Reisen bildet, meinte schon Michel de Montaigne. Und zuweilen hat man den Eindruck, dass dies auf ganz besonders intensive Weise zutrifft. So ging es mir, als ich auf Einladung des Warschauer Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung via Warschau nach Zamość , der Geburtsstadt von Rosa Luxemburg, fuhr, um dort an einer internationalen Tagung zum Thema „Erinnerungspolitik. Kultur der Erinnerung“ teilzunehmen. Voller Informationen und Impressionen kehrte ich zurück, und es ist gar nicht so einfach, dies alles zusammenzufassen. Ich versuche es, und zwar in Form eines Reisetagebuchs.
Donnerstag, 10. Juli 2014
Am 10. Juli steige ich am Berliner Ostbahnhof in den Zug 9.50 Uhr nach Warschau ein. Gute 5 Stunden braucht man und bekommt einen Eindruck von der weiten, flachen, von Feldern, Wäldern und Auen durchzogenen Landschaft jenseits der Oder. Immer wieder sind Störche und Kraniche zu sehen.
Als ich am Warschauer Hauptbahnhof ankomme, holt mich freundlicher Weise Holger Politt ab, Mitarbeiter am Regionalbüro Warschau und Spezialist für Rosa Luxemburg. Nach Installation meines Gepäcks im Zimmer des zentral gelegenen Novotels mit Blick über Altstadt und Weichsel gehen wir den Boulevard Nowy Świat entlang. Unterwegs schauen wir in die Heiligkreuzkirche hinein, wo in einem Pfeiler die Urne mit dem Herz von Frédéric Chopin aufbewahrt wird. Vorbei an Barockbauten, die nach dem II. Weltkrieg nach Bildern des Italieners Canaletto rekonstruiert wurden, laufen wir zum frühbarocken Königsschloss (Zamek Królewski), das rot und mächtig über der Weichsel thront und aus dem frühen 17. Jahrhundert stammt. Eigentlich! Denn auch dieses Schloss ist eine Rekonstruktion. Und so beginnt der Rundgang durch das Schloss mit einem Dokumentarfilm über seine Zerstörung, ja Vernichtung, in der Zeit der deutschen Besetzung Polens von 1939 bis 1944 Wurde mit seiner Zerstörung schon bald nach der Einnahme Warschaus begonnen, so setzte, als Symbol der politischen Vernichtung auch der letzten Formen von Eigenständigkeit und Widerstand, die vollkommene Destruktion nach dem Warschauer Aufstand im August 1944 ein. In den 1970er und -80er Jahren wurde es von polnischen Restauratoren und Baumeistern wiederhergestellt, wobei wiederum Gemälde von Canaletto als Vorlage dienten. Hin- und hergerissen zwischen Trauer und Bewunderung, gehen wir von Saal zu Saal. Diese Stimmungslage wird die ganze Reise über anhalten.
Freitag, 11. Juli 2014
Um 12.30 Uhr treffen sich die TeilnehmerInnen der Tagung im Foyer des Novotel, um mit dem Bus Richtung Zamość zu fahren. Ich werde von Monika Krawczyk begrüßt, der Vertreterin der „Foundation for the Preservation of Jewish Heritage in Poland“, die den Veranstaltungsort zur Verfügung stellen wird. Von Seiten der Stiftung treffen ein Bodo Ramelow, Vorstandsmitglied und derzeit Spitzenkandidat der Partei DIE LINKE für die Landtagswahlen in Thüringen, und Joanna Gwiazdecka, Leiterin des Regionalbüros in Warschau, sowie weitere MitarbeiterInnen aus Berlin und Warschau. Ec Chaim, das Zentrum der Progressiven Gemeinschaft der Jüdischen Gemeinde Warschau, Koorganisator der Tagung, wird vertreten durch den jungen Rabbiner Stas Wojciechowicz. Es treffen weitere Rabbiner aus dem In- und Ausland ein, so Yehoyada Amir aus Jerusalem und Walter Homolka aus Berlin/Potsdam, und VertreterInnen von Institutionen und Organisationen, die sich auf diverse Weise mit der Kultur und/oder der Politik der Erinnerung an den II. Weltkrieg in Polen und Europa befassen. Zusammenkommt so eine kleine Reisegesellschaft von etwa 40 Personen, die sich, auf Polnisch, Englisch, Französisch, Russisch kommunizierend, Richtung Südostpolen auf den Weg macht. Im Bus der Reisegesellschaft „Mazurka Travels“ – mit einer Darstellung des Chopin-Denkmals auf der Seite, wo der Komponist sinnend unter einer Weide sitzt - fahren wir die Autoroute 17 gut 250 km fast bis zur polnisch-ukrainischen Grenze. Unterwegs wird in der Jakubowa Izba gespeist, dann geht es weiter über Lublin, bei mir seit Schultagen assoziiert mit dem Gedicht „Kinderschuhe von Lublin“, zu unserem eigentlichen Zielort, wo wir am späten Nachmittag eintreffen.
