fragwürdigen Verständnis des Antisemitismus aus, der annähernd vollständig in ökonomischer Zweckrationalität aufgelöst werde. Eine ganze Reihe von bedeutsamen Begriffen (z.B. Volksstaat, Sozialstaat, Sozialismus) wird von Aly in ihrem historisch-sozialen Bedeutungsgehalt entstellt, indem sie unzulässigerweise auf die NS-Despotie angewandt wird. Darin zeige sich ein revisionistischer Versuch der Verunglimpfung von emanzipatorischen Ideen, die auch heute noch ihre Relevanz haben. Ralf Steckert setzt sich mit Jörg Friedrichs "Der Brand" und der neuerlichen Kontroverse um die Bewertung des Bombenkrieges gegen die deutsche Zivilbevölkerung auseinander. Anhand dieser kann man erkennen, wie der psychologische Mechanismus der Schuld-Abwehr sich in Form einer zweigeteilten Wahrnehmung durchsetzt, der den Blick auf den kausalen Gesamtzusammenhang verstellt, so dass dann der Diskurs einer "deutschen Opfergemeinschaft" entsteht, der den Täterdiskurs verdrängt und sich verselbständigt gegenüber den eigens zu verantwortenden Verbrechen des Nationalsozialismus.
Alle diese Themenfelder, die von den Autoren kenntnisreich und kritisch bearbeitet werden, ohne zu polemisieren, verweisen auf Hypotheken der NS-Vergangenheit, die nicht richtig aufgearbeitet, sondern verdrängt wurden. Insofern widersprechen die Autoren der Meistererzählung des demokratischen "Erfolgsmodells" der Bundesrepublik. Die Herausgeber machen aber auch deutlich, dass "die überwältigende Mehrheit der politisch Verantwortlichen der unwiderruflichen Lektionen der Geschichte bewusst" seien. Dies zeige sich etwa, wenn fremdenfeindliche oder antisemitisch motivierte Gewalttaten einhellig verurteilt werden. Es wäre aber kritisch zu hinterfragen, wie tief diese Überzeugung geht. Es könnten auch eine rein symbolische Vergangenheitspolitik und eine verdinglichte Erinnerungspraxis sein, die bloß auf "Normalisierung" zielt, gleichsam eine Rhetorik ist, die moralisch zwar geläutert, aber praktisch kaum zu weitreichenden Schlüssen bereit wäre, sondern sich hervorragend mit der Meistererzählung verträgt, weil schließlich alles dann so bleiben könnte, wie es ist.
Die Frage mag hier unerörtert bleiben, die Autoren des Sammelbandes haben jedenfalls zusätzlich "tote Winkel" ausgeleuchtet und damit einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung der NS-Forschung geliefert.


Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, hrsg. v. Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann, Joachim Perels, Göttingen: Wallstein Verlag 2008 - 36 Euro