Die Organisation Amnesty International erhebt den Vorwurf schwerer Kriegsverbrechen gegenüber der Autonomieverwaltung in Rojava. Die USA und ihre Verbündeten im Syrien-Krieg werden aufgefordert, Konsequenzen zu ergreifen. Der Vorwurf kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die Konfrontation zwischen den regionalen und globalen Kräften auf syrischem Territorium eine weitere Wende erfahren hat, die Rojava zu grundlegenden Entscheidungen nötigen könnte.
Nach dem Kampf um Kobanê gab es einen deutlichen Aufschwung internationaler Solidarität für das nordsyrische Autonomiegebiet Rojava. Inmitten ethnisch und konfessionell aufgeladener Kriege im Nahen Osten barg Rojava ein Gleichheitsversprechen, für das es sich lohnte, einzutreten.
Die Organisation Amnesty International (Amnesty) erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die von der Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Autonomieverwaltung. Sie missachte das Völkerrecht in einer Weise, die Kriegsverbrechen gleichkomme. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sollen Dörfer niedergerissen, arabische und turkmenische aber auch kurdische Einwohner willkürlich vertrieben und sogar mit Exekutionen gedroht haben.
Der Bericht erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem der Bürgerkrieg durch die direkte militärische Intervention Russlands zugunsten der syrischen Regierung eine weitere Wende erfahren hat. Russlands Intervention verschärft die Konkurrenz mit der von den USA angeführten internationalen Allianz über die Bestimmung der Zukunft Syriens. Sie verschärft auch die Konkurrenz über die Bestimmung der Zukunft Rojavas, dessen Status prekär ist.
Möglicherweise an einem politischen Wendepunkt angekommen, konterkariert der Bericht nun die politisch-ethische Grundlage der internationalen Solidarität. Er sorgt für Irritationen und kann die Handlungsoptionen Rojavas bei der Bestimmung seiner Zukunft verringern. Umso dringlicher ist es, diesen Bericht, in dem die USA und ihre Verbündeten zu Maßnahmen gegenüber Rojava aufgefordert werden, vor dem Hintergrund der aktuellen Situation zu prüfen.
Antwort auf Amnestys Vorwürfe
Rojava besteht aus einem schmalen Landstreifen im Norden Syriens, der etwa drei Millionen Menschen beherbergt. Davon sind etwa die Hälfte Bürgerkriegsflüchtlinge. Ihre Versorgung wird weitgehend abgeschnitten von der restlichen Welt aus eigener Kraft mit äußerst knappen Mitteln geleistet. Internationale Hilfen sind spärlich. Sie werden hauptsächlich von humanistischen und linken Privatinitiativen, die materielle Hilfen und Delegationen schicken, von Einzelpersonen, die sich den Verteidigungskräften anschließen, sowie einer Handvoll professioneller Hilfsorganisationen geleistet. Das Embargo von Seiten der türkischen Regierung und immer wieder auch der Autonomieverwaltung des irakischen Kurdistan erschweren oder verunmöglichen diese Hilfen weiterhin.
Dass Rojava überhaupt zu einem Anziehungspunkt für internationalistische Solidarität geworden ist, steht in Verbindung mit seiner politischen und sozialen Ausrichtung. Inmitten des Bürgerkriegs wurden unter Führung der PYD in drei Kantonen Verwaltungseinheiten aufgebaut, die ihre Autonomie vom syrischen Staat erklärt haben. Die syrische Regierung akzeptierte diese Deklaration, da sie keine weiteren Fronten aufmachen wollte und die Autonomie in Rojava als die geringste Gefahr für ihre eigene Zukunft ansah. Die PYD entschied sich für eine Art «Nichtangriffspakt» mit der Regierung, da sie international isoliert und von nahezu allen anderen oppositionellen Kräften angefeindet wurde.
In dieser spezifischen Konfliktlage konnte die PYD sich auf den Aufbau autonomer Verwaltungsstrukturen konzentrieren. Die Strukturen sind ebenso wie die Selbstverteidigungskräfte charakterisiert durch Geschlechterquoten und Repräsentation von Bevölkerungsgruppen entlang ethnischer beziehungsweise religiöser Zugehörigkeit. Dorf-, Stadtteil-, Stadt- und Regionalräte sollen eine hohe Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsfindungen ermöglichen. Preiskontrollen, rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit und kostenlose Schulbildung in verschiedenen Sprachen sind weitere Kennzeichen des für das Autonomiegebiet erarbeiteten Sozialpakts. Unter äußerst widrigen Bedingungen wurde dazu übergegangen, die Versorgung der Bevölkerung auf der Grundlage von Produktionsgenossenschaften zu organisieren.