Im Hotel gibt zunächst Holger Politt eine Einführung zu Rosa Luxemburg in Zamość. Die Namensgeberin unserer Stiftung ist hier, in der Nähe der die Stadt umgebenden Festungsanlage, am 5. März 1871 geboren worden, als jüngstes von fünf Kindern. Später zog die Familie an den Marktplatz der Stadt. Als Rozalia drei Jahre alt war, verließ die Familie die Stadt und zog nach Warschau. Bei der anschließenden Stadtführung besichtigen wir beide Gebäude: Das Geburtshaus selbst ist von Bauplanen umhüllt wie von Christo; an dem Haus am Marktplatz ist eine Ehrentafel der Stadt angebracht, auf der diese ihrer Tochter gedenkt, die ansonsten – was ihr Werk anbelangt – in Polen weitaus unbekannter ist als etwa in Deutschland.
Und während wir laufen, wird uns auch die Geschichte von Rosa Luxemburgs Geburtsstadt nähergebracht: Konzipiert und erbaut wurde sie Ende des 16. Jahrhunderts, und zwar unter dem Kanzler und Oberbefehlshaber Jan Zamoyski (daher auch der Name der Stadt), welcher zur Umsetzung seiner Pläne den Architekten Bernardo Morando aus Padua herbeiholte. Entstanden ist so eine wunderschöne Renaissancestadt, die während des II. Weltkrieges nicht zerstört wurde; in den 1970er Jahren einem Restaurationsprogramm unterzogen, wurde sie schließlich im Jahre 1992 zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt. Die Instandhaltungsarbeiten dauern an, so ist man derzeit dabei, die Festungsanlage zu restaurieren. Dass die Stadt den II. Weltkrieg nahezu unzerstört überstanden hat, heißt jedoch nicht, dass die Geschichte an ihr vorbeigezogen wäre: Während der deutschen Besetzung wurde die jüdische Bevölkerung, die in der mittelgroßen Stadt ungefähr die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausgemacht hatte, nahezu vollständig ausgerottet: Entweder vor Ort ermordet oder in die umliegenden Vernichtungslager abtransportiert. Zwischenzeitlich erhielt sie von ihren Besatzern gar den Namen „Himmlerstadt“ – Schönheit und strategische Lage weckten Begehrlichkeiten unterschiedlichster Art. Heute ist Zamość Partnerstadt Weimars.
Der Abend klingt, da es Freitag ist, im Sabbat aus: Wir begrüßen uns mit Schabbat Schalom, der Rabbi spricht das Abendgebet, segnet Wein und Brot, die Challa, jeder nimmt ein Stück, bestreut es mit Salz und lässt es sich schmecken.
Samstag, 12. Juli 2014
Nach dem Frühstück begeben sich die TeilnehmerInnen zum Tagungsort. Dabei handelt es sich um eine Renaissancesynagoge aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts, die in den Jahren 2009 und 2010 umfassend rekonstruiert und restauriert wurde und heutzutage für religiöse Zwecke genutzt wird, darüber hinaus aber auch für kulturelle und Bildungsveranstaltungen zur Verfügung steht. Sie empfängt uns in festlichem Weiß, der Innenraum mit seinem fein restaurierten Wand- und Deckenschmuck verschafft eine angenehme Atmosphäre.
