Unverblendete, weiß gestrichene Ziegelsteine, grau gestrichener Stahlbeton ohne Verputz: Was in den Lernfabriken des fordistischen Sozialstaates der 1970er und 1980er Jahre Augenkrebs erzeugender Standard werden sollte, sorgt 1955 in Ulm bei der Eröffnung der Hochschule für Gestaltung (HfG) noch für Aufsehen. Die HfG nimmt 1953 nach längerem Vorlauf ihren Lehrbetrieb auf. Sie gilt, so die These von René Spitz, des wichtigsten deutschsprachigen Forschers zur HfG, als eine der weltweit wichtigsten Einrichtungen, wenn es um Design im 20. Jahrhundert geht. Für Spitz ist die HfG in Deutschland sogar die wichtigste Institution, also weit prägender als das Bauhaus. Spitz gibt mit seinem sehr reichhaltig illustrierten Bändchen eine Überblicksdarstellung, der eine Bibliografie und eine Liste mit den Personalia der wichtigsten DozentInnen (darunter incl. Inge Aicher-Scholl fünf Frauen) beigefügt ist.
Der Designer Otl Aicher, Inge Scholl und der Schweizer Max Bill (der zwar der erste Rektor ist, die HfG aber bereits 1957 wieder verlässt) sind die Personen, die die Gründung vorantreiben. Scholl und Aicher, die 1952 heiraten, träumen gar von einer Geschwister-Scholl-Hochschule, müssen sich aber zuerst mit der Ulmer Volkshochschule „begnügen“, wo sie sich engagieren und an der auch von 1953 bis 1955 die ersten zwei Jahre Lehrbetrieb übergangsweise stattfinden.
Bis 1961 ist an der HfG für alle StudienanfängerInnen die am berühmten Vorkurs des Bauhauses angelehnte Grundlehre obligatorisch. Insgesamt sind an der HfG in den nur 15 Jahren ihrer Existenz 637 Personen immatrikuliert, davon 97 Frauen. Die wichtigsten Abteilungen sind Produktgestaltung (249 Studierende), dann folgen Bauen und Visuelle Kommunikation (158 Studierende). Kleinere Abteilungen sind schließlich Film und „Information“. Insgesamt legen jedoch nur 178 Personen ihr Diplom an der HfG ab, weitere 53 an ihrer Nachfolgeeeinrichtung. Der Zugang zur HfG war reglementiert, über den Verbleib wurde erst nach dem ersten Studienjahr entschieden; wer also an der HfG studierte, tat dies im Bewusstsein, einem ausgewählten Kreis anzugehören – gleichwohl war z.B. das Abitur keine Zugangsvoraussetzung.
Das Buch ist jenseits seines Apparates in zwei unterschiedliche Teile gegliedert. Einem 15-seitigen einführenden Artikel folgen verschiedene Kapitel, die sich in der Gestaltung vor allem um die vielen dokumentierten Fotos ranken. Sie liefern einen Eindruck vom Alltag an der HfG, aber auch statistische Daten und Informationen zu den innovativen Produkten, die dort im Rahmen der Ausbildung, aber auch darüber hinaus, produziert wurden.
Die GründerInnen der privaten (!!) Hochschule gingen im Bewusstsein der nazistischen Vergangenheit Deutschlands von drei Thesen aus. Erstens sei die Welt durch die Industrialisierung eine technische geworden, zweitens sei diese Welt gestaltbar, bzw. sei eine solche Gestaltung möglich, wenn nicht wünschenswert, und drittens sei Design (damals ein noch völlig neues Wort!) ein Mittel, um Gesellschaft zu gestalten. Design basiere auf Vernunft, und Designer_innen sollten nicht Kopflanger der Industrie, sondern eben: Gestalter_innen sein. Diese Thesen sind vor allem in Relation zur Anfang der 1950er Jahre schon mehr als 30 Jahre zurückliegenden Gründung des Bauhaus´ von Interesse. Das Bauhaus propagierte ebenfalls die Gestaltung der Gesellschaft, vor allem durch „Produktdesign“ und Architektur. Es wollte sich dazu aber vor allem künstlerischer Mittel bedienen und arbeitete sich ja bekanntlich intern am Genie-Gedanken und der Vorstellung „Kunst“ sei vor allem Resultat von Begabung und weniger von Ausbildung, ab. Die HfG propagierte in Fortsetzung einer bestimmten Lesart ein neues Verständnis von Kultur. Diese umfasse in der technischen, wenn nicht durchtechnisierten Welt zum einen das Alltagshandeln und zum anderen die eine/n umgebenden Produkte. Ein übersichtlich gestalteter Zugfahrplan sei allemal gesellschaftlich relevanter als künstlerische Malerei, so ein Passus von Otl Aicher, den Spitz kolportiert.
Nach der Lektüre des schmalen Buches bleibt der Eindruck, die HfG sei ihrer Zeit voraus gewesen und u.a. eben deshalb nie richtig in Tritt gekommen. Spitz berichtet, es habe Schlamperei und keinen Tag ohne finanzielle Probleme gegeben und darüber, dass drei Viertel der 282 DozentInnen, die jemals an der HfG unterrichtet haben, dies nur ein Jahr oder kürzer getan hätten, immerhin ein Hinweis auf ein hohes Maß von personeller Fluktuation. Als die HfG Anfang 1968 ihre Selbstauflösung beschließt, ist Otl Aicher bereits nicht mehr an ihr tätig. Er hatte noch 1962 in einem Vorgang, den Spitz „Verfassungsputsch“ nennt, die Stelle des Rektors eingenommen. Stellenweise bleiben die internen Debatten und auch die damit verbundenen Personalia auch nach der Lektüre etwas undurchschaubar. Dies ist nicht weiter schlimm, denn Ziel dieses leider nicht ganz preiswerten Bandes ist es , zu einer weiteren Beschäftigung mit der HfG und damit einem heute weitgehend vergessenen, aber sehr aussagekräftigen Kapitel der Kulturgeschichte der Bundesrepublik einzuladen – und dieses Ziel wird vollauf erreicht.
René Spitz: HfG Ulm. Kurze Geschichte der Hochschule für Gestaltung, dt./engl., Verlag Lars Müller Publishers, Zürich 2014, 128 Seiten, 182 Abbild., 28 EUR
Hinweis
Die Dissertation von Rene Spitz aus dem Jahre 1997 ist hier als PDF frei verfügbar (8 MB). Eine Buchfassung ist 2002 erschienen. Sie kostet neu 78 EUR, ist aber und u.a. auf der Website des Autors hier online und in einer 81 MB großen PDF-Datei frei zugänglich (letzte Abfragen jeweils 14. Mai 2014).