Der Bericht von Amnesty stellt die Praxis der Autonomieverwaltung nun grundlegend in Frage. Laut Bericht wurden Kriegsverbrechen begangen, die aus gezielten Racheakten an Dorfbewohnern bestehen, die der Sympathie oder Verbindung mit dem Islamischen Staat (IS) verdächtigt wurden. Nach eigenen Angaben besuchte Amnesty 14 Dörfer mit Billigung und unter dem Schutz der Autonomieverwaltung.
Die Verbrechen sollen vor allem geschehen sein, als die YPG/YPJ im vergangenen Sommer ein bislang vom IS gehaltenes Gebiet zwischen den Kantonen Kobanê und Cizîrê freikämpfte. Untersucht worden sei auch eine weitere Region, die strategische Bedeutung als Verbindungsroute zwischen den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak hatte. Das Gebiet wurde nach schweren Gefechten im Februar 2015 von den YPG/YPJ eingenommen.
Bereits im September legte Amnesty einen Bericht über die Gefängnisse in Rojava vor. Der Autonomieverwaltung wurden auf der Grundlage von Interviews mit Häftlingen, die Amnesty ungehindert führen konnte, willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen und unfaire Gerichtsverfahren vorgeworfen. Dabei sollen sich nach Angaben der Autonomieverwaltung bei einer Bevölkerung von etwa drei Millionen insgesamt 400 Häftlinge in Gefängnissen befunden haben. Beweise für Folter gab es keine. Einzelne Aussagen reichten Amnesty aus, um generalisierende Vorwürfe zu erheben.
So auch im neuen Bericht. Er stützt sich auf Zeugenaussagen, die durch Satellitenbilder und Fotos erhärtet werden sollen. In einem speziellen Fall sollen die Bilder belegen, dass von 225 im Juni 2014 zu erkennenden Gebäuden eines Dorfes ein Jahr später nur noch 14 erhalten waren. Nach Aussagen von Bewohnern sollen die Gebäude von der YPG/YPJ zerstört worden sein. Allerdings zeigen die Bilder nicht, wie, von wem und wann genau die Häuser zerstört wurden. Andere Beweise für die weitgehenden Vorwürfe an die YPG/YPJ, sie hätten in einem Fall sogar damit gedroht, Bewohner bei lebendigem Leib zu verbrennen, wenn sie ihr Haus nicht verließen, werden nicht vorgelegt. Auch die Asayish, die Polizeikräfte Rojavas, sollen an Vertreibungen beteiligt gewesen sein, die Amnesty als koordinierte Kampagne zur Kollektivbestrafung kennzeichnet.
In dem Bericht kommen die Asayish und die YPG/YPJ, die auch eine gesonderte Stellungnahme veröffentlicht haben, ebenfalls zu Wort. Sie geben an, dass sie bei Vorliegen von Informationen über Kollaborationen der Bewohner mit dem IS diese durchaus zum Verlassen ihrer Häuser aufforderten. Sie begründen solche und andere Evakuierungen mit Kampfhandlungen und Sicherheitsvorkehrungen, bestreiten jedoch, gezielt Häuser oder sogar ganze Dörfer zerstört zu haben, nur weil die Bewohner ihnen nicht wohlgesonnen waren.
Fassen wir die Situation zusammen. Rojava befindet sich in einer Kriegssituation, Bombenanschläge stehen permanent auf der Tagesordnung, ganze Bevölkerungsgruppen stehen unter der Bedrohung, eliminiert zu werden. Kampfhandlungen können dazu führen, dass ganze Regionen evakuiert werden müssen. Auch bei dem Kampf um Kobanê hatten die Verteidigungseinheiten Hunderte Dörfer so wie auch die Stadt Kobanê weitgehend evakuiert, um sich und die Bewohner gegen den anrückenden IS besser verteidigen und schützen zu können. Daneben sind die Verwaltungsstrukturen sicherlich nicht ausgereift. Es ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass in einer solchen Situation auch durch die YPG/YPJ Rechte Einzelner verletzt werden, gegen deren Willen gehandelt wird, so wie es auch sonst zu Rechtsbrüchen kommen kann.
