Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte Schicksale unter Stalin

Ausstellung «Ich kam als Gast in euer Land gereist…» bis Ende Juli am Franz-Mehring-Platz in Berlin zu sehen / Hitlergegner als Opfer des Großen Terrors

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Autorin

Effi Böhlke,

Wenn das Tageslicht durch die Roll-Ups fällt, dann leuchten sie wie Kirchenfenster und laden zum stillen Gedenken ein: Nach langer Reise durch bislang vier Staaten – Russland, Kasachstan, Belgien, Frankreich – und sieben Bundesländer  ist die Wanderausstellung «Ich kam als Gast in euer Land gereist» nach Berlin zurückgekehrt.

Noch bis zum 27. Juli ist sie im Foyer des Bürogebäudes FMP1 am Franz-Mehring-Platz zu sehen und lädt zum Betrachten, Lesen und Nachdenken ein. Im Jahr 2008 gründete sich unter dem Dach der VVN/BdA der «Arbeitskreis zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten». Die Motivation bestand darin, denjenigen eine Stimme zu verleihen, deren Schicksale bis dahin bei der Aufarbeitung der Geschichte der 1930er und 1940er Jahre des 20. Jahrhunderts weitestgehend verschwiegen worden waren: deutsche AntifaschistInnen, die mit ihren Familien Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre in der Sowjetunion im Exil waren und Opfer des Stalinschen Terrors wurden.

Es entstand die Idee, diese Geschichten nicht nur aufzuschreiben, sondern daraus eine Ausstellung zu machen. Resultat ist eine inhaltlich informative, sehr sehenswerte und emotional anrührende Darstellung von 15 Familienschicksalen. Den AusstellungsmacherInnen, selbst Nachfahren von betroffenen Familien, ist es gelungen, diese einzelnen, sehr komplizierten und oft verschlungenen Geschichten zu komprimieren und auf 15 Roll-Ups festzuhalten. Dazu kommen vier thematische Tafeln mit weiterführenden Informationen und zwei technische Tafeln – und all dies sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache.

Zur Vernissage am 23. Juni waren gut 60 Personen gekommen: AusstellungsmacherInnen, Stiftungsangehörige, Nachfahren von Familien, die in der Ausstellung Erwähnung finden, und solche, die sich für die komplizierte politische Geschichte des 20. Jahrhunderts und die in sie verwobenen Familiengeschichten im Hin und Her zwischen faschistischem Deutschland und stalinistischer Sowjetunion interessieren. Florian Weis, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dankte den AusstellungsmacherInnen unter der Leitung von Inge Münz-Koenen für ihre Arbeit und das Engagement bei der Umsetzung der ursprünglichen Idee. Er verwies auf das große Interesse, das die Ausstellung auf all ihren Stationen im In- und Ausland hervorrufe, aber auch auf die durch sie provozierten Diskussionen innerhalb der deutschen und europäischen Linken: wie etwa im Europaparlament in Brüssel, als sich Vertreter der griechischen Kommunistischen Partei vehement gegen die Ausstellung wandten mit dem Argument, hier ginge es wohl um die Rehabilitierung deutscher Faschisten zulasten der Sowjetunion.

An solchen Debatten zeige sich, dass die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, längst noch nicht abgeschlossen sei. Sie müsse jedoch elementarer Bestandteil der Befassung mit der eigenen sozialistisch-kommunistischen Vergangenheit sein. Wenn die deutsch-russische Wanderausstellung nun zu solchen Debatten anrege, sei das nur zu begrüßen. Aber auch für Zukunftsorientierung und eigene Positionsfindung seien solche Debatten unumgänglich: Was heißt denn demokratischer Sozialismus vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den Verbrechen des Stalinismus?

Vonseiten der AusstellungsmacherInnen sprach Oswald Schneidratus, Impulsgeber des Arbeitskreises und Enkel eines anerkannten Architekten, der im Jahr 1937 wegen angeblicher «konterrevolutionärer terroristischer Tätigkeit» zum Tode verurteilt und erschossen worden war. Sein Vater, Werner Schneidratus, ebenfalls Ingenieur und Architekt, wurde 1938 zu zehn Jahren Lager verurteilt, 1949 nach Sibirien verbannt. Im November 1955 ging die Familie in die DDR. Dort habe der Vater gehofft, nunmehr seine Ideale einer sozialistischen Gesellschaft umsetzen zu können, und zugleich immer wieder mit seiner unbewältigten und nicht zu bewältigenden Geschichte zu kämpfen gehabt, sagte Schneidratus.

Seine Rede widmete er aus aktuellem Anlass seiner Mutter Jaroslawa Salyk, die aus dem Gebiet um Lwow/Lemberg in der Westukraine stammte, wo die jüdische Bevölkerung stark vertreten war. Die Westukraine habe immer wieder neue Unterdrücker erdulden müssen: erst Österreich, dann Polen, nach dem Hitler-Stalin-Pakt die Sowjetunion, und schließlich das faschistische Deutschland. So habe seine Mutter «alles Blut dieser Erde gesehen»: Ghettos und Massenerschießungen. Während der deutschen Besatzung waren dort allein vier Partisanengruppen aktiv, die sich auch wechselseitig bekämpften. Eine vergleichbar komplizierte Gemengelage gebe es auch heute in der Ukraine. Voreilige Einschätzungen und Parteinahmen seien daher nicht ratsam. Dass die Ausstellung Kontroversen innerhalb der Linken entfache, sei gut: Nur so könne man zu gemeinsamen Positionen kommen. Zuweilen werde er kritisch gefragt: «Wem nutzt es, wenn Ihr redet?» Und er habe sich mittlerweile folgende Gegenfrage zurechtgelegt: «Wem nutzt es, wenn wir schweigen? Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt?»

In den kommenden Wochen gibt es ein Begleitprogramm zur Ausstellung, das den historischen Kontext näher beleuchtet, auf die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus eingeht, aber auch die künstlerischen Seiten der Emigration thematisiert. Nach der Station in Berlin wird die Ausstellung an weiteren Städten im Bundesgebiet zu sehen sein.