RLS: Sergij, du bist sehr oft in der Ostukraine gewesen, auch nach dem Sturz von Janukowitsch. Du warst damals einer der wenigen ukrainischen Intellektuellen, die sich am Anfang der militärischen Eskalation in den Osten getraut haben. Was bedeutet die Ostukraine für dich im gegenwärtigen Kontext, auch im Kontext des Krieges?
Sergij Zhadan: Nein, es sind viele, die dorthin fahren. Wir sind dort auch vielen anderen Musikern begegnet. Aber die meisten, die hinkommen, sind tatsächlich ehrenamtliche Helfer und Journalisten. Wenn ich ehrlich bin, war ich gar nicht so oft da – im April und Mai und jetzt erst wieder. Wir hatten in der letzten Zeit einige Konzerte in der Ostukraine. Wir wollen das auch weiter machen. Das ist meine Heimat, ein Teil meines Landes. Vielleicht ist der erste Grund doch wichtiger für mich. Ich bin dort aufgewachsen, es betrifft mich persönlich. Deswegen ist meine Haltung zum Donbass vielleicht auch zu persönlich, ja subjektiv. Es fällt mir schwer, diese Städte als einen Teil der allgemeinen Geografie zu begreifen. Aber das muss man.
Man muss über die politischen Probleme reden, die nach den Wahlen nirgends verschwunden sind, sondern sich eher noch mehr kristallisieren und verdeutlichen. Über soziale Probleme, die, meiner Meinung nach, in der nächsten Zeit nur noch schärfer werden. Ich glaube, wir alle sind heute mit diesem Raum verbunden. Diejenigen, die dort leben, die, die weggegangen sind, und die, die dort kämpfen.
Von der Entwicklung der Situation im Osten hängt auch die allgemeine Entwicklung der Ukraine ab, das ist klar. Man darf nicht einfach die Augen zukneifen und tun, als gäbe es keinen Donbass, als könne man einfach so den Parlamentarismus entwickeln und über «die Irreversibilität der europäischen Wahl» reden. Einige versuchen es trotzdem.
RLS: Kann und wenn ja wie «der Osten» zur «Großen Ukraine» gehören?
Zhadan: Es wäre ideal, wenn ihm dieselben Funktionen, Rechte und was wichtig ist auch dieselben Verpflichtungen zu teil würden, wie auch den anderen Regionen. Aber im Kontext der jetzigen Ereignisse kann ich mir nicht vorstellen, welche Richtung das alles nehmen wird. Ich glaube, die «Große Ukraine» müsste sich jetzt größte Mühe geben, um die Menschen in der Ostukraine zu unterstützen und zu verteidigen, die überhaupt noch erreichbar sind.
RLS: Wie sind deine Eindrücke von Krywyj Rih? Die dortigen Bergarbeiter vertreten eine radikale Antikriegsklassenposition. Sie bestehen darauf, dass die Bergarbeiter von Krywyj Rih und Donezk sich unabhängig von Kiew und Moskau verständigen können. Hat dies eine Bedeutung für die Ukraine?
Zhadan: Es war sehr spannend, Jurij Samojlow [einen der Leiter der Bergarbeitergewerkschaften in Krywyj Rih – RLS] kennenzulernen. Man hört ständig: wo sind die wahren ukrainischen Linken? Ich finde, er ist es – wahr, ukrainisch und links. Ich hoffe, wir werden auch weiter den Kontakt behalten und zusammenarbeiten. Und zur möglichen Verständigung mit den Bergarbeitern aus Donezk – vielleicht ist es tatsächlich eine Chance für den künftigen Dialog. Wer sonst könnte den führen? Das Militär? Es wird bestimmt nicht die Vollmacht haben. Die Politiker? Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Wunsch danach haben – sie wollen eher (ver)handeln. Die Intellektuellen? Sie sind im Prinzip dialogunfähig. Es bleiben nur die Bergarbeiter, Metallurgen, Mediziner, Lehrer.
RLS: Dein neues Album heißt «Kämpfe für sie» und das Titellied erschien praktisch während der Majdankämpfe, welche ja auch Kämpfe um die Ukraine waren.
Zhadan: Nein, es wurde noch im September letzten Jahres geschrieben. Und «Das Land» [Lied von der Prekarität der sog. Dritten Welt mit dem Refrain «Ich bleibe hier, es ist mein Land» – RLS] ist vor anderthalb Jahren geschrieben worden. Wir betreiben keine Konjunkturschritte.