Sicherlich müssen alle diesbezüglichen Aussagen ernst genommen werden. Doch Amnesty erhebt die Aussagen ihrer Interviewpartner zu Tatsachen mit generalisierenden Implikationen, während sie die Aussagen der YPG/YPJ offenbar nur pro forma in den Bericht aufgenommen hat. Denn in der abschließenden Gewichtung kommen sie nicht mehr zum Tragen. Einseitig und ohne weitere Möglichkeit der Prüfung spricht Amnesty von koordinierten Vertreibungskampagnen und gelangt zu dem Vorwurf eines grausamen, rücksichtslosen und systematischen Kriegsverbrechens.
Aus dem Munde von Lama Fakih, Senior Crisis Advisor at Amnesty, hört sich das dann so an:
«In its fight against IS, the Autonomous Administration appears to be trampling all over the rights of civilians who are caught in the middle. We saw extensive displacement and destruction that did not occur as a result of fighting. This report uncovers clear evidence of a deliberate, co-ordinated campaign of collective punishment of civilians in villages previously captured by IS, or where a small minority were suspected of supporting the group.»
Schließlich mündet der Bericht in der Aufforderung an
«all states supporting the Autonomous Administration or co-ordinating with it in military operations, such as those that form part of the US-led coalition fighting IS in Syria, to: Publicly condemn unlawful demolitions and forced displacement practices that violate international humanitarian law; take urgent measures to ensure that the provision of military assistance, including military co-ordination with, the Autonomous Administration is not being misused to commit violations of international humanitarian law, including unlawful house demolitions and forced displacement.»
Der Bericht appelliert also direkt an die «US-led coalition» Konsequenzen zu ergreifen. Bevor nun auf diese Forderung eingegangen wird und eine abschließende Bewertung des Berichts erfolgt, ist es notwendig, sich die aktuelle Lage Rojavas im syrischen Bürgerkrieg vor Augen zu führen. Hierfür ist es wiederum auch vor dem Hintergrund der jüngeren Intervention Russlands angebracht, eine Einschätzung der Syrienpolitik der USA vorzunehmen. Schließlich führen die USA nicht nur die genannte Koalition an und bilden so einen Hauptadressaten von Amnesty, sie sind auch weiterhin der mächtigste, wenn auch ganz sicher nicht der einzig bestimmende Akteur im Nahen Osten.
Das globale Schlachtfeld Syrien
Man muss kein Unterstützer der syrischen Regierung sein, um festzustellen, dass parallel zum sozialen und demokratischen Aufstand in Syrien das Vorhaben eines regime change durch die USA verfolgt wurde. Die demokratische Opposition ist zu einem sehr frühen Zeitpunkt zwischen den Mühlen der syrischen Regierung und ihren vom Ausland unterstützen Gegnern zerrieben worden. Das US-amerikanische Ziel des regime changes besteht derweil bis heute fort. Ihre Aktivitäten richteten sich zunächst auf den Aufbau einer Opposition im Ausland unter der Führung der syrischen Muslimbruderschaft (Syrischer Nationalrat) und der Ausrüstung der Freien Syrischen Armee (FSA). Unter dem Label «Freunde Syriens» schmiedeten sie eine internationale «Anti-Assad Allianz», deren Kern von Mitgliedern der NATO und den Golfstaaten gebildet wird. Parallel zur Aufrüstung der verbündeten Opposition haben die «Freunde Syriens» ein UN-Mandat angestrebt, um Syrien so wie Libyen von der Luft aus zu bombardieren.
Der Plan ging nicht auf, da Russland und China mehrfach Veto im Sicherheitsrat einlegten. Für Russland hat Syrien ebenso wie für die «Freunde Syriens» eine strategische Bedeutung. In Syrien befindet sich die einzige Militärbasis Russlands außerhalb der ehemaligen Sowjetrepubliken, mit einem Zugang zum Mittelmeer. Diese Militärbasis und daneben wohl auch Gasvorkommen im Mittelmeer spielen eine Rolle bei ihrem Engagement.