Die Tagung wird eröffnet durch Stas Wojciechowicz und Joanna Gwiazdecka. Im ersten Panel geht es um die Frage, wie das Erinnern gestaltet werden kann und um die verschiedenen Dimensionen von Erinnerungspolitik und -kultur. In ihrer Anmoderation betont Joanna Gwiazdecka, dass das Erinnern immer auch mit der jeweiligen Gegenwart verkoppelt ist. Als Erster spricht Yehoyada Amir vom Jewish Institute of Religion in Jerusalem. Er sei, so sagt er, aus einer sehr unruhigen Stadt hierhergekommen, wo es gerade wieder um Fragen von Leben und Tod gehe. Er akzentuiert den politischen Charakter von Erinnerung: Wenn wir von Erinnerung sprechen, so sprechen wir von Politik. Und von der Gegenwart! Jeder Bezug auf die Vergangenheit, jeder Bezug auf die Mythologie, so der Redner, werfe im eigentlichen Sinne politische und ethische Fragen nach dem Verhalten in der Gegenwart auf. Zudem problematisiert er Formen der Erinnerung unter den Bedingungen des sukzessiven Aussterbens der Zeitzeugen: Wie kann Kindern und Jugendlichen ein emotionaler Zugang zum Holocaust eröffnet werden, wenn die unmittelbare Weitergabe von Erlebnisberichten immer seltener wird? Gleichzeitig warnt er vor einer politischen Instrumentalisierung des Holocausts einerseits und der Übertreibung der Dimensionen der Rettung jüdischer Bürger andererseits: Die Menschheit habe schlichtweg versagt; vor dem Holocaust lebten allein in Polen 3 Millionen Juden, am Ende des Krieges war nur noch ein Zehntel von ihnen am Leben. Bei aller Erinnerung: Die ermordeten Juden seien nicht wieder zum Leben zu erwecken, sie gehören unwiederbringlich der Vergangenheit an. Und, das betont Yehoyada Amir zum Schluss seines Beitrags: Ein kompromissloser Blick auf die Gegenwart zeige, dass der Holocaust jederzeit wieder möglich sei.
Bevor Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs der Universität Potsdam, spricht, weist Joanna Gwiazdecka auf Differenzen in der Erinnerungskultur und -politik in Polen und Deutschland hin: Wurde in Deutschland zwar insbesondere nach 1968 eine offensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schuldfrage gepflegt wurde, so sei aber die Geschichte der polnischen Juden, obzwar der Holocaust in Polen stattgefunden habe, nicht ausreichend thematisiert worden. Walter Homolka nun beginnt seine Ausführungen damit, dass der respektvolle Umgang mit der Vergangenheit in beiden Ländern nicht unproblematisch sei. In Deutschland habe man das Erinnern politisch etabliert und Orte und Zeiten des Erinnerns geschaffen. Ein solcher Zeitpunkt des Erinnerns ist etwa der 27. Januar, seit 1996 gesetzlich festgelegter Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Zu diesem Datum findet im Deutschen Bundestag alljährlich eine Gedenkstunde statt. Dieses Ritual, so Homolka, ist sehr wichtig, und zwar sowohl für die Opfer als auch für die Überlebenden. Dennoch birgt die Ritualisierung stets auch die Gefahr des Entrückens und der Entpersonalisierung. Rituale müssen mit eigenem Handeln und Erinnern ausgefüllt werden. Daher auch andere Konzepte des Erinnerns und Gedenkens, wie etwa das Holocaust-Denkmal in der Mitte Berlins, das er als „Ort der Bedeutungslosigkeit“ bezeichnet, dem der Besucher selbst durch eigene Assoziationen eine Bedeutung verschaffen muss, oder Orte, an denen Gedenken durch eigenes Handeln praktiziert wird, wie etwa die Instandhaltung jüdischer Friedhöfe durch Bundeswehrsoldaten. Aus solchem praktizierten Gedenken erwachsen Handlungsanweisungen für die Gegenwart und Zukunft.
