Aus dem Editorial:
Der Vormarsch islamistischer Milizen im Irak und in Syrien steht seit einiger Zeit ganz oben auf der Tagesordnung internationaler Politik. Die Bildung einer Anti-IS-Allianz unter der Führung der USA wird begleitet von Forderungen nach verstärkten Kriegseinsätzen und Waffenlieferungen. Im Zusammenhang mit Zielformulierungen der Bundesregierung, eine »neue weltpolitische Verantwortung« übernehmen zu wollen, kann davon ausgegangen werden, dass uns solche Forderungen dauerhaft begleiten werden.
Für viel Diskussionsstoff sorgte auch die distanzierte Haltung der Türkei zur Anti-IS-Allianz. Der Titel dieser Ausgabe - Fantasie und Realität des Neo-Osmanismus – versucht das zugrundeliegende Spannungsverhältnis zu fassen. Sich selbst im Spieglein der Macht bewundernd, steuert die AKP-Regierung die Türkei geradewegs in den Strudel der Militarisierung und Konfessionalisierung, von dem fast die gesamte nahöstliche Region erfasst worden ist.
Hintergründe dieser Entwicklung in der Türkei beleuchtet der als politische Analyse nach den Präsidentschaftswahlen geschriebene Beitrag »Schließung der hundertjährigen Klammer«. Neben dem Status Quo der neo-osmanischen Ambitionen unter dem Kabinett des neuen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu wird auch die Positionierung der Oppositionsparteien erörtert. Ein Schwerpunkt liegt auf der Diskussion des »radikal-demokratischen« Ansatzes, der von der kurdischen Bewegung zusammen mit linken Kräften formuliert wird. Noch vor dem Angriff auf Kobanê und den Massenprotesten geschrieben, kündigt der Beitrag eine autoritäre und konfessionelle Zuspitzung in der Türkei an. Die Mobilisierung bewaffneter islamistisch-nationalistischer Kräfte während der Massenproteste im Kampf um Kobanê vermittelt einen Vorgeschmack auf diese Dynamik.
Der entschlossene Verteidigungskampf von Kobanê bewirkte schließlich, dass parallel zu den Forderungen nach internationalen Kriegseinsätzen die Frage nach den adäquaten Mitteln internationaler Solidarität auch in der kritischen Öffentlichkeit so kontrovers wie lange nicht mehr geführt wurde. Die spät und zögerlich erfolgte Unterstützung von Kobanê durch Bombardements der USA fachte die Debatte weiter an. Murat Çakır und Errol Babacan nehmen die Frage der internationalen Solidarität in ihrem Beitrag auf. Sie thematisieren Rojava als ein Gegenmodell zur Konfessionalisierung und Militarisierung im nahöstlichen Raum und rufen zu einer solidarischen Positionierung mit den Kämpfenden auf. Zugleich machen sie auf die kriegspolitischen Fallstricke der lauter gewordenen Forderungen nach deutschen Waffenlieferungen und Kriegseinsätzen aufmerksam.
Die distanzierte Haltung der türkischen Regierung zur Anti-IS-Allianz scheint diejenigen zu bestätigen, die im politischen Islam und den neo-osmanischen Ambitionen eine Abwendung vom Westen zu erkennen meinen. Axel Gehring wendet in seinem Beitrag ein, dass diese Annahme wenig fundiert ist. Einerseits bestehe eine nach wie vor enge und vertraglich fixierte Anbindung der Türkei an die EU. Andererseits stehe der politische Islam nicht per se in einem Widerspruch zur EU. So wie Europa für den Kemalismus einen positiven kulturellen Bezugspunkt darstellte, um die Republik auf einen kapitalistischen Entwicklungspfad zu bringen, stellte es für ein Bündnis aus liberalen, konservativen und islamistischen Kräfte einen ebenfalls positiven Bezugspunkt dar, in diesem Fall jedoch, um eine markt-liberale Öffnung in Abgrenzung zum Kemalismus zu erreichen. Das Bündnis stehe auch heute noch für die Aufrechterhaltung der Beziehungen zur EU.
Schließlich nimmt der Beitrag von Özgür Genç und Ismail Karatepe nochmal die Frage auf, wie es der AKP trotz aller Korruptionsvorwürfe und Proteste gelingt, breite Unterstützung aus der Bevölkerung zu erhalten. Der Fähigkeit, den Konsens unterschiedlicher Klassen und sozialer Kräfte organisieren zu können, stehe eine Ausweitung repressiver Mittel zur Unterdrückung oppositioneller Gruppen entgegen. »Erdoğans Dilemma« bestehe mehr als ein Jahr nach dem Juni-Aufstand weiterhin in dieser verstärkten Repression, insofern sie die Konsolidierung einer neuen Opposition herbeiführen oder gar forcieren könne.