Doch weit mehr als solche konkreten Interessen steht die Frage im Raum, wer die Vorherrschaft über die Grenzen, Märkte, Arbeitskräfte und natürlichen Ressourcen des Nahen Ostens ausübt. In dieser Frage hat sich eine eindeutige Polarisierung herausgeschält. Russland ist mit Syrien und Syrien wiederum mit der libanesischen Hisbollah und dem Iran verbündet. Zusammen bilden sie in der Nahostregion ein Gegengewicht zu den hauptsächlichen Verbündeten der NATO – Israel und die Golfstaaten. Der Irak ist dagegen gespalten und bewegt sich zwischen den Polen.
Im Angesicht einer Auflösung der Polarisierung zugunsten der NATO und einer Zurückdrängung Russlands im Nahen Osten, folglich auch einer Verschiebung im globalen Kräfteverhältnis, hat Russland eine internationale Intervention aus der Luft verhindern können. Die indirekten Interventionen auf dem Boden konnte es dagegen nicht verhindern.
Trotz der militärischen und finanziellen Fördermittel der «Freunde Syriens» für ihre Verbündeten konnte die syrische Regierung bis heute überdauern. Zum einen erhält sie offensichtlich weiterhin Unterstützung von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung. Diese Tatsache ändert selbstverständlich nichts an einer anderen Tatsache, dass die syrische Regierung nämlich eine Diktatur darstellt und einen weitgehend friedlichen Aufstand mit massiver Gewalt niederschlug. Sie widerspricht aber den Voraussagen eines schnell zu erwartenden Kollapses der Regierung, da sie die übergroße Mehrheit der Bevölkerung gegen sich habe. Zum anderen intervenierten die libanesische Hisbollah und der Iran und verhalfen so zum Aufschub eines militärischen Zusammenbruchs der syrischen Regierung unter dem Druck der einströmenden Dschihadisten aus aller Welt.
Das Aufkommen und Erstarken der Dschihadisten erfolgte indes offenbar nicht unbedingt unter der Kontrolle aber mit Duldung und Wohlwollen aller «Freunde Syriens» – sehr wohl auch der Westlichen -, deren verdeckte Waffenlieferungen ebenfalls in die Hände von Dschihadisten gelangten. Nach einem bald fünfjährigen Krieg gegen eine zermürbte syrische Armee befanden sich diese Dschihadisten, die das oppositionelle Feld weitgehend dominieren, auf dem Vormarsch. Der direkte Eintritt Russlands in das Kriegsgeschehen zugunsten der syrischen Regierung hat den Kollaps nun neuerlich verhindert. Russlands Eintritt limitiert insgesamt die Handlungsfreiheiten der «Anti-Assad Allianz», da er sich gegen alle Gegner der syrischen Regierung richtet. Darunter befinden sich der IS aber auch die Al-Nusra-Front (Al-Kaida-Ableger in Syrien) sowie von den Golfstaaten und der Türkei direkt unterstützte und von führenden US-Medien zeitweise hofierte Gruppen mit islamistischer Agenda wie die Ahrar ash-Sham.
Mit Beginn der russischen Bombardements erfuhr die Weltöffentlichkeit nebenbei, dass – nach amerikanischen Medienberichten einige Tausend - von der CIA ausgerüstete Kämpfer in Syrien agieren. Die CIA-liierten Kämpfer wurden von russischen Kampffliegern in einem Gebiet getroffen, in dem keine Kämpfe mit dem IS stattfanden. Folglich waren diese Kämpfer gegen die syrische Regierung eingesetzt und nicht gegen den IS. Ein Tatbestand, den die USA bisher für gewöhnlich abgestritten haben. Frühere Berichte über Waffenlieferungen und Geheimprogramme des CIA wurden somit bekräftigt. Als Reaktion auf die Intervention Russlands haben Saudi-Arabien und Katar derweil angekündigt, die Unterstützung für ihre Verbündeten in Syrien auszubauen.