RLS: Und jetzt, nach fast einem Jahr, wenn das Land wieder von der Revolution enttäuscht und vom Krieg entkräftet ist – hat der soziale Kampf immer noch Sinn? Wer soll kämpfen und gegen wen?
Zhadan: Ich glaube, wir werden künftig dieser Frage nicht entkommen können. Man kann ewig lange die Brücken blaugelb streichen, ihr Zustand verbessert sich davon aber nicht. Man muss sie reparieren. Aber abgesehen von den Ergebnissen der Parlamentswahlen und dem «Enthusiasmus» mit dem die jetzige Regierung mögliche Reformen durchführen möchte, nicht davon zu reden, was dies für Reformen sein werden, wird nichts repariert, nehme ich an. Deswegen bleibt der Kampf aktuell. Und ich würde sagen nicht gegen jemanden, sondern für die eigene Person, für einen eigenen Raum. Und für eine eigene Freiheit, auch wenn dies jetzt ganz schön pathetisch klingt.
RLS: Hat in diesem Kampf auch die linke Bewegung ihren Platz? Wie könnte sie mitkämpfen – als Partei, Arbeiterbewegung, Kunst, Literatur?
Zhadan: Ich bin nicht bereit, von der Partei zu reden, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie in der Ukraine eine ehrliche politische Kraft entstehen und funktionieren kann ohne die Finanzierung derjenigen, gegen die ihr politisches Programm gerichtet ist. Aber vielleicht ist es auch möglich. Andererseits, um zum Beispiel eine illegale Bebauung zu stoppen, braucht man keine Partei. Oder um die Kommunalbehörden zu zwingen, ihre Aufgaben auszuführen. Letztendlich kann auch ein Intellektueller zur Demo kommen, auch wenn sie nicht besonders «intellektuell» ist.
RLS: Kannst du dir andere – nichparteiliche – Perspektiven der ukrainischen Linken vorstellen? Ist die linke Idee für junge Leute heute noch interessant?
Zhadan: Ich vermute, dass ukrainische Linke auch in Zukunft ziemlich vielen Schwierigkeiten begegnen werden – die linke Idee assoziieren die meisten Ukrainer immer noch mit dem sowjetischen Stalin- und Brezhnew-Nachlass, mit den Simulantenparteien wie der Kommunistischen oder der Sozialistischen Partei der Ukraine, mit der «fünften Kolonne» oder ähnlichem. Zu erklären und zu zeigen, dass eine neue Linke Teil des politischen Lebens unseres Landes sein könnte und sein sollte, dass ihre Tätigkeit der Lösung der Probleme dieses Landes dient und nicht den Spekulationen mit ideologischen und historischen Sprüchen – darin liegt der Sinn der linken Bewegung von heute.
Ob sie die Jugend interessiert? Na, wie auch immer, einige haben Interesse, insbesondere heute, wo der revolutionäre Prozess noch nicht ganz zu Ende ist. Er verlangt aber schon wieder neue Kampfformen und –methoden.
RLS: Welche Erfahrungen hast Du mit der deutschen Linken gemacht?
Zhadan: In der letzten Zeit eher negative – sie haben meistens die putinsche Rhetorik von der «von den Amis bezahlten Revolution» wiederholt. Aber ich treffe oft auch ganz adäquate Leute – die Anarchisten in Berlin oder Stockholm, die gegen den russischen Imperialismus auftreten.
RLS: Kann man diese Situation irgendwie ändern?
Zhadan: Am besten wäre natürlich, dass sie selbst nach Donbass kämen und sähen, was dort passiert. Ich meine gar nicht die Territorien, die von den Separatisten kontrolliert werden, ich meine den Donbass, der von den Separatisten befreit ist. Und insgesamt müssen wir mehr sprechen und erklären. Wer wirklich was verstehen möchte, wird schon zwischen Information und Propaganda unterscheiden können. Heute ist leider die Propaganda am Gewinnen.
RLS: Vielen Dank für das Gespräch.
Serhij Zhadan, 1974 im ostukrainischen Starobilsk geboren und in Charkiw aufgewachsen, hat mit Unterstützung der RLS sein neues Album aufge-nommen. Nachzuhören unter: «Kämpfe für sie» Er hat gerade den Brücke Berlin Literatur und Übersetzungspreis gewonnen.
Übersetzung: Nelia Vakhovska