Bogdan Bialek vom Jan-Karski-Verein spricht sich für eine sehr persönliche und konkrete Erinnerungskultur aus. Seines Erachtens sollte sich die Politik weitestgehend aus der Erinnerungskultur fernhalten; politisch inszenierte Rituale würden die Erinnerung eher erschweren als ermöglichen. Er zeigt einen Dokumentarfilm über den Umgang mit dem Pogrom in der polnischen Stadt Kielce am 4. Juli 1946, bei dem 42 Überlebende des Holocaust ermordet worden waren; dieses Pogrom – wie auch andere Nachkriegspogrome in Polen - war lange Zeit verschwiegen worden. Nach der Publikation des Buches „Fear: Anti-Semitism in Poland after Auschwitz“ von Jan T. Gross (Random House 2006), das zunächst einen Skandal auslöste, setzte eine kontroverse öffentliche Debatte ein. Der Film dokumentiert die entsprechenden Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerschaft von Kielce selbst und gibt Überlebenden des Pogroms ein Gesicht.
Der Nachmittag ist der Beziehung zwischen sozialen Veränderungen und Erinnerungspolitik gewidmet. Erster Redner ist Bodo Ramelow. Danach befragt, ob denn DIE LINKE in Deutschland derzeit in der Lage sei, signifikanten Einfluss auf die Geschichtspolitik auszuüben, sagt Bodo Ramelow, dass mit dem Ende des Sozialismus der Einfluss der Linken auf die offizielle Geschichtspolitik natürlich geschmälert worden sei. Mit dem neuerlichen Erstarken der LINKEN in den letzten Jahren nehme ihre Möglichkeit, hier deutliche Spuren zu hinterlassen, wieder zu. Gerade am Umgang mit dem Konzentrationslager Buchenwald lässt sich der Zusammenhang von sozialen Veränderungen und Erinnerungspolitik ablesen: War das KZ während der DDR ein zentraler Ort für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, so wurde nach der Wende von politischer Seite her der Umgang mit den Überlebenden des KZ in der DDR sowie das von sowjetischer Seite nach dem Krieg eingerichtete Speziallager Nr. 2 in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Es müsse, so Ramelow, um eine ausgewogene Sicht auf die Geschichte gehen, die der Komplexität und Vielschichtigkeit der Ereignisse gerecht wird und Verantwortung und Schuld, auf welcher Seite auch immer, nicht vertuscht sondern offen thematisiert. Gegen neuerliche Versuche der „Bereinigung“ von Geschichte etwa seien auch die vielfältigen Bemühungen um den Erhalt der Fabrik Topf & Söhne als Erinnerungsort gerichtet gewesen: Diese Fabrik, in der ab 1939 Verbrennungsöfen und Lüftungstechnik für die Konzentrationslager, darunter Auschwitz-Birkenau, hergestellt wurden, sollte zwischenzeitlich abgerissen werden. Nicht zuletzt eine Hausbesetzung führte zum Erhalt des Ortes, der nunmehr eine wichtige Rolle innerhalb der politischen Gedenkkultur in Thüringen und deutschlandweit spielt.
Małgorzata Dorota Winiarczyk-Kossakowska von der SLD betont die Unterschiede in den Erinnerungskulturen und im Stand der Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland und Polen. Während in den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, ein Erstarken rechter Parteien zu verzeichnen gewesen war, die ihren Einfluss auf die Geschichtspolitik geltend machten, werde nunmehr, auch von Seiten der SLD, verstärkt versucht, geschichtspolitische Signale zu setzen. In der anschließenden Diskussion betont sie den ihres Erachtens in Polen historisch tief verwurzelten Nationalismus, den sie als einen der Gründe für antisemitische Aktionen polnischer Bürger während des II. Weltkriegs und danach betrachtet.
Dieser Problemstellung ist auch der Beitrag von Paweł Śpiewak, Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, gewidmet. Er stellt sein Buch „Żydokomuna“ („Judenkommune“) vor, in dem er auf antisemitische Vorurteile in Polen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und ihre politische Virulenz vor und nach dem II. Weltkrieg und während desselben eingeht. Antibolschewismus in Polen sei stets auch gekoppelt gewesen mit Antisemitismus: So sei auch Rosa Luxemburg oftmals als Figur der „Judenkommune“ angesehen worden, die die „polnische Sache“ verraten habe.