Rojava zwischen den Fronten
Nun unterhält Russland diplomatische Beziehungen zu Rojava, das wiederum eine andere Haltung gegenüber Russland einnimmt als die USA und die diversen «Rebellengruppen». Salih Muslim, Co-Vorsitzender der PYD, begrüßte die russische Intervention. Zum einen werde die Türkei dadurch weiter abgehalten, militärisch gegen Rojava vorzugehen. Zum anderen hat Muslim wiederholt darauf hingewiesen, dass die PYD zwar für ein demokratisches Syrien und den Abgang Bashar al-Assads eintritt. Der Sturz der syrischen Regierung dürfe jedoch nicht durch Islamisten geschehen. Dies würde zu einem viel größeren Desaster führen, als ohnehin der Fall ist. Damit weicht die PYD in einem wichtigen Punkt von der Grundlinie der «Anti-Assad Allianz» ab. Letztere betreibt in erster Linie den Sturz der syrischen Regierung, auch wenn es interne Differenzen bei den favorisierten Akteuren gibt. Zur Erfüllung dieses Ziels wird auch auf Dschihadisten gesetzt, ohne sich um die Zukunft der Bevölkerung, egal welchem Lager zugehörig, zu scheren.
Die PYD versucht, keine neuen Kriegsfronten aufzumachen. Die Dschihadisten bilden für sie die vordringliche Gefahr. In der Region um die nordostsyrische Stadt Haseke kämpft die YPG/YPJ mit der syrischen Armee gegen den IS. Zugleich kooperiert sie mit den USA, denen sie bei der Bekämpfung des IS Koordinaten für ihre Luftangriffe durchgibt.
Zwar hält auch die Kooperation mit den USA die Türkei davon ab, direkt gegen Rojava vorzugehen. Eine weitere Hoffnung, dass die USA Druck ausüben, die abgebrochenen Verhandlungen mit der kurdischen Bewegung in der Türkei, die sehr eng mit Rojava assoziiert ist, wieder aufzunehmen, hat sich jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil, das einvernehmliche Schweigen des Westens bei der jüngsten Repressionswelle in der Türkei und der Bombardierung von Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nord-Irak zeigen, dass zwischen der Kooperation mit Rojava und der Kurdenpolitik der Türkei fein säuberlich getrennt wird.
Daneben haben die USA der Türkei allem Anschein nach zugesagt, dass sie das Ansinnen Rojavas, den westlichen Kanton Efrîn mit den beiden anderen zu verbinden, nicht unterstützen werden. Der schmale Korridor um die Stadt Tel Abyad, der den östlichen Kanton Cizîrê mit dem mittleren Kanton Kobanê verbindet, haben die YPG/YPJ erst im vergangenen Sommer dem IS abgetrotzt. Der Korridor bildete einen Nachschubweg für Waffen und andere Güter aus der Türkei und galt als Einfallstor für ausländische Dschihadisten nach Syrien. Der westliche Kanton Efrîn ist jedoch weiterhin von den beiden anderen Kantonen durch einen Abschnitt getrennt, der vom IS und weiteren Gruppen gehalten wird, die von der Türkei unterstützt werden.
Die USA drängen Rojava derzeit in eine andere Richtung. Sie wollen offenbar die Stadt Rakka - Hochburg des IS in Syrien – von der YPG und anderen Gruppen durch eine Bodenoffensive einnehmen lassen. Hierfür soll ein neues militärisches Bündnis (Syrian Democratic Forces) aus zehntausenden Kämpfern gebildet und bewaffnet worden sein. Für die YPG/YPJ stellt die Beteiligung an einer solchen Operation auf nicht-kurdischem Gebiet allerdings ein erhebliches Risiko dar. Sie muss hohe Verluste in einer Schlacht befürchten, die nicht unmittelbar der Selbstverteidigung Rojavas dient, während die arabische Bevölkerung sie möglicherweise als amerikanisch-kurdische Invasionsmacht ansehen wird.
Neben diesen Kalamitäten, in die die Kooperation mit den USA Rojava bringt, herrscht begründeter Zweifel, dass die USA zu einem gegebenen Zeitpunkt für einen gesicherten politischen Status Rojavas eintreten werden. Die militärische Kooperation mit der YPG/YPJ ist den USA willkommen, eine politische Aufwertung Rojavas hat sie bisher jedoch nicht unterstützt. Russland insistiert dagegen seit langem auf einer Teilnahme der PYD als eigenständige Partei an internationalen Verhandlungen über die Zukunft Syriens. Vor kurzem soll Moskau Rojava eine ständige diplomatische Vertretung sowie ein Bündnis gegen den IS angeboten haben. Von Russland könnte auch Druck auf Damaskus ausgehen, die de facto Autonomie Rojavas in einen legalen Status innerhalb Syriens umzuwandeln. Die von den USA aufgebaute syrische Opposition als auch ihre Partnerin Türkei haben jegliche Aufwertung Rojavas seit jeher abgelehnt.
