Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015

"Das sehr angenehm zu lesende Buch ist ein Beitrag zur Ideengeschichte der modernen Linken, eine Untersuchung dazu, wie die Ideen des Poststrukturalismus überhaupt auf den Buchmarkt kamen..."

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Hat Theorie heute noch eine Ausstrahlung? Ist die Figur des Intellektuellen mit einem Versprechen versehen? Das Buch von Philipp Felsch bietet Anlass, über diese Fragen nachzudenken, denn es behandelt einen Zeitraum, in dem Theorie und Intellektuelle definitiv höher gehandelt wurden als heute. Es erzählt die Geschichte des Merve-Verlages und vor allem seiner beiden HauptprotagonistInnen Peter Gente (1936–2014) und Heidi Paris (1950–2002)

Felsch erzählt chronologisch, beginnend mit der Herkunft und dem Studium von Gente. Dieser ist vielseitig belesen und gründet 1970 den Verlag als Kollektivprojekt. Beteiligt ist auch Merve Lowien, mit der Gente seit 1962 ein Kind hat und die anlässlich ihres Ausstiegs aus dem Verlagsprojekt den bekannten Text Weibliche Produktivkraft – gibt es eine andere Ökonomie? Erfahrungen aus einem linken Projekt (Berlin 1977) publiziert. In ihm reflektiert sie das Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Die Gruppendynamik ist wieder einmal stärker als alle Ideologie. Weitergehende Ansprüche des Verlagskollektivs scheitern – wie in anderen Projekten auch – nach einigen Jahren und der Verlag wird dann für fast dreißig Jahre vor allem zu einem manischen und erfolgreichen Zweipersonen-unternehmen von Gente und Paris, die sich 1974 kennenlernen und ein Paar werden.

Felsch montiert neben seine fundierten Erzählungen aus dem Inneren des Verlages sowie seines Umfeldes die Entwicklungen aufdem Buchmarkt und die sozialen Konflikte und dissidenten Organisationsformen dieser Jahre (Studierendenbewegung, alternative Linke der 1970er Jahre). Hauptzeitraum sind die 1970er, das nachfolgende und das vorhergehende Jahrzehnt werden nicht ganz so ausführlich geschildert. Zu Beginn kommen etliche Einnahmen des Verlages aus der Nutzung der verlagseigenen Druckmaschine zur Herstellung von Raubdrucken. Merve publiziert im Verlagsprogramm zu Beginn vor allem marxistische, bis 1977 auch operaistische Titel und beginnt ab Mitte der 1970er Jahre zunehmend Titel der damals in Deutschlanderst langsam bekannt werdenden Denker der Postmoderne – Foucault, Guattari, Deleuze, Baudrillard und Lyotard – zu veröffentli-chen. Bald wendet man sich dem Kunstbereich zu, dem nun vom Verlag zusehends die Leitfunktion, was Theorie angeht, zuge-schrieben wird. Merve schwimmt auf der Welle der Abkehr vom Marxismus, ja erzeugt sie mit: Das Paradigma der Produktion wird von dem der Kommunikation abgelöst, statt des Ergebnisses wird der Prozess wichtig und Minderheiten und „Randgruppen“ werden auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt der spätindustriellen Gesellschaft in den Blick genommen. Statt Konfrontation propagiert man nun den Ausstieg, statt des Großen das Kleine, statt Klassenkampf Ökologie und noch mehr das „Patchwork der Minderheiten“. All diese Topoi haben Eingang in das Theorierepertoire der antagonistischen Linken gefunden und zeigen bis heute Wirkung. Der Übergang zur Kunst bildete damals nur die Parallele zum Gang durch die Institutionen der undogmatischen oder auch den periodisch wiederkehrenden Gang in die Bildungsinstitutionen der reformistischen Linken. Ab 1979 erscheint dann in der Merve-Galaxie nach zweijähriger Vorbereitung Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, um sich dann auf eine mäandernde Wanderung durchverschiedene herausgebende Verlage zu begeben.

Quelle für die Forschung von Felsch ist das umfangreiche Velagsarchiv, das Gente angesichts seiner minimalen Rente für 100.000 Euro an das Zentrum für Kunst und Medientechnologiein Karlsruhe verkaufte. Mit dieser Summe finanzierte er seinen Lebensabend, den er ab 2007 in Thailand verbrachte.

Die vollständige Rezension erschien zuerst in der Ausgabe 16 von Sozial.Geschichte Online und ist unten als PDF-Dokument verfügbar.

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, Verlag C.H.Beck, München 2015, 328 Seiten, 24,95 EUR