Sonntag, 13. Juli 2014
Nach dem Frühstück am Sonntagmorgen lädt mich mein Kollege Krzysztof Pilawski zu einem Morgenspaziergang ein: Er möchte eine bestimmte Stelle außerhalb der die Stadt umgebenden Festung besichtigen. Ich willige ein, und so gehen wir, am Geburtshaus von Rosa Luxemburg vorbei, in Richtung Süden. Wir gelangen zur „Rotunde“, einer im 19. Jahrhundert errichteten Befestigungsanlage. Im Rahmen des Generalplans Ost sollte die Gegend um Zamość, die als strategisch wichtig galt und in welcher die Böden als besonders fruchtbar bekannt waren, von der einheimischen Bevölkerung „gereinigt“ und zwangsgermanisiert werden. Dabei wurde die Rotunde von Juni 1940 bis Juli 1944 als „Gefangenen-Durchgangslager“ und Erschießungsstätte benutzt. Insgesamt wurden hier in der Zeit der deutschen Besatzung 6000 bis 8000 Menschen ermordet,[1] Als wir im Innenhof der Rotunde angelangt sind und Krzysztof mir etwas sagen will, bekommen wir beide einen Schreck: Es schallt unheimlich, und wir stellen uns vor, welche Geräusche hier entstanden sein müssen, als die Täter ihre Opfer - Juden und Nichtjuden, Alte, Junge, Männer, Frauen und viele, viele Kinder – quälten und ermordeten. Wir fliehen von diesem Ort des Grauens.
Erster Part der Tagung selbst ist heute eine ökumenische Meditation. Auf Anweisung von Rabbi Stas atmen wir tief durch, lockern die Glieder und schließen für eine Minute die Augen. Dann lesen wir in drei Sprachen – hebräisch, polnisch, deutsch – den Psalm 22:1-23, der da beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.“ Mir kommt es zu, den Text auf Deutsch zu verlesen.
Das Vormittagspanel steht unter der Fragestellung „Wie über Geschichte sprechen im Geist von Toleranz und Versöhnung?“ Immer wieder wird die Frage danach aufgeworfen, auf welche Art und Weise die Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse während des II. Weltkrieges aufbewahrt und weitergegeben werden können, welche Medien und Institutionen dazu am besten geeignet sind, welche Rolle die Kirchen spielen, wie es um das Verhältnis von Wissen und Emotionen/Empathie bestellt ist, und wie – sowohl zwischen Deutschland und Polen, aber auch innerhalb Polens selbst – mit den komplizierten Beziehungen zwischen Tätern und Opfern, Schuldigen und Unschuldigen bzw. deren Nachfahren umzugehen ist. So ist Joanna Sobolewska-Pyz, Vorsitzende des Vereins „Die Kinder des Holocaust“ in Polen, der Auffassung, es brauche keiner großen Theorien, um das Gedenken an diese schweren Zeiten wachzuhalten. Viel wirkungsvoller sei es, wenn Holocaust-Überlebende ihre Geschichte(n) oder die ihrer Nächsten erzählen. Paula Sawicka, die Vorsitzende des Vereins gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, spricht sich für eine Integration der jüdischen Geschichte in die des II. Weltkrieges aus: Sie sei integraler Bestandteil desselben und werde nur allzu oft noch separat behandelt, wenn nicht gar ignoriert. Mirosław Sawicki, 2005 Bildungsminister Polens, weist darauf hin, dass mehr Wissen über den Holocaust nicht unbedingt mehr Empathie für die Opfer bedeutet: Zuweilen sei dies genau umgekehrt. Das wird in der anschließenden Debatte aufgegriffen. Heutzutage spielen das Internet, moderne Musik und der Fußball eine entscheidende Rolle bei der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen, doch gerade hiermit würden in Polen oftmals Xenophobie und Antisemitismus verbreitet. Also müsse es darum gehen, diese Medien und Institutionen für humanistische Zwecke zu nutzen, was in Ansätzen bereits geschehe, so etwa mit der Bildungskampagne „Musik gegen Rassismus“ oder antirassistischen Kampagnen im Fußballstadion.