Internationale Solidarität von neuem
Rojava befindet sich also auch ein knappes Jahr nach dem Kampf um Kobanê in einer verzwickten Lage. Der Krieg hat nicht an Intensität verloren. Militär-taktische und geo-strategische Überlegungen bestimmen das Geschehen. Die PYD sieht sich gezwungen, zwischen den Interessen von Mächten zu lavieren, deren militärische und finanzielle Ressourcen weit überlegen sind. Auf diese Weise hofft sie - in Abwesenheit emanzipatorischer Kräfte auf der internationalen Bühne - eine Balance aufrecht zu erhalten, die ihr Spielräume erhält. Angesichts der Aufstellung der Anti-Assad Allianz und der katastrophischen Nahostpolitik der USA ist es nachvollziehbar, dass die PYD sich von einer Kooperation mit dieser Allianz nicht abhängig machen will. Mögliche Annäherungen an Russland stehen auch unter diesem Zeichen, ohne dass Rojava sich deswegen Russland oder der syrischen Regierung an den Hals wirft.
Unüberbrückbare Differenzen bei der Bestimmung von Prioritäten zwischen den USA und Rojava oder eine weitere Eskalation des Bürgerkriegs, nicht auszuschließen auch eine direkte Konfrontation zwischen den USA und Russland, könnten allerdings eine Entscheidung Rojavas für die eine oder andere Seite erzwingen. Es ist angesichts der jüngeren Konfrontationen zwischen westlichen Staaten und Russland und der fabrizierten anti-russischen Stimmung absehbar, dass eine Annäherung Rojavas an Russland die Sympathien im Westen stark schmälern würden, auch ohne dass sich am sozialen und politischen Charakter des Projekts etwas veränderte.
Vor diesem Hintergrund ist der Bericht von Amnesty besonders kritisch zu sehen. Eine kaum belastbare Recherche dient als Grundlage, Rojava der Kriegsverbrechen zu beschuldigen und Sanktionen von der «US-led coalition» einzufordern. Führen wir uns vor Augen, dass sich unter den adressierten Mitgliedern der Koalition Saudi-Arabien, Katar, die Türkei und weitere Staaten befinden, die selbst nicht vor der Unterstützung des IS oder anderer Dschihadisten und vor deren grausamen Verbrechen zurückschrecken. Amnesty fordert diese Staaten, in denen mehr oder weniger unterdrückerische Regime an der Macht sind, für die rechtsstaatliche und demokratische Standards Fremdwörter bilden, auf, Maßnahmen gegenüber Rojava zu ergreifen.
Zur adressierten Koalition gehören auch westliche Staaten. Insbesondere die USA, deren kriegstreibende Rolle offen zu Tage liegt und die völkerrechtswidrig in Syrien agieren, werden von Amnesty zu Wächtern des Völkerrechts erkoren.
Wenn dies nicht als schlechter Witz abgetan werden soll, kann es nur mit einer überheblichen Gewissheit von Amnesty erklärt werden, auf der «richtigen» Seite der Geschichte zu stehen. Der Verdacht mancher Kommentatoren, die den Bericht politisch werten, liegt ebenfalls nicht fern. Sie sehen ihn in direkter Verbindung mit der US-Politik, Rojava zu disziplinieren und den Druck zu erhöhen, ihren Prioritäten zu folgen. Rojava wird damit konfrontiert, wie schnell es international diskreditiert werden kann.
Umso wichtiger ist es für die internationalistische Linke, kritische Gegenöffentlichkeiten zu bilden und sich die Tagesordnung nicht von den dominanten politischen Mächten und Organisationen bestimmen zu lassen. In der gegebenen Lage und angesichts der Schwäche der globalen Linken, Einfluss auf Regierungspolitiken zu nehmen, sollte die Organisierung direkter Hilfen für die Bevölkerung Rojavas weiterhin ein vordringliches Anliegen sein.
Dieser Artikel ist stellvertretend für alle Genossen und Genossinnen, die internationalistische Solidarität leisten, denjenigen gewidmet, die unter den Augen des türkischen Staats in der Stadt Suruç, bei einem Treffen zur Organisierung von Aufbauhilfe für Kobanê, durch den Bombenanschlag eines IS-Sympathisanten ermordet worden sind.