Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte Zimmerwald – eine Rückeroberung

100 Jahre Zimmerwalder Konferenz - Hinweis auf ein Buch und eine Ausstellung

Das neu erschienene Buch „Zimmerwald und Kiental – Weltgeschichte auf dem Dorfe“ ist eine umfassende und klug aufgebaute Gesamtdarstellung der beiden internationalen Konferenzen von 1915 und 1916, bei denen, mitten im Völkermorden des Ersten Weltkriegs, drei Dutzend Vertreterinnen und Vertreter von Europas Arbeiterparteien eine Rückbesinnung auf den Internationalismus versuchten und einen Weg zum Frieden skizzierten.

Das beim Chronos-Verlag erschienene Werk, herausgegeben von Bernard Degen und Julia Richers, ordnet das Geschehen ein in den weltgeschichtlichen Zusammenhang, zeigt, wie die Zweite Internationale 1914 an der Burgfriedenspolitik zerbrach und wie oppositionelle Kräfte unter schwierigsten Umständen erneuten grenzübergreifenden Kontakt suchten. Es zeigt auch die Wirkungen der Konferenz – etwa die gute Aufnahme, die das Zimmerwalder Manifest bei der Schweizer Sozialdemokratie fand. Und es schildert den Umgang mit der Konferenz in den späteren Jahrzehnten.

Sowohl in der Schweiz als auch in der Sowjetunion sah man die Revolution von 1917 als mehr oder weniger direkten Ausfluss der „Zimmerwalder Bewegung“, wobei man sich – ebenso folgerichtig – auf Lenin konzentrierte. Aus einfachem Grund: Die übrigen „Zimmerwalder“ aus Osteuropa hatten – mit einer Ausnahme – den stalinistischen Terror nicht überlebt und waren aus den sowjetischen Geschichtsbüchern ausradiert. Dies gilt übrigens auch für den Schweizer Fritz Platten, der im April 1917 den „Lenin-Zug“ organisiert hatte und 1923 in die Sowjetunion übersiedelte. Auch er wurde Opfer der „Säuberungen“: 1938 verhaftet, 1939 verurteilt und deportiert, 1942 in einem Arbeitslager erschossen.

Diese gewohnheitsmässige Gleichsetzung von Zimmerwald mit Lenin und der Oktoberrevolution korrigiert der Band. Er porträtiert auch die weniger brachialen und weniger berühmten, nichtsdestotrotz wichtigen Persönlichkeiten der Konferenz und des Umfelds. Eine zentrale Figur war etwa Angelica Balabanova als vielsprachige Übersetzerin, Protokollführerin und politische Sekretärin, die Lenin nach Russland folgte – und die Sowjetunion 1921 desillusioniert verliess. Auch der Italiener Oddino Morgari und der Franzose Alphonse Merrheim spielten eine bedeutende Rolle bei der Konferenz und folgten später ebenso wenig Lenins, schon gar nicht Stalins Kurs. Henriette Roland Holst konvertierte nach der x-ten Kursänderung der Komintern 1927 zum religiösen Sozialismus…

Das alles – und auch die Ausstellung in Schwarzenburg – erlaubt einen frischen und breiteren Blick auf das Geschehen und eine angemessene Würdigung auch der Leistung von Robert Grimm, dem Organisator des Treffens. Und es entspricht einer eigentlichen Rückeroberung: „Zimmerwald“ ist nicht der Ausgangspunkt der Spaltung der Sozialdemokratie, der Ursprung des Stalinismus gar... Sondern im Gegenteil ein Versuch, Zerbrochenes wieder zusammenzuführen. Dem von Bernard Degen und Julia Richers einleitend geäusserten Wunsch kann man sich jedenfalls anschliessen: „Wir hoffen, dass ein regionales Publikum Zugang zur globalen Bedeutung der auf dem Lande lokalisierten Ereignisse findet, während für die internationale Leserschaft wohl eher die regionalen Hintergründe neu sein werden.“ Genau! Zumal die Autorschaft auf unbenutzte Quellen zurückgreift, die unter anderem Informationen zur Zimmerbelegung enthalten…

Christoph Schlatter

Bernard Degen und Julia Richers (Hg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe, Chronos-Verlag, Zürich 015. 280 Seiten, 38 EUR.

Ausstellung „1915 – Zimmerwalder Konferenz“ im Regionalmuseum Schwarzwasser, Leimern 5, 3150 Schwarzenburg, www.regionalmuseum.ch, Öffnungszeiten: sonn- und feiertags 14-17 Uhr und auf Anfrage, noch bis 3. November.

Manuskript eines Textes, der zuerst in der Schweizer Gewerkschaftszeitschrift VPOD-Magazin erschienen ist - und als PDF vorliegt.