Nach Abschluss der Tagung fahren wir mit „Mazurka-Travels“ zurück Richtung Warschau. Dabei kommen wir wieder durch die Stadt Lublin, wo wir die Jeschiwa besuchen, die ihrer Zeit weltweit größte Talmudschule, die Jehuda Mair Schapira im Jahre 1930 gründete. Das imposante Gebäude blieb unzerstört, da es außerhalb des Gettos stand und von den Nazis für ihre eigenen Zwecke genutzt wurde. Von den Tausenden Bänden, die in der Bibliothek des Hauses standen, sind nur noch 5 vorhanden… Unser Mittagessen nehmen wir im Restaurant „Olive“ in der Beletage der Jeschiwa ein. Rabbi Stas gibt einen Trinkspruch aus auf Joanna Gwiazdecka für die gelungene Konferenz und ihre Fähigkeit, Menschen und Institutionen miteinander ins Gespräch zu bringen, die ansonsten nicht unbedingt miteinander in Kontakt stehen. Wir erheben das Glas auf sie. Ich komme ins Gespräch mit meiner Tischnachbarin. Sie stellt sich vor und erzählt mir ihre Geschichte: Ihr Name ist Jadwiga Gałązka, geboren ist sie irgendwann zwischen 1940 und 1942, und zwar im Getto Pinczów. Ihre Eltern versuchten, sie aus dem Getto zu „schmuggeln“. Während ihre Mutter und ihr Vater in Treblinka umgebracht wurden, überlebte Jadwiga. Sie kam zu Stiefeltern und erlebte dort eine schwere Kindheit und Jugend. Das Einzige, was sie von ihrer Mutter hat, so sagt sie, ist ein Bild, was diese gemalt hatte, mit einer Windmühle darauf. Das Bild hängt nun in ihrem Wohnzimmer. Dort sitzt Jadwiga oft, schaut die Mühle an und spricht so mit ihrer Mutter.
Wieder im Bus, wendet sich die Unterhaltung mehr und mehr einem ganz andern Ereignis zu: Unsere Reisegefährten aus Polen und Israel erklären uns, wie gut die deutsche Fußballmannschaft ist, und wir weisen darauf hin, dass unter der deutschen National-Elf einige Polen und Tschechen sind.
Abends verfolgen wir das WM-Finale im „Browar De Brasil“ in der ul. Marszałkowska: 1:0 für Deutschland gegen Argentinien. Deutschland ist Weltmeister.
Montag, 14. Juli 2014
Auf der Rückfahrt mit dem Zug von Warschau nach Berlin tausche ich mit meinen Abteilnachbarn, zwei Herren aus Schottland, Reiseimpressionen aus. Einer der beiden ist Professor für Architektur an der University of Edinburgh. Wir kommen auf das Verhältnis von Bildender Kunst und Architektur zu sprechen, und ich erzähle von Canaletto und der auch darauf beruhenden Restauration von Königsschloss und anderen Gebäuden im Zentrum Warschaus, die im II. Weltkrieg durch deutsche Truppen zerstört worden waren. „Well“, sagt der Architekt, „ein historisches Beispiel für Mehrfachbeziehungen von Original und Repräsentation. Eine gute Idee für meinen nächsten Vorlesungszyklus.“
[1] „Im Gebiet von Zamość wurden im Rahmen der »Aktion Zamosc« etwa 110.000 Polen, darunter 30.000 Kinder, aus 297 Dörfern ab November 1942 gefangen genommen, zur Zwangsarbeit bestimmt oder ermordet. Etwa 4.500 Kinder wurden nach rassischen Kriterien ausgewählt, und zur Zwangsgermanisierung ins Deutsche Reich geschickt. Viele der während der »Aktion Zamosc« Festgenommenen wurden bei Massenerschießungen in der Rotunde ermordet, genauso wie 1943, als die umliegenden Dörfer zerstört wurden.“ Quelle: www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1440/Die-Rotunde-von-Zamo%C5%9B